Wer hätte das gedacht? Das Thema Ernährung ist im Streaming-Zeitalter angekommen. Netflix hat mit „The Game Changers“ vegane Ernährung zur Popkultur geadelt und erreicht dabei vor allem eine junge Zielgruppe. Die hat jetzt viele Fragen. Wie zum Beispiel: Stimmt das überhaupt alles?
Er war selbst Skifans kein Begriff. Und dann schwingt der Schweizer Urs Kryenbühl nach der Weltcupabfahrt von Bormio sensationell als Zweiter ab, stellt sich vor die TV-Mikros und erklärt, seit er „The Game Changers“ gesehen habe, verzichte er komplett auf tierische Produkte und lebe vegan. „Im Skisport kommt es oft auf Nuancen an. Ich habe gedacht, ich probiere das einmal. Es war der richtige Schritt“, strahlte der junge Mann. Statt Käse und seinem Lieblingsessen Cordon bleu gebe es nun Gemüse aus dem Wok, Kartoffeln und Reis, statt Kuhmilch eben Mandelmilch. Das war neue Nahrung für den Hype um die US-Doku „The Game Changers“ (siehe Infobox). Revolutionäre Aufklärung im Streamingdienst Netflix oder veganer Propagandafilm? Die Geister scheiden sich. Viele Blogs und Experten widmen sich dem Thema, das dank hoher Zugriffe auf die Doku und die verkaufsbasierte Website viel Gesprächsstoff für junge Zielgruppen in Schulklassen, Sportvereinen und für alle Gesundheitsinteressierten liefert. Das Thema emotionalisiert, aber es hagelt Kritik. Die Doku, die spektakulär gemacht und geschnitten ist (Produzent ist niemand geringerer als Titanic-Regisseur James Cameron), sei zu plakativ und wissenschaftlich nicht genau genug in der Feststellung, dass vegane Ernährung jener aus tierischen Produkten überlegen sei. Grund genug für SPORTaktiv, unsere Experten an den Tisch zu holen. „Mich hat die Doku dazu motiviert, mich noch genauer mit dem veganen Lifestyle und einer pflanzenbasierten Ernährung zu beschäftigen“, erzählt Sport- und Ernährungsmediziner Robert Fritz von der Sportordination in Wien. „Ich habe mit vielen Menschen über die Doku gesprochen und sie hat sehr viele dazu gebracht, einen Versuch zu starten.
Bei manchen hat es funktioniert, andere haben es nicht umsetzen können.“ Schon davor hatte Fritz aber Erfahrungen. „Ich betreue seit Jahren Hobby- und Hochleistungssportler, die vegan leben, und ich kann sagen, dass diese Lebensweise absolut mit einer hohen sportlichen Leistungsfähigkeit kombiniert werden kann. Die Doku ist aber viel zu reißerisch aufgebaut und versucht, das Thema nur schwarz-weiß zu färben.“ So kommen etwa Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton, Arnold Schwarzenegger, Jackie Chan (auch Co-Produzent) und viele höchst erfolgreiche Sport ler wie Strongman-Weltrekordler Patrik Baboumian vor, bei denen die vegane Ernährung als Hauptkriterium für ihre Erfolge dargestellt wird. Dinge wie Talent, Training, Taktik, Glück oder Teamspirit werden kaum ins Kalkül gezogen. Beispielsweise werden einige Footballspieler der Tennessee Titans beim veganen, privaten Essen gezeigt und das neugewonnene Essverhalten der verhältnismäßig kleinen Gruppe dann als Erklärung geliefert, warum das (rund 50-köpfige) Titans-Team dann „erstmals seit ewig“ wieder die Play-offs geschafft hat. „Nicht: Vegan ist richtig und Mischkost ist falsch“, sagt Fritz. „Und umgekehrt stimmt das auch keineswegs. Wissenschaftlich lässt sich aber zusammenfassen, dass eine ausgewogene Mischkost und eine überlegte pflanzenbasierte Ernährung gleich auf sind und keines wirklich Vorteile für die Leistungsfähigkeit bedeutet.“ Das bringt auch Jane Bergthaler, Diätologin mit Spezialgebiet Sporternährung, prägnant auf den Punkt: „Eine wie im Film aufgezeigte Leistungssteigerung über Ernährung ist grundsätzlich denkbar.
Es beschäftigen sich Menschen mit Ernährung, die das vorher nicht getan haben. Das ist sehr positiv.
Aber dazu müsste sich jemand vorher ausschließlich von Wurstsemmeln, Limos und Fast Food ernähren und dann auf gesunde, nährstoffreiche Kost umsteigen. So wie im Film ist das viel zu einseitig.“ Was wiederum Fritz bestätigt: „Die unglaublichen Erfolge der Sportler in der Doku beruhen entweder auf einer Steigerung der Aufnahme von Kohlehydratenn oder darauf, dass sie einem Placeboeffekt unterliegen. Beim Wettkampf mit dem Gedanken anzutreten, dass ich allen überlegen bin, weil ich mich anders ernähre, kann schon die nötigen letzten Sekunden für den Erfolg bedeuten.“ Den Sinn, Menschen wachzurütteln, erfülle die Doku, meint Fritz: „Viele Probleme sind im Sport und im Alltag auf die falsche Ernährung zurückzuführen. ,Train the Gut‘ (Anm.: „Trainiere den Darm“) ist ein Begriff, der noch vor wenigen Jahren im Sport unbekannt war. Ich bin immer wieder verwundert, auf welch hohem Niveau Training und Material bei einigen Sportlern sind, sie sich jedoch noch kaum mit ihrer Ernährung auseinandergesetzt haben. Da gibt es viel Potenzial im Sport.“ Die Machart von „Game Changers“ ist allerdings ein anderes Kapitel. „Wissenschaftlich betrachtet ist sie eigentlich schrecklich“, urteilt Fritz rigoros.
Für Bergthaler ist „die Quellenangabe nicht auf hohem Niveau, generell ein Problem in vielen Medien“. Studien, die keine sind, werden als Quellen angegeben, Nebensätze von Experten zu Weisheiten aufgebauscht. Der Promifaktor und schnelle Schnitte mit Dutzenden Grafiken, Prozentzahlen, Steigerungsraten und Begriffe wie TMAO, heterozyklische Amine und N-Glycolylneuraminsäure verwirren und täuschen Wissenschaftlichkeit vor. Und Angstmache: Ein um 400 bis 500 Prozent erhöhtes Risiko für Krebs, beispielsweise Prostatakrebs, hätten Fleischesser, sagt die Doku. Völliger Blödsinn, sagen unabhängige Experten. Im Film will ein Experiment beweisen, dass schon ein einziger Hamburger den Blutfluss um 27 Prozent mindern könne und 70 Prozent mehr Entzündungsanfälligkeit auftritt. Ein Burrito-Experiment mit drei Sportlern an zwei Tagen (einmal Fleisch, einmal vegan) zeigte zwei Stunden später eine völlig unterschiedliche Färbung des Blutplasmas. Das Plasma nach einem veganen Burrito war wunderbar klar. Fast schon klamaukhaft, aber wenigstens mit etwas Augenzwinkern, erscheint das Erektions-Experiment: Bei drei jungen Sportlern wurden Häufigkeit und Intensität von nächtlichen Erektionen gemessen. In der Nacht mit veganem Burrito als Abendessen erhöhte sich die Dauer der Erektionen bei den drei Athleten um 300 bis 500 Prozent. Aufgeregtes Kichern der Männer in der Doku, seitdem Stammtischgespräch bei virilen Männerrunden. Studien dazu? Fehlanzeige.
An sich eine gute Sache. Aber Game Changers ist radikal. Da sollte man die Kritikpunkte gut aufbereiten.
Und dennoch!
Und dennoch überwiegt bei unseren Experten, übrigens beide exzellente Sportler, der positive Aspekt der Doku. „Es beschäftigen sich Menschen mit Ernährung, die das vorher nicht getan haben. Es ist nicht schwierig, aber man sollte einige Basics wissen und verstehen“, meint Fritz. Dazu brauche es aber mehr als diese Doku. „Die Menschen sollten sich nicht so leicht von Blogs oder Webseiten im Internet beeinflussen lassen. Seriöse Literatur ist nicht immer leicht zu finden. Und bitte nicht von Experten beraten lassen, die im ersten Gespräch bereits ein Produkt verkaufen wollen, ohne das ihr angeblich nicht leben könnt.“ Eine Info zur Doku, die wohl zweckdienlich ist: Produzent Cameron und seine Frau Suzy, beides Veganer, besitzen millionenschwere Unternehmen, die sich auf pflanzliche Fleischalternativen und vegane Proteinprodukte spezialisieren. Bergthaler: „Ich denke, das müssen die Seher wissen, sonst werden sie geblendet. Gute, durchdachte pflanzenbasierte Ernährung an sich ist eine gute Sache. Game Changers ist radikal, da sollte man gut analysieren und die Kritikpunkte aufbereiten.“
Fritz hat in den vergangenen 15 Jahren viele Trends kommen und gehen gesehen: Paleo, High Fat, Low Carb, No Carb, Ketogen, jetzt vegan. „Alle Trends haben für mich etwas Positives gemeinsam: Sie bringen die Menschen dazu, sich Gedanken über die Ernährung zu machen. Keiner dieser Trends hat sich aber langfristig durchgesetzt.“ Das findet auch Bergthaler. „Ich habe generell ein Problem damit, wenn Ernährung zum Hype, zur Religion aufgebauscht wird. Die Doku ist gut, wenn Menschen ihre Ess- und Trinkentscheidungen überdenken, mit Freude zum Kochlöffel greifen und fragen: Wie mache ich einen Linseneintopf? Was ist ein Kichererbsencurry?“ Sie bezeichnet sich selbst als experimentierfreudig, probiert alles aus und liebt heimische Superfoods wie Leinsamen, Haferflocken und Heidelbeeren. „Ich esse extrem wenig Fleisch, vielleicht drei Mal im Jahr. Da kann ich dann aber mit Gusto ein Beef Tatare oder ein Medium-Rare-Steak essen.“ Auch Fritz ist kein Veganer. „Ich meide Zucker, esse viel Obst und Gemüse, gerne auch Fleisch. Ich habe aber zumindest zwei, drei Tage pro Woche, an denen ich mich vegetarisch ernähre – manchmal auch mehr. Eine pflanzenbasierte Ernährung halte ich für sinnvoll, weniger Fleisch essen sowieso. Eine vegane Lebensweise wäre für mich nicht geeignet. Ich verurteile es aber keineswegs und unterstütze einige Sportler dabei, das erfolgreich umzusetzen.“
The Game Changers
US-Dokumentarfilm (2018) über die Vorteile veganer Ernährung anhand vieler Beispiele aus dem Profisport; Produzent: James Cameron (u. a. Terminator, Titanic, Aliens, Avatar). Seit September 2019 weltweit via Streaming auf Netflix abrufbar, in 190 Ländern zu sehen, in Österreich auf Anhieb in den Top-5 der Netflix-Dokus.
Story: Die Doku wird vom ehemaligen englischen Kampfsportler und Elitesoldaten-Trainer James Wilks (41) erzählt, der der Frage nachgeht, ob eine ausreichende Proteinzufuhr, Leistungssteigerung und optimale Gesundheit nicht auch mit ausschließlich veganer Ernährung gewährleistet werden kann. Im Film trifft er auf Promis, Top-Sportler und Experten, die ihn in seiner Meinung bestärken. Mitwirkende: u. a. Arnold Schwarzenegger, Lewis Hamilton, Novak Djokovic, Patrick Baboumian.
Kernaussage der Doku: Fleischlose, vegane Ernährung macht Menschen gesünder, sportlich leistungsfähiger und verringert das Krebsrisiko.
Kritik: Die Doku argumentiert nicht wissenschaftlich genug, mit Vereinfachungen, Verkürzungen, Effekthascherei, Halbwahrheiten, verdrehten Fakten und skurrilen Schlussfolgerungen.
Mehr Info: www.gamechangersmovie.com