Beim Bahnradfahren kommt es vor allem auf eines an: Überwindung. Doch mit Olympia-Starter Andreas Graf als Pacemaker ging auch die bisher steilste Challenge im Ferry-Dusika-Stadion (fast) ohne Zwischenfall über die Bühne. 

Markus Geisler

Beim Bahnradfahren spielen vor allem drei Komponenten eine Rolle: Du hast keine Bremse, keinen Leerlauf und wenn du nicht mit mindestens 30 km/h in die 45-Grad-Steilkurve fährst, kannst du ein paar Tage lang Holzsplitter aus deinem Oberschenkel klauben.“ Es sind echte Mutmacher, mit denen mich Andreas Graf auf meine ersten Fahrversuche im altehrwürdigen Dusika-Stadion einstimmt. Und was hat das Ganze dann mit dem Fahrrad gemeinsam, mit dem ich gelegentlich durch die Stadt gurke? „Nichts.“ Immerhin, und das rechne ich ihm gleich mal hoch an, verzichtet er darauf, das ultraleichte Carbon-Rad (Mindestgewicht 6,8 Kilo) mit Klickpedalen auszustatten, aus denen man als Anfänger meist erst hinauskommt, wenn es zu spät ist. „Wenn du noch nie auf einer Bahn gefahren bist, sollten wir das lieber lassen.“

Immerhin kann ich mir sicher sein, dass der 34-Jährige genau weiß, wovon er spricht. Seit seiner Jugend fährt er nicht nur Rennen auf der Straße, sondern vor allem auf Parkett (im konkreten Fall sibirische Eiche) und hat es in den Velodroms dieser Welt zu EM-Titeln und Weltcup-Gesamtsiegen gebracht. Ein echter Auskenner, der sich mit seinem Partner Andreas Müller im Madison, einem Zweier-Mannschaftsfahren, für Olympia in Tokio qualifiziert hat. Als erste Österreicher seit 2004, also einer gefühlten Ewigkeit. „An einem guten Tag traue ich uns zu, in die Top 5 fünf zu fahren“, sagt er. „Aber jetzt schauen wir erst einmal, dass wir dich ein paar Mal durch das Oval schicken.“

Moment, nicht so schnell
Wie soll ich losfahren, wenn ich nicht weiß, wie ich wieder bremsen kann? „Eine Frage des Gefühls“, sagt der Mann mit dem Spitznamen „Prinz“. „Wie bei einer Rücktrittbremse kannst du leicht gegen die Fahrt­richtung treten, dann stellt sich eine Bremswirkung ein. Oder einfach langsamer treten.“ Der größte Fehler ist aber ein anderer. Denn da es keinen Leerlauf gibt, dürfen die Beine nie abrupt aufhören zu arbeiten, sonst macht man einen Abflug über den Lenker. Bei den anvisierten Geschwindigkeiten eine verzichtbare Einlage.

... dann kannst du ein paar Tage lang Holzsplitter aus deinem Oberschenkel klauben.

Andreas Graf

Also legen wir los
Oder besser gesagt: Andreas hält mein Rad fest, lässt mich in die Pedale schlupfen und gibt mir einen Schubser, dank dem ich mich in Bewegung setze. Einmal in Schwung gekommen, fühlt es sich mit der starren Übersetzung an wie auf einem Citybike in ­hohem Gang. Die mit acht Bar aufgepumpten, 28 Millimeter breiten Reifen gleiten gleichmäßig über das Holz, die ersten Verzögerungsversuche sind etwas ruckelig, werden aber von Mal zu Mal geschmeidiger. „Zu Beginn fahren wir nur im ebenen Sturzbereich, damit du ein Gefühl für das Rad bekommst“, erklärt Andreas. Beim Begriff „Sturzbereich“ kommt mir erstmals die Frage in den Sinn, warum wir – außer einem Helm natürlich – eigentlich keine weiteren Polsterungen tragen. „Ist nicht üblich, wird schon nichts passieren“, wischt der Prinz meine Bedenken vom Tisch.

Während wir also Runde um Runde drehen, geht mein Blick immer wieder nach rechts. Also dorthin, wo sich die Steilkurven wie eine Tsunamiwelle alle paar Sekunden vor uns auftürmen. Ein weiterer Beweis, wie wenig TV-Kameras in der Lage sind, die Realität einzufangen. 45 Grad sind so steil, dass man ohne fremde Hilfe kaum in der Lage wäre, die Bahn zu Fuß zu erklimmen (was unser Fotograf übrigens bestätigen kann). Und da sollen wir auf zwei dünnen Reifen durchflitzen? Andreas geht es step by step an. „Zuerst fahren wir auf der Geraden in die Bahn und vor den Kurven wieder hinaus. Du musst nur aufpassen, da du beim Bergabfahren natürlich an Speed zulegst.“ Dann lautet die Regel: Nur keine hektischen Lenkbewegungen machen, einfach dem Verlauf der Bahn folgen. Und wohl auch ein bisschen auf den lieben Gott vertrauen.
 

Spätestens hier fängt sie an, die Überwindung. Auf dem dunklen Holz der insgesamt 250 Meter langen Runde sind drei Streifen angebracht, ganz unten ein schwarzer, etwas höher ein roter und in der Mitte ein blauer. „Unser Ziel ist es, ein paar Runden auf dem blauen Strich zu fahren.“ Eine zu diesem Zeitpunkt noch ziemlich unrealistische Vorstellung, aber der Prinz will sich auf keine Kurvendiskussion einlassen. Hat aber einen königlichen Tipp in petto. Er fährt in der nötigen Geschwindigkeit vor, ich soll mich an sein Hinterrad heften – schließlich kann ich dann sicher sein: Wenn er nicht stürzt, stürze ich auch nicht. Klingt logisch, also bitte.

Und dann geht er los, der Ritt ins Ungewisse, der sich schnell als berauschendes Erlebnis herausstellt. Andreas beschleunigt, ich hinterher, Meter für Meter erklimmen wir die Steilkurve. Und ich werde mit jeder erfolgreichen Durchfahrt sicherer, habe irgendwann das Gefühl, wie auf Schienen durch das Velodrom zu gleiten. Und auch den Eindruck, dass mir die Bahn entgegenkommt, aber das könnte daran liegen, dass ich ob meiner tränenden Augen tatsächlich eine Kontaktlinse verloren habe. So muss er sich anfühlen, der Rausch der Geschwindigkeit, wenn man mit 60, 70 km/h im Kreis fährt. „Sehr gut“, lobt mich Andreas, „kann sein, dass du fast 35 km/h drauf hast.“ Alles eine Frage der persönlichen Wahrnehmung.

Das ist Bahnradfahren 
15 Disziplinen gibt es beim Bahnradsport, wobei man im Wesentlichen zwischen Sprint- und Ausdauerrennen sowie zwischen Einzel- und Mannschaftsbewerben unterscheiden kann. In Tokio 2021 sind Sprint, Teamsprint, Keirin (mit Schrittmacher), Omnium (Mehrkampf), Madison (Zweier-Teams) und Mannschaftsverfolgung olympisch. In der Regel ist eine Bahn entweder 250 oder 333 Meter lang, um in Tausenderschritten rechnen zu können. Wer die Sportart selbst einmal ausprobieren möchte, findet unter www.lrv-wien.at alle Infos.

Kleines Problem am Rande
Durch das ständige Gasgeben werden natürlich auch die Beine immer schwerer, was irgendwann zu dem Gefühl führt, nicht mehr die nötige Geschwindigkeit zusammenzubekommen. Und bevor es dann zur unsanften Begegnung mit dem Holz kommt, signalisiere ich sicherheitshalber, meinen rauschhaften Zustand wieder verlassen zu wollen. Tipp unter Anfängern: In diesem Moment darf man unter keinen Umständen der Versuchung nachgeben, den müden Beinen eine Verschnaufpause zu gönnen, Stichwort: Lenkerabgang. Gut, dass mich Andreas eindringlich davor gewarnt hat.

Zum Runterkommen radeln wir noch ein paar Runden gemütlich im Sturzbereich, dabei versucht Andreas mir die verschiedenen Disziplinen des Bahnradfahrens näherzubringen. Nur so viel: Es ist kompliziert. Vielleicht hab ich es aber auch nur deswegen nicht verstanden, weil mein Körper noch voll damit beschäftigt war, das aufgestaute Adrenalin zu verarbeiten.

Andreas Graf
Andreas Graf

Der im August 1985 geborene Niederösterreicher begann im Alter von zehn Jahren mit dem Radsport und wurde bereits als Juniorenfahrer mit dem Bahnrad-Virus infiziert. Bis heute ist er auf beiden Belagen unterwegs, die größeren Erfolge feierte er aber in den Velodroms: Europameister 2014, Gesamtweltcup-Sieger 2018 (jeweils im Madison mit Andreas Müller), Vizeweltmeister 2016 im Punktefahren. Dazu kommen 14 Staatsmeistertitel. Bei der im Februar dieses Jahres in Berlin ausgetragenen Weltmeisterschaft qualifizierte sich das Duo Graf/Müller endgültig für die auf 2021 verschobenen Sommerspiele in Japan.
WEB: www.prinz-graf.at