„Wann, wenn nicht jetzt“ wäre es an der Zeit, die Rolle des Sports in der Gesellschaft neu zu denken – meint Österreichs ­erfolgreichster Olympiasportler Felix Gottwald. Was es über die Bewertung von Sport und Bewegung aussagt, wie in der Corona­krise damit umgegangen wurde.­ Und was Sport alles ­leisten könnte, wenn man wollte.

Christof Domenig
Christof Domenig


Zu Beginn des Lockdowns waren die Wälder voll mit Menschen. Fahrradhändler werden zur Zeit „gestürmt“. Wurde in dieser Ausnahmesituation vielen der Wert von Bewegung erst bewusst?
Es sind zwar mehrere Faktoren zu berücksichtigen. Aber ich glaube schon, dass auch ein Bewusstsein entstanden ist bei vielen Menschen: Ich muss und möchte jetzt etwas für meine Gesundheit tun. Was ja grundschlau ist, weil jeder, der rausgegangen ist an die frische Luft und sich bewegt hat, auch das Gesundheitssystem entlastet hat. Als unser Sportminister gesagt hat: Mit dem Hund kann man schon spazieren gehen, war mein Erstreflex: Jetzt brauche ich einen Hund. Wie selbiger mir dann erklären wollte, welche Intensität und welchen Umfang an Bewegung und Sport mein Immunsystem braucht und wo es zu viel wird, da habe ich gewusst: Fein, ich kümmere mich weiter eigenverantwortlich um meine Gesundheit.

Aber: Ja, es ist in dieser Phase, wo es so kulminiert ist, Bewusstsein entstanden für Bewegung, für Ernährung, auch für das Miteinander und Füreinander. Wir haben wieder Zeit gehabt für Dinge, für die wir uns tendenziell zu wenig Zeit nehmen. Es ist ja leider nicht so, dass es normal ist, uns täglich für eine Stunde Bewegung die Zeit zu nehmen – das wäre ja, was ich unter einer echten Bewegungskultur verstehen würde: Dass wie das Essen, Trinken und Zähneputzen auch Bewegung zum Leben dazugehört. Ich hoffe auch, dass das Bewusstsein, dass Bewegung etwas mit einem tut – mit der inneren Ruhe, dem Vertrauen, der Kreativität, dem Abschalten und Kopfdurchlüften–, dass das angekommen ist und dass viele jetzt sagen: Da mache ich einfach weiter.

In der Stadt haben manche zu Beginn des Lockdowns die Straßenseite gewechselt, wenn man ihnen als schwitzender Jogger entgegenkam. Haben Sie am Land Ähnliches erlebt?
Es hat ein paar Reflexe gegeben, die für mich unverständlich sind: dass man in einer Langlaufregion wie der Ramsau die Loipen so schnell wie möglich zerstört hat. In Norwegen haben sie im Gegensatz dazu so lange wie möglich präpariert. Oder auch, dass ernsthaft überlegt wurde, die Großglocknerstraße dieses Jahr gar nicht zu öffnen, weil es sich nur für die Einheimischen nicht auszahlt. Diese Haltung auch gegenüber den Radfahrern ist leider erbärmlich.

Es wäre jetzt die Chance gewesen und wäre nach wie vor die Chance, zu erkennen, dass Sport und Bewegung einen Beitrag leisten, um die Welt, in der wir leben, zu meistern. Und da ist nirgends die Rede von Weltmeistern. Wissend, dass ohnehin nur 0,2 Prozent der Kinder, die den Weg zum Sport einschlagen, irgendwann die Chance haben, ihre Existenz damit zu sichern. Heißt im Umkehrschluss: Wenn es uns so wichtig ist, dass wir Weltmeister produzieren wollen, braucht es erst einmal 1000 Kinder, die Sport betreiben, damit du die zwei hast, die zumindest eine theoretische Chance haben, irgendwann ein Marcel Hirscher oder Dominic Thiem zu werden. Da sehen wir schon wieder unseren aktuellen Stand des Irrtums, was die Sport- und Bewegungskultur betrifft: Wenn es der erste Reflex ist, Turnstunden ersatzlos zu streichen, und nicht: Wie können wir eine Lösung finden, dass die Kinder ausreichend Bewegung an der frischen Luft kriegen, um die Welt zu meistern.

Wenn Sie der Regierung ein Zeugnis für den Umgang mit Bewegung und Sport in der Corona-Zeit ausstellen müssten ...?
Ein Zeugnis auszustellen für ein Fach, das nicht existiert, ist schwer. Aber meine Hoffnung lebt weiter. Meine These ist: Es gibt Bewegung, es gibt Ernährung, es gibt Regeneration, unser Mindset und den Schlaf als Basis. Wenn wir mit etwas beginnen, beispielsweise uns zu bewegen: Dann hat das natürlich auf alle erwähnten Bereiche Auswirkungen!

Ich hoffe, dass vielen bewusst geworden ist, dass wir mit den Maßnahmen der Regierung nicht fitter und gesünder werden. Um unsere Gesundheit kümmert sich niemand, deshalb dürfen wir uns selbst darum kümmern. Die Herausforderung ist: Wir sehen die Auswirkungen nicht unmittelbar und können gleichzeitig immer nur heute einen Beitrag leisten. Es braucht dafür auf sehr einladende Weise einen Bewusstseinsschaffungsprozess. Nur durch Händewaschen und Abstandhalten werden wir keine vitalere, fittere ­Gesellschaft werden. 

Wer sich regelmäßig bewegt, weiß, wie gut ihm das tut. Dann gibt es wahrscheinlich 50 Prozent der Bevölkerung, die diese Erfahrung nie gemacht haben.
Ich möchte nicht sagen: noch nie gemacht. Kinder, und ich habe selber zwei kleine Mädels daheim, können gar nirgends hingehen, sie laufen. Aber natürlich ist jeder von uns die ganze Zeit Vorbild durch Vorleben. Wenn keiner rausgeht, sich nicht bewegt, denken Kinder, das ist normal. Kinder haben drei Gründe, warum sie mit Sport anfangen: Der erste ist, sie wollen den Eltern eine Freude machen. Der zweite: Sie wollen zu einer Gruppe gehören. Der dritte: Sie wollen spielen. Und wir, und da sind wir wirklich gut in Österreich, gehen her und sagen zu achtjährigen Kindern: Du darfst nicht mehr rausgehen spielen, geh trainieren. Und mit neun müssen sich Kinder für eine Sportart entscheiden: Fußball oder Skifahren. Allen Ernstes.

Wieder das Beispiel Norwegen: Dort traut sich kein Trainer ein Kind vor dem 18. Lebensjahr zu bewerten: Du bist gut, du bist schlecht, du kannst was, du kannst nix. Sie nehmen alle mit. Athleten, Trainer, Funktionäre, Visionäre. Jeder soll dem Sport erhalten bleiben – egal, in welcher Funktion.

Dass sich Kinder so früh für eine Sportart entscheiden sollen: Hat das mit dem Gedanken zu tun: „wenn man sich früh spezialisiert, wird man später besser?“ 
Es steckt der Weltmeistergedanke dahinter. Jeder Verband will Weltmeister produzieren um aus den Fördertöpfen entsprechend zu profitieren. Aber das ist eine Themenverfehlung. Ich rede da leicht als Olympiasieger, aber: Ich bin nicht der Inbegriff des Systems. Wenn es nach dem gegangen wäre, hätte ich mit 13 aufhören sollen, weil ich zu schlecht war. Auch Hermann Maier ist ein Gegenbeispiel. Es war fast unser Glück, dass wir zu früh abgeschrieben worden sind – und es dann auch unbedingt wollten. Die, die unbedingt wollen, kannst du sowieso mit keinem System verhindern. Aber generell unsere Sportstruktur auszurichten auf die Weltmeister, die Thiems und Hirschers, unser Sportsystem zuzuspitzen auf die olympischen Kernsportarten, Goldmedaillen und Siege: Das macht leider keinen Sinn.

Stattdessen sollten sich möglichst ­viele Menschen einfach regelmäßig bewegen ...
Es gibt einen schönen Text vom Unternehmensberater Simon Sinek: Wir stehen an einer Weggabelung und haben die Entscheidung über Sieg oder Erfüllung. Der Sieg steht für das Endliche und die Erfüllung für das Unendliche. Entscheidest du dich fürs Siegen, ist alles auf die Ziellinie ausgerichtet, die Leute streben dorthin. Du gewinnst, alle jubeln dir zu. Dann gehen sie heim, du stehst alleine da und kannst nur hoffen, dass dir das ­irgendwann wieder gelingt. Bei der Erfüllung gehst du deinen Weg, die Leute schließen sich dir an und gehen mit dir. Wenn es dich einmal nicht mehr gibt, wird dein Weg von den anderen fortgesetzt.

Meine Idee wäre, dass wir von der Sportkultur her einen solchen Weg einschlagen, der unendlich weitergeht. Wo wir als Nation eine Lebendigkeit entwickeln, Bewusstsein entwickeln für unsere Grundbedürfnisse, zu denen Bewegung dazugehört. Wenn wir eine Situation erreicht haben: Du gehst während der Arbeit in der Mittagszeit eine Stunde laufen, und erntest keine komischen Blicke und es sagt keiner: „Hast du nichts zum Hackeln?“; sondern: Weil meine Arbeit so wichtig ist, deshalb geh ich die Stunde laufen. Wenn es normal wird, dass wir uns einmal am Tag bewegen, dann haben wir es geschafft. Die Frage ist, wie kommen wir dahin? Kultur wird millimeterweise aufgebaut und meterweise abgerissen. Wir sind schlecht im Aufbauen und gut im Abreißen – wenn du etwa reflexartig gleich einmal die Turnstunden streichst in so einer prekären Phase, wie wir sie jetzt gehabt haben.

Haben Sie eine Idee, wie eine Einladung an jeden Richtung Bewegungskultur konkret ausschauen könnte? 
Ich habe mir schon überlegt, wenn wir ein Beitragssystem entwickeln würden: Wenn jeder Kilometer, den wir uns sportlich bewegen, in einem Topf landet und dieser wird dann vom Staat umgemünzt in eine Bewegungs- und Vitalitätsinitiative. Das stelle ich mir schon lässig vor: Die zwei Kilometer, die ich mehr mit dem Rad fahre, werden vom Staat Österreich umgemünzt und wieder in Bewegung, in Sport investiert. Ich könnte mir vorstellen, dass da eine Superdynamik entstehen könnte, dass Win-win-win-Situationen entstehen. Der Einzelne, der durch seine Bewegung beiträgt, wird fitter; es werden Projekte realisiert. Und dem Staat spart es einen Haufen Geld. Und wir sind zudem gerüstet für etwaige Krankheitswellen.

Aber um noch einmal auf die 50 Prozent zurückzukommen, die mit Sport nichts am Hut haben: Ich kriege das ja in Unternehmen mit, dass jede Initiative für Bewegung wieder die anspricht, die schon einen Ironman machen. Aber wie erreichst du die anderen? Auf einladende Weise. Mit Ermutigen und Bestärken. Es wäre eine Chance gewesen, das Vertrauen zu stärken. Zu sagen: „Die Situation ist so und so, aber was können wir deshalb tun und was ist umso wichtiger: Vernünftige Ernährung, Bewegung, jetzt habt ihr Zeit dafür.“ Und nicht: „Ihr könnt’s eine Stunde rausgehen – aber ja nicht zu schnell, weil ja das Immunsystem zusammenbrechen könnte.“

Was uns begeistert am Sport, ist schon diese unmittelbare Emotion, das ist es, wo mir das Herz aufgeht.

Felix Gottwald, ehem. österreichischer nordischer Kombinierer

„Gesundheit“ hat seit März alles überschattet. Aber könnte der Sport in der Gesellschaft nicht noch viel mehr leisten – etwa auch bei den entscheidenden Themen der letzten Wahlen: Integration und Klimaschutz?
Es gibt selten eine Rubrik wie den Sport, die in alle Bereiche einzahlt. Siehe Projekte wie Laureus: Ein Fußballprojekt mit Kindern aus sozial schwierigen Verhältnissen, wo das Miteinander zu Beginn überhaupt nicht funktioniert hat, und nach einigen Monaten haben sie sich fast entschuldigt, wenn sie ein Tor geschossen haben. Da siehst du, was der Sport an gelebten Werten in die Welt bringt.

Es zeigt sich auch im Spitzensport. Der ist ein Fraktal der Gesellschaft, sprich: Alles, was du in der Welt siehst, siehst du im Spitzensport auch. Von „das Herz am richtigen Fleck“ bis hin zu Betrug und Beschiss. Umso wichtiger ist, dass Spitzensport sich ernst nimmt – „ernst“ im Sinne von „echt“. Nicht bei jedem Trend und jedem Quadratzentimeter Bandenwerbung mittun. Wenn 22 Fußballer nur für sich spielen, ist das schon skurril. So ganz menschenleer, nur für den Fernseher? Sport ist doch pure Emotion. Wenn die nicht mehr gelebt wird, sondern stattdessen nur immer mehr desselben, es nur darum geht, Sponsoren ins Bild zu bringen: Da macht sich der Sport unglaubwürdig. Was uns begeistert am Sport, ist schon diese unmittelbare Emotion, das ist es, wo mir das Herz aufgeht. Da sind Geisterrennen schon komisch, egal, in welcher Sportart.

Das war jetzt eine Übergangsphase ...
Ja, und ich stelle mir die Frage: Übergang wohin? Endliche Gewinnmaximierung ist im Spitzensport leider nicht mehr nur die Ausnahme. Andere Unternehmen und Sportler nützen ihre Unternehmung, um sich der gemeinsamen menschlichen Entwicklung zu widmen. Für diese Unternehmen gibt es keine Ziellinie. Solche Athletinnen und Athleten ziehen mich in ihren Bann. Wo der Sport nicht einfach aufhört, wenn die Ziellinie passiert ist, sondern etwas weitergeht. Dieser unendliche Zugang. Wenn ein Aksel Lund Svindal aufhört mit dem Skifahren, geht etwas weiter. Es ist eine Kultur in der Mannschaft etabliert worden, die nie aufhört. Das ist meines Erachtens, was beispielsweise einen Svindal unterschieden hat, nicht nur seine Erfolge.

Das Thema Klimawandel ist jetzt wieder ein wenig in den Hintergrund getreten. Dennoch: Jeder ist gefordert, hier einen Beitrag zu leisten. Wie könnte ein Beitrag der Sportwelt ausschauen?
Punkt eins: Das geht sich nicht aus, dass das in den Hintergrund tritt. Aber schon wieder: Es ist halt nicht so unmittelbar. Heute geht es sich noch irgendwie aus. Auf 1200 m Seehöhe spürst du es halt nicht wahnsinnig, wenn der Meeresspiegel ein paar Meter ansteigt, aber: Wir sitzen alle im gleichen Boot. Man muss sich im Sport etwa schon überlegen, ob es sinnvoll ist, quer über den Globus dasselbe auszutragen. Früher oder später wird es so etwas wie ein CO2-Konto für jeden von uns geben müssen. Und wenn du im Juli merkst, meines ist zu Ende, dann ist es einfach zu Ende. Dann wäre es ehrlich, wenn du auch nichts mehr zukaufen kannst.

Aber wenn wir jetzt so etwas wie ein CO2-Konto hätten, kannst du dir überlegen, fahre ich mit dem Rad oder dem Auto in die Arbeit. Plötzlich hast du mehr Radkilometer am Tacho, zahlst wieder in den Topf ein, wo wir Bewegungskonzepte etablieren, und da kann dann ein Rad ins andere greifen und etwas Großes entstehen. Ich würde mir wünschen, dass wir in Österreich da gemeinsam vorausgehen und auf spielerische Weise einen Unterschied machen. Jeder Einzelne kann jeden Tag einen Unterschied machen. Die Hoffnung, dass die Politik für uns etwas ändert, die ist überschaubar. Es geht ja doch um die nächsten Wahlen und gerade mit der Krankheit lässt sich auch viel Geld verdienen, abgesehen davon, dass endliches Denken noch regiert. Wenn wir selber aber diese Unendlichkeit verinnerlicht haben, wenn wir denken: Wenn es mich einmal nicht mehr gibt, möchte ich auch, dass es gut weitergeht, dann glaube ich, dass wir viele Entscheidungen anders treffen. In allen Bereichen. Im Sport, in der täglichen Bewegung, in der Ernährung, alles. Das ist schon ein schönes Projekt, das wir da jeden Tag machen können.

Felix Gottwald
Felix Gottwald

ist 44 und als ehemaliger nordischer Kombinierer der erfolgreichste österreichische Sportler der Olympiageschichte (3 x Gold, 1 x Silber, 3 x Bronze). Insgesamt 18 Medaillen bei ­Großereignissen.

Der gebürtige Salzburger lebt mit ­Partnerin und zwei Töchtern (6 und 5) in Ramsau am Dachstein/St, bietet Workshops, Trainings und Management-­Programme für Unternehmen und Organisationen an. Gottwald ist auch Ehrenbotschafter des „Jane Goodall ­Instituts Austria“.

Web: www.felixgottwald.at