Bekannt aus der Raumfahrt, bei teuren Bikes längst Standard und jetzt auch auf dem Vormarsch im Laufschuhmarkt. Was bringt es für wen und schadet es vielleicht mehr, als es bringt? Eine Spurensuche.

Klaus Molidor
Klaus Molidor

Raumfahrttechnolgie an den Füßen. Echte Raketen sollen Schuhe mit Carbonfasern in der Zwischensohle sein. Eliud Kipchoge hat das ja eindrucksvoll bewiesen, als er vor einem Jahr in Wien die Marathondistanz unter zwei Stunden absolviert hat. Nur, was ist wirklich dran am Hype um Carbon? Ist es bloß ein schnelles Marketing-Strohfeuer oder ein stabiler Trend, der den Laufschuhmarkt nachhaltig verändern wird? Wir haben uns auf die Spurensuche gemacht – bei großen Herstellern und beim Biomechanik-Experten Gert-Peter Brüggemann, der an der renommierten Deutschen Sporthochschule in Köln Professor war, 25 Jahre Erfahrung auf dem Sektor hat und selbst für Big Player in der Entwicklung tätig war.

Die Ausgangslage
Alle namhaften Hersteller haben heute zumindest ein Modell mit Carbonfasern im Programm. Asics, Brooks, On, Saucony, Hoka One One, Adidas, Nike. Um das Thema kommt aktuell keiner herum. Sogar Marken, die bislang kaum auf dem Laufsektor aktiv waren, werben für 2021 schon mit Carbonmodellen.
 
Die Technologie
In der Zwischensohle werden mit Carbonfasern verstärkte Platten eingebaut, um eine größere Steifigkeit der Schuhe und mehr Rebound beim Abdruck zu erreichen und damit schneller zu werden. „Damit erreicht man vor allem eine Versteifung des Großzehengrundgelenks und spart die Energie, die man zum Durchstrecken desselben brauchen würde“, erklärt Gert-Peter Brüggemann. Mit Carbon alleine ist es aber nicht getan. „Viel spannender ist der komplette Aufbau“, sagt Kevin Dellion aus dem Innovationsteam des Schweizer Herstellers On.  „Wo befindet sich die Platte im Schuh? Welche Form hat diese und wie ist es um ihre Steifigkeit bestellt? Welche Materialien sind in welcher Menge um die Carbonplatte herumgebaut? Es ist also nicht das Carbon alleine, das den Unterschied macht, sondern die Kombination verschiedener Komponenten.“

Der Effekt
Genau beziffern lässt sich der Vorteil der Carbonschuhe nicht – darin sind sich alle Seiten einig. Allzu groß dürfte er nicht sein. Weniger Energieverbrauch und mehr Reaktivität – das sagt Kevin Dellion von On. „Weil Carbon sehr steif ist, will es sofort in die Ausgangsposition zurück, wenn man es durchbiegt“, erklärt Hugo Chouissa vom amerikanischen Hersteller Brooks. „Dadurch gibt es die Energie an Schuh und damit an den Läufer zurück.“ Ralf-Peter Schön von Marktführer Asics wiederum sieht die Hauptvorteile in der Stabilität durch die flachere Sohle. „Und in der Langlebigkeit und der verbesserten Ventilation.“ Wissenschafter Brüggemann erklärt aber auch, warum der Effekt nicht allzu groß ist. „Weil eine Carbonplatte den Schuh so steif macht und damit den Angriffspunkt der Kraft nach vorn verschiebt, wirkt man dem mit einer vorn aufgebogenen Rockersohle entgegen. Das ist wie eine Art Gehhilfe, ohne die der Schuh kaum zu laufen wäre. Das minimiert aber die Verbiegung der Carbonplatte und gleichzeitig den Rückstoßeffekt.

Die Zielgruppe
Carbonschuhe sind aktuell auf alle Fälle ein Nischenprodukt. „Für Sprinter machen die Schuhe Sinn“, sagt Biomechaniker Brüggemann. Hobbyläufer, die Halbmarathon oder Marathon laufen werden dagegen kaum profitieren. „Über einer Marathonzeit von 3:30 macht es gar keinen Sinn“, sagt Brüggemann. „Spitzenathleten wie eben Eliud Kipchoge können dagegen schon profitieren. Zumal ihm für den Lauf in Wien der Schuh genau an seine Bedürfnisse angepasst werden konnte.“ On stattet daher auch die High-End-Wettkampfmodelle mit Carbon aus. „Natürlich kann jeder davon profitieren“, meint Hugo Chouissa von Brooks. „Die eigentliche Zielgruppe sind aber ganz klar Eliteläufer und Pacemaker.“

Über einer Marathonzeit von 3:30 macht es gar keinen Sinn. Spitzenathleten können dagegen schon profi­tieren.

Gert-Peter Brüggemann

Die Gefahr
Mehr Reaktivität, mehr Tempo, weniger Energieverbrauch. Klingt verlockend, hat aber auch seinen Preis. „Durch die Versteifung wandert der Kraftangriffspunkt beim Abstoß weiter nach vorne und der Hebel der Kraftwirkung am Sprunggelenk wird vergrößert“, erklärt Biomechaniker Brüggemann. „Dadurch wird die Achillessehne bei jedem Abstoß stärker belastet.“ Für den gut trainierten Athleten wird das vor allem bei kürzeren Distanzen kein Problem darstellen. Für die breite Masse sieht Brüggemann den Einsatz aber kritisch. Bei Sprintern konnte der positive Effekt der Sohlenversteifung bei kurzer Belastungsdauer nachgewiesen werden. Allerdings wurde auch eine individuell unterschiedliche optimale Steifigkeit der Sohle gezeigt.

„Bei Läufern aus Ostafrika konnte ein etwas größerer Kraftarm der Achillessehne beobachtet werden. Auch haben diese Läufer erwiesenermaßen längere Achillessehnen mit höherem Speicherpotenzial elastischer Energie und verkraften so die Belastung besser.“

Die Zukunft
Wird es bei einem kurzfristigen Hype bleiben oder wird Carbon ein fixer Bestandteil des Sortiments bleiben? „Es geht bei Carbon um pure Performance, darum, das Beste aus sich und dem Material herauzuholen. Darum ist es für mich kein Trend, sondern echte Innovation“, sagt Kevin Dellion von On. Bei Brooks und Asics sieht man das ähnlich. „Nur wenn die Schuhe bei Rennen verboten werden, würde das den Trend stoppen“, ist sich Hugo Chouissa von Brooks sicher. Und für Ralf-Peter Schön bereichert Carbon den Markt. Biomechaniker Brüggemann sieht die Sache wiederum ganz anders und rechnet damit, dass Carbonschuhe aufgrund der erhöhten Belastung für Durchschnittsläufer und einer kaum möglichen individuellen Sohlenversteifung bald wieder verschwinden werden. Ähnlich wie es vor einigen Jahren mit den Barfußschuhen der Fall war.

Der Selbsttest
Tatsächlich fühlt sich ein Schuh mit Carbon in der Zwischensohle schneller an. Man will schneller laufen, weil man das Gefühl hat, Federn würden einen nach vorne treiben. Ein paar flotte 5-Kilometer- Einheiten haben auch an der Achillessehne noch keine spürbaren Folgen hinterlassen. Langzeiterfahrung mit Catbonschuhen fehlt uns allerdings noch.

Das tut sich am Markt

Inov-8
Der britische Trailrunning-Spezialist Inov-8 (sprich: Innovate) verwendet seit geraumer Zeit das „Wundermaterial“ Graphene in seinen Schuhen. Vereinfacht gesagt handelt es sich dabei um ein sehr dünnes, sehr flexibles und langlebiges Kohlenstoffmaterial. In enger Zusammenarbeit mit der Uni Manchester hat Inov-8 als bislang einzige Laufschuhmarke Graphene in der Mischung für die Außensohle. Die Vorteile: Weniger Abrieb und gleichzeitig mehr Grip als bei herkömmlichen Schuhen, bei denen sonst eines auf Kosten des anderen geht.

Salomon
Drei Jahre haben die Franzosen im Design-Center in Annecy an einem voll recycelbaren Laufschuh gearbeitet. Nun hat Salomon den „Index 0.1“ vorgestellt, einen Performance-Straßenlaufschuh, dessen Sohle und Obermaterial wiederverwertet werden können. Zuerst wird die Einlegesohle entfernt, danach Obermaterial und Sohle getrennt. Die Sohleneinheit wird zu Pellets zermahlen und ­danach mit TPU kombiniert, um daraus zum Beispiel Alpinskischuhe herzustellen. Das Obermaterial aus recyceltem Polyester soll dann unter anderem zur Herstellung von Stoffen verwendet werden. 

True Motion
Keine Symptome behandeln, sondern das Übel bei der Wurzel packen wollen die True-Motion-Schuhe. Andre Kriwet, der lange für große Marken Schuhe entwickelt hat, und Biomechanik-Koryphäe Gert-Peter Brüggemann haben einen Schuh entwickelt, der den Kraftangriffspunkt unter Sprunggelenk und Knie verlagert. Erreicht wird das durch einen speziellen Schaum, der hufeisenförmig um die Ferse angebracht ist. „Wie der Fettpolster unter und vor allem um das Fersenbein“, erklärt Brüggemann. Dadurch werden Kipp- und Rotationsmomente der Gelenke deutlich reduziert, was die Verletzungsgefahr minimiert. „Und alle Testläufer berichten von einem tollen Laufgefühl“, sagt Brüggemann.

	Was ist dran am Carbon-Hype? Das Hightech-Material im Laufschuh auf dem Prüfstand
Gert-Peter Brüggemann

Biomechanik-Experte & True Motion Geschäftsführer.
WEB: www.truemotion.run