China ist das (selbsternannte) Mutterland des Sports. Der gemeinschaftliche Morgensport ist daher keineswegs eine lästige Pflichtübung: In den Parks wuselt, brummt und quietscht es, dass es eine Pracht ist. Und wie es SPORTaktiv-Mitarbeiter Wolfgang Kuhn selbst erlebte: Alle können mitmachen!
Es gibt Städte, die um 6.30 Uhr am Morgen (völlig zu Recht) noch einen verschlafenen Eindruck machen. Peking gehört nicht dazu: Bereits in den frühen Morgenstunden hat sich vor dem Beihai- Park eine beachtliche Menschenmenge gebildet, die nur darauf wartet, dass die Tore – auf die Sekunde genau – geöffnet werden. Und schon geht es los: Eine Taiji- Gruppe formiert sich, Läufer und Radler kurven herum, einige resolute Damen tänzeln zu den Klängen von „Edelweiß“ über die Straße und zwei Speerkämpfer unterbrechen ihre Übungen für einen Moment, weil ein Mann rückwärts an ihnen vorbei läuft. Kurz bleibt der Geisterläufer stehen. Warum er das macht? „Morgensport! Ich entspanne mich und bewege gleichzeitig vergessene Muskeln. Das trainiert nämlich auch das Gehirn, weißt du?“, lächelt er und hoppelt seltsam entrückt von dannen.
MAO UND DAS GRUPPENTURNEN
Willkommen in China, der Wiege aller sportlichen Betätigungen. Zumindest, wenn es nach dem Sporthistoriker Gu Shiquan geht, der die „frühesten Belege für chinesischen Sport“ auf 500.000 Jahre zurück datiert. Das ist allein schon deshalb eine Leistung, weil der Homo sapiens erst 400.000 Jahre auf dem Buckel hat. Allerdings haben die Jahrhunderte dazwischen, in denen die Lehren des Konfuzius das Leben der Menschen definierten, ihre Spuren hinterlassen: Kultiviert wurden stets Seele und Geist, selten jedoch der Körper.
Das änderte sich jedoch grundlegend mit Mao Zedong: Der Große Vorsitzende brachte seinen Untertanen nicht nur die Kulturrevolution (und geschätzte 70 Millionen Tote), sondern auch eine Renaissance des Sports: Er rief 1951 das morgendliche Gruppenturnen ins Leben.
Und während Zedong in seinem Mao-soleum der Ewigkeit harrt, ist der revolutionäre Schwung in den Parks bis heute nicht erlahmt. Im Gegenteil. Der Sport hat die Ideologie überstanden – jeden Morgen und meist auch am Abend herrscht in den chinesischen Parks Hochbetrieb.
Fitnessstudios sind hier zwar speziell bei der Jugend der letzte Schrei, doch Sport wird in China nach wie vor grundsätzlich draußen betrieben, bevorzugterweise in den frühen Morgenstunden. Erstens ist die Luft um diese Zeit noch nicht zum Schneiden dick und zweitens lässt sich die Hitze einigermaßen ertragen.
HAUPTSACHE LAUT
Was sofort auffällt: Individualsportler wie der Friseur Li Cheng, der jeden Morgen am selben Platz seine 50 Liegestütze pumpt („An diesem Ort fühle ich mich besonders energiegeladen, da schaffe ich gleich um 20 mehr“), sind die absolute Ausnahme. Man möchte zwar annehmen, dass Menschen, die sich in Millionenstädten mit vollgestopften U-Bahnen und beengten Wohnungsverhältnissen herumschlagen müssen, zumindest beim Sport ihre Ruhe haben wollen. Tun sie aber nicht. Es zieht sie dorthin, wo buchstäblich die Hölle los ist; wo es laut ist und wo sich Körper in der Hitze des Gefechts aneinander reiben. „Re nao“ nennen das die Chinesen –„Hitze und Lärm“. Und daraus saugen sie ihre Lebenskräfte.
Deshalb sind Sport und Bewegung üblicherweise Gemeinschaftserlebnisse – und die Qualität einer Einheit wird nicht am Kalorienverbrauch („Was ist das?“, fragt eine verständnislose Vortänzerin) gemessen, sondern am hervorgerufenen Lärmpegel.
VOLKSSPORT SCHATTENBOXEN
Vor dem Tempel der Seidenraupen-Göttin versammelt sich beispielsweisejeden Morgen eine Taijiquan-Gruppe. Dieses „Schattenboxen“ ist eine im Kaiserreich entwickelte Kampfkunst, die heutzutage Volkssport ist und von Millionen Menschen praktiziert wird. Im Zentrum der Übungen stehen klar umschriebene Abläufe fließender Bewegungen (sogenannte Formen, auch Tàolù). An und für sich würde die Gruppe mit ihren anmutigen, geschmeidigen Bewegungen ein schönes Bild abgeben – wäre da nicht dieses Küchenradio, das offensichtlich der Familie der Feuerwehrsirenen angehört und die Technoversion von „My Heart will go on“ in einer Dauerschleife aus den Boxen krächzt.
„Normalerweise kommen zu unseren Übungen bis zu 100 Leute. Und China ist ein großes Land. Da muss man sich Gehör verschaffen“, erklärt die Lehrerin Cao Ying achselzuckend. Pech nur, dass sich die anrückende Aerobic-Gruppe dasselbe denkt. Die hat nämlich einen Ghettoblaster der Marke Atomreaktor mitgebracht und vertreibt die wackeren Schattenboxer mit einer Salve übelsten Eurotrash: „Jo-Jo Action – Satisfaction!“
Klingt alles ein wenig abenteuerlich, macht jedoch in erster Linie enorm viel Spaß. Egal, ob Taijiquan, Nordic Walking, Kung Fu oder einfach nur Joggen – es findet sich immer ein Lehrer, der die Bewegungen vormacht oder die Gruppe anführt, und jeder, der gerade zufällig oder gezielt vorbeikommt, kann sich dazustellen und mitmachen.
Falsche Schüchternheit oder gar Angst sind hier absolut fehl am Platz – Chinesen sind im persönlichen Umgang (zumindest außerhalb von Shanghai) herrlich unkompliziert und Ausländern gegenüber freundlich aufgeschlossen. Selbst die Jungs von der Volksbefreiungsarmee haben konträr zu ihrem grimmigen Image nichts dagegen, wenn man sich ihren Laufrunden anschließt. Und wer die patriotischen Schlachtgesänge mitbrüllt, wird in Folge gleich als „Zhongguotong“ (sprich Chinakenner) geadelt.
Englisch spricht hier übrigens niemand. Sprachkenntnisse sind zwar vorteilhaft, aber kein Muss – das Schöne am Sport ist ja, dass die Körpersprache Menschen universal verbindet.
MIT VOGEL UND PINSEL
Freilich gelten in diesem Land auch Betätigungen als Sport, die in Europa wohl nur bedingt als körperliche Ertüchtigung durchgehen würden. Xu Wei beispielsweise ist pensionierter Rechtsanwalt und hat einen Vogel. Täglich am frühen Morgen bringt er seine Zwergwachtel in den Park und erklärt feierlich: „Bei der Vogelhaltung betreibt man auch Sport. Der Vogel führt ein geregeltes Leben und will jeden Tag pünktlich singen und sich bewegen. Der Mensch muss seinen Körper parallel zu den Bewegungen des Vogels gelenkig machen.“
Auch der Drachensteiger am Parkrand sieht einen tieferen Sinn in seinem Tun: „Ich mach das, um Augen und Nackenmuskeln zu trainieren. Was meinst du denn, wie viel Kraft das kostet, ständig in die Höhe zu blicken?“ Und Sport betreiben auch die Männer mit den langen Pinseln. Kalligrafen sind es, die mit Wasser chinesische Schriftzeichen auf die Straßen malen. Ihre Kunst erinnert tatsächlich ein wenig an Golf – jeder Muskel ihres Körpers scheint angespannt, während sie mit vollster Konzentration ihre flüchtigen Kunstwerke auf den Asphalt zaubern.
DIE OMA MIT DEM SPEER
Dass sich die sportlichen Männer und Frauen überwiegend aus älteren Menschen zusammensetzen, sollte weder stören noch verwundern. Erstens verfügen sie als einzige Gruppe in China über ausreichend Zeit und zweitens haben sie es meist faustdick hinter den Ohren.
In einer hinteren Ecke des Beihai-Parks lauert beispielsweise die 73-jährige Wang Ran auf Mitstreiter (beziehungsweise Opfer). Die Oma will mit dem Guan Dao, einer chinesischen Schwertlanze üben. „Denn das hier“, schnaubt sie mit einem verächtlichen Blick auf eine nebenan trainierende Taiji-Gruppe, „das ist doch nur was für alte Leute.“
Sprach’s und grinst mit ihren verbliebenen drei Zahnstummeln ...
WAS SPORTLICHE CHINA-REISENDE WISSEN SOLLTEN
Gemeinschaftlicher Freizeitsport ist ein gesamtchinesisches Phänomen! Ganz egal, wohin man auch kommt, es findet sich immer ein Park und immer eine Gruppe, mit der man Taiji, Aerobic, Joggen, Nordic Walking und vieles mehr trainieren kann. Der frühe Vogel fängt den Wurm – einfach zeitig raus, sich zu einer Gruppe dazustellen und mitmachen (alles kostenlos natürlich). Besonders gute Spots in Peking sind der Beihai-Park, der Erdaltar-Park oder der Tempel des Himmels.
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