Ab die wilde Fahrt: Wer sich in einem Viererbob den Eiskanal hinunterstürzt, kann sich von jedem klaren Gedanken verabschieden. Der Kopf wird zum PingPongBall, die Fliehkräfte zerren in alle Richtungen. Und das, obwohl Österreichs Top-Pilot Benjamin Maier sein HighSpeed-Gefährt absolut im Griff hat.

Markus Geisler


Die Warnzeichen waren nicht zu überhören. „Du bist auf Position drei“, sagt mir Pilot Benjamin Maier, zwei Stunden bevor er mich auf der Eisbahn am Königssee in seinem Viererbob chauffiert. Warum drei? „Eins ist der Lenker, also ich, vier der Bremser. Und wenn du mit deinem Helm auf Position zwei dauernd gegen meinen Kopf knallst, kann ich mich nicht so gut konzentrieren“, erklärt der 26-Jährige mit einem Schmunzeln. Der Mann ist zweifacher Olympiateilnehmer, ich habe also keinen Grund, seiner Expertise zu misstrauen. Sollte es mich wirklich derart durchschütteln?

Doch bevor es ernst wird, erklärt mir der Tiroler erst einmal seinen roten Flitzer. 110.000 Euro kostet das gute Stück, allein für einen Satz Kufen legt man 11.000 Euro hin. „Vorne sind die Kufen beweglich, hinten starr. Lenkbewegungen über den Seilzug mache ich nur ganz sacht mit den Fingerkuppen“, erklärt Maier. Wenn man es kann und über ausreichend Erfahrung verfügt, meint er, ist im Eiskanal alles eine Sache der Antizipation. Und auch ich antizipiere, dass es kein ungefährliches Abenteuer ist, auf das ich mich da eingelassen habe. Wie schnell wir heute wohl sein werden, wenn ich als blutiger Anfänger mit an Bord bin? „Na ja, wir werden beim Start etwas Schwung verlieren. Aber um die 125 Stundenkilometer werden wir wohl zusammenbekommen.“

Der Start ist ohnehin die Schlüsseldisziplin beim Bobfahren auf diesem Niveau. Auf den ersten Metern wird über Sieg und Niederlage entschieden und schlimmstenfalls darüber, ob die Fahrt überhaupt losgeht. „Das Einspringen in den Bob ist ein streng durchchoreografierter Akt, den wir jeden Sommer mindestens 200-mal üben“, erklärt Maier. Vor allem geht es darum, wer sich nach dem Anschieben wann hinsetzen darf, ohne dass sich die Körper in der engen Fahrzelle verknoten. Was durchaus auch bei den Profis vorkommen kann. „Der Start ist purer Überlebenskampf, jeder schaut auf sich und muss sich darauf verlassen, dass der andere seinen Job macht. Die Regel lautet: Egal, wie du drin sitzt, du darfst dich nicht bewegen. Auch nicht, wenn du einen Krampf hast oder dir jemand mit den Spikes am Schuh versehentlich in die Wade tritt.“ Letzteres sei aber eigentlich kein Thema, denn: „Während der Fahrt hast du so viel Adrenalin im Körper, dass du den Schmerz nicht merkst. Der kommt erst hinterher.“

Um mir meine aufkeimende Panik zu nehmen, beschließt Maier, die 1587 Meter lange Strecke am Königssee mit einem sitzenden Start in Angriff zu nehmen, bei dem nur der Anschieber hinten den Bob bewegt. Außerdem, versichert er, gehöre die Eisqualität hier zu den drei besten im Weltcup. „Kein Vergleich zu Lake Placid, wo es richtig ruckelt“, ergänzt Markus Sammer. Der ehemalige Gewichtheber ist als Anschieber seit vielen Jahren dabei und gehört zum Kernteam von Benjamin Maier. Er sitzt im Bob direkt vor mir und gibt mir einen letzten gut gemeinten Tipp mit auf den Weg. „Wenn wir stürzen sollten, machst du dich so klein wie möglich und rollst dich in den Bob ein. Solange du hier drin bist, kann dir so gut wie nichts passieren.“

Wie gesagt, Warnschüsse wurden genug abgefeuert, als sich der Bob langsam Richtung Startschranke schiebt und ich mich, eingequetscht wie eine Sardine in der Büchse, an einer Leitschiene an der Innenwand festklammere. Als gewissenhafter Journalist habe ich mir die Strecke natürlich vorher angeschaut und mir die Schlüsselstellen eingeprägt. Schließlich würde ich gerne wissen, wann wir durch die Schlangengrube, das Turbodrom oder die Echowand heizen. Außerdem hieß es, ich könne während der Fahrt durchaus mal rausschauen und die Strecke genießen. Der Witz des Tages!

Kaum sind wir auf der Bahn, beginnen die Fliehkräfte, die auf dieser Strecke bis zu 5 G (also das Fünffache des eigenen Körpergewichts) betragen können, auf mich zu wirken wie auf ein Fähnchen im Wind. Eine Fahrt wie ein Song von Rammstein, so muss sich der Schleudergang einer Waschmaschine anfühlen. Mein Kopf wird in alle Richtungen geworfen, ohne dass meine Nackenmuskeln daran etwas ändern können. Ich meine, das Quietschen meiner Bandscheiben zu hören, oder ist es der immer stärker werdende Fahrtwind? Klare Gedanken sind nicht möglich, permanent ändert sich die Richtung, der Körper schaltet in Überlebensmodus. Es ist eine Mischung aus den verschiedenen Teilen dieser „Wir-gegen-die-Stars“-Serie: Kopftreffer wie von Marcos Nader, Fliehkräfte wie bei David Coulthard, Schräglagen wie bei Andreas Graf, dem Bahnradfahrer. Erst als wir unten im Ziel ankommen und Sascha Stepan hinter mir mit voller Wucht die Bremse in das Eis rammt, merke ich, dass ich seit geraumer Zeit nicht mehr geatmet habe.

Immerhin, wir sind heil ins Ziel gekommen. Beim Aussteigen wackeln die Knie bedenklich, der Blick auf die Anzeigetafel zeigt eine Zeit von 52,39 Sekunden. Moment, denke ich, stand oben nicht irgendwo, dass der Bahnrekord bei 48,26 Sekunden liegt? Und wir waren nur vier Sekunden langsamer? Schon klar, das sind Welten in dieser Sportart, aber immerhin haben wir auf einen schnellen Start verzichtet. „Na ja“, sagt Benjamin Maier, „Ich bin kein großer Freund von geruhsamen Gästefahrten. Wenn wir schon im Eiskanal sind, dann fahren wir auch richtig.“ 

Während ich meine grauen Zellen ordne und das Adrenalin langsam aufhört, mir aus den Ohren zu fließen, wird der Bob in einen Transporter verladen, der uns wieder in den Startbereich fährt. Nachbesprechung. „Sei ehrlich“, sagt Benjamin Maier zu mir. „Hat es dir wirklich Spaß gemacht oder verbuchst du es eher unter spannende Erfahrung?“ Ich bin diplomatisch und gebe zu, dass ich an einer Wiederholung so schnell keinen Bedarf sehe. Der Respekt vor den Sportlerinnen und Sportlern, die sich dieser Achterbahnfahrt permanent aussetzen, ist jedenfalls gewaltig gestiegen.

Benjamin Maier
Der 26-jährige Tiroler aus Hall war sieben Jahre lang Skeletonpilot, ehe er 2014 in das Lager der Bobfahrer wechselte. In jenem Jahr qualifizierte er sich gleich für die Olympischen Spiele in Sotschi, die er im Zweierbob zusammen mit Markus Sammer auf Rang 22 beendete (2018 in Pyeong­chang wurde er 8. im Zweier- und 7. im Viererbob). 2016 wurde er mit der Mannschaft (Mischung aus Bob und Skeleton) EM-Zweiter und WM-Dritter. Ziel des Heeressportlers sind die Olympischen Spiele 2022 in Peking. „Wir haben erstmals ein komplettes Profiteam, das sich zu 100 Prozent auf den Sport konzentrieren kann.“
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