Ercan Kara ist zwar schon 25, aber einer DER Shootingstars der abgelaufenen Saison. Aus einem No-Name-Stürmer wurde binnen 15 Monaten eine Zukunfts-Aktie. Und der Rapid-Angreifer hat noch lange nicht genug.
Es gab Zeiten im Leben von Ercan Kara, in denen er die Fußballwelt nicht mehr verstand. Dreimal hintereinander wurde er Torschützenkönig, zweimal davon in der Regionalliga Ost, als er für den FC Karabakh bzw. Mauerwerk, wie sich der Klub später umbenannte, stürmte. Die Leute klopften ihm die breiten Schultern wund und fragten: „Ercan, wann stürmst du endlich in der Bundesliga?“ Allein: Es kam kein Angebot. „Natürlich hat es sich gut angefühlt, so viele Tore zu schießen (Anm.: 83 in 87 Spielen, verteilt auf drei Saisonen)“, erzählt er im Gespräch mit SPORTaktiv. „Aber ich wollte ja weiterkommen. Du triffst, spielst gut – und jede Transferzeit geht spurlos an dir vorbei. Unter dem Strich war das keine einfache Situation für mich. Mir war ja klar, dass die Zeit auch für mich nicht stehen bleibt.“
Zwischenstation Horn
Doch Kara ist keiner, der in solchen Phasen zu Depressionen neigt. Im Gegenteil. Sein Kampfgeist wird dadurch noch mehr angestachelt, er schaltet dann noch einen Gang höher. „Das Leben schenkt dir nichts. Ich dachte mir: Vielleicht bin ich ja noch nicht so weit. Also habe ich noch mehr an mir gearbeitet, härter trainiert, Extraeinheiten geschoben.“ Immerhin hat sich im Sommer 2019 der SV Horn bei ihm gemeldet. Nicht gerade der Nabel der Fußballwelt, aber ein solider Zweitligaklub. Kara hat sich die Bedingungen genau angeschaut, viel mit Trainer Markus Karner gesprochen, seine Perspektiven ausgelotet, eine Nacht über die Entscheidung geschlafen. Und dann Klartext geredet: „Ich habe gesagt, dass ich nur einen Einjahresvertrag will, Horn für mich nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur Bundesliga ist. Das haben sie auch akzeptiert.“
Eine Ansage, die man sich erst einmal trauen muss. Die aber typisch ist für Ercan Kara, der ganz genau weiß, was er will. Er musste sich immer schon auf seine eigene Art durchsetzen, hat nie eine Akademie von innen gesehen, war auf seinen Instinkt angewiesen. „So eine Akademie-Ausbildung ist sicher etwas Tolles“, sagt er. „Vielleicht wäre ich heute geschmeidiger auf den Beinen, hätte mehr im koordinativen Bereich gelernt und wäre besser auf das Business Profifußball vorbereitet gewesen. Aber wenn du dich ständig durchsetzen musste, bekommst du andere Qualitäten, die andere vielleicht nicht haben.“
Qualitäten, die er in Horn von Tag eins an in die Waagschale warf. Als er in der zweiten Runde seinen zweiten Doppelpack schnürte und sich nach dem Match ein Kaltgetränk in der VIP-Lounge des SV Horn genehmigen wollte, sprach ihn dort Zoki Barisic an. Der Rapid-Sportdirektor teilte ihm mit, dass ihm Karas Performance gefallen habe. „Seit diesem Tag wusste ich, dass Rapid mich auf dem Radar hat“, sagt Kara. Und besuchte kurz darauf das Rapid-Heimspiel gegen Hartberg, ein dramatisches 3:3, bei dem der damalige Kapitän Stefan Schwab den Ausgleich in der 96. Minute erzielte. Nicht der schlechteste Appetizer, um Lust auf den grün-weißen Kultklub zu bekommen.
Lächerliche Ablöse
13 Treffer gelangen ihm in diesem Herbst für Horn, und das, obwohl die Niederösterreicher langsam, aber sicher Richtung Abstiegszone trudelten, Trainerwechsel inklusive. Als sich Rapid im Winter von Aliou Badji trennte, war der Weg frei für einen Wechsel nach Hütteldorf. Für die – aus heutiger Sicht lächerliche – Ablösesumme von 200.000 Euro. Zwar hatten auch mittlerweile andere Klubs aus dem In- und Ausland ihre Fühler nach Kara ausgestreckt. Doch war ihm klar: „Ich will beweisen, dass ich mich bei Rapid durchsetzen kann. Lange überlegen musste ich dafür nicht.“ Erst recht, da er genau wusste, nach Badjis Abgang der einzige Kaderspieler zu sein, der dem Typus des körperlich starken und wuchtigen Angreifers entsprach.
Es gehört zu den Kuriositäten unserer Zeit, dass Kara zwar mittlerweile ein anerkannter und allseits beliebter Stürmer von Rapid ist, aber aufgrund der Corona-Pandemie noch nicht ein einziges Mal vor der berühmt-berüchtigten Fankulisse im Allianz-Stadion gespielt hat. „Beim letzten Match mit Fans (Anm.: das Abschiedsspiel von Andy Marek gegen WSG Tirol im Februar 2020) saß ich auf der Bank, da gab es nur einen indirekten Vorgeschmack. Ich bin mir sicher, dass ich mit Fans noch mehr Gas geben kann, bin extrem heiß darauf, mit ihnen mein erstes Tor und unseren ersten Sieg zu bejubeln.“
Was man durchaus als Warnung an die Konkurrenz interpretieren kann. In der abgelaufenen Spielzeit erzielte er – bewerbsübergreifend – 20 Tore in 43 Spielen, für eine Rookie-Saison ein überragender Wert. Selbst der nicht gerade für seine überschwänglichen Lobeshymnen bekannte Trainer Didi Kühbauer adelte ihn nach seinem artistischen Tor gegen St. Pölten als „Mini-Zlatan“. Ein schönes Lob, das der Geehrte allerdings zwiespältig sieht: „Ich bin der Ercan Kara, ich will meine eigene Geschichte schreiben.“
Welches Nationalteam?
Kara agierte so erfrischend, dass er sich gleich in die Notizblöcke von zwei Nationalteams spielte. Dem türkischen, wo die Wurzeln seiner Familie liegen, und dem österreichischen, wo man mit treffsicheren Stürmern nicht über Gebühr gesegnet ist. Über die genauen Umstände der Entscheidungsfindung mag Kara nicht gerne reden, es ist für ihn ein heikles Thema. Das Rennen machte jedenfalls Franco Foda, der den gebürtigen Wiener bei der 0:4-Pleite gegen Dänemark Ende März erstmals aufs Feld schickte. „So schlecht Ergebnis und Spiel waren, für mich ging in dem Moment ein Traum in Erfüllung. Unbeschreiblich.“ Erst recht für einen, der 16 Monate zuvor noch gegen Amstetten und Lafnitz auf Torejagd ging.
Auf die Idee, sich im Lichte dieser Erfolge zu sonnen, käme Ercan Kara allerdings nie. Sein Motto: „Wer zufrieden ist, bleibt stehen.“ Doch er will vorwärts kommen, immer weiter. Nach der EURO wieder ins Nationalteam? „Klar, das ist mein Ziel.“ Torschützenkönig in der kommenden Saison? „Da greife ich an.“ Meister mit Rapid? „Wir könnten aufhören, wenn wir mit diesem Vorhaben nicht in die Saison gehen würden.“ Karas Vertrag läuft noch ein Jahr, die Gespräche laufen, alles ohne Eile und Hektik. Details überlässt er seinem Management, er will sich von seinen sportlichen Ambitionen nicht ablenken lassen. Dass Kara Begehrlichkeiten geweckt hat, ist ihm bewusst. Man würde ja die Fußballwelt nicht mehr verstehen, wenn dem nicht so wäre.