Der Grazer Dietmar Scherjau hat 2006 ein Lawinenunglück schwerstverletzt überlebt. Zwei Begleiter sind unter der Lawine gestorben. Der Sport, die Natur und die Familie haben ihm auf dem langen Weg zurück ins Leben geholfen.
Der 8. März 2006 stellte Dietmar Scherjaus Leben auf den Kopf. Ein Traumskitag mit Sonne und riesigen Neuschneemengen. Die letzte Erinnerung, die der Grazer für viele Jahre an diesen Tag hatte, ist die Fahrt im Sessellift: Er scherzt mit seinen zwei Freunden. Bis 2014 wusste Scherjau bloß aus Erzählungen, was folgte: Bei der folgenden Abfahrt wurden die Männer von einem 400 Meter breiten Schneebrett erfasst. Skitourengeher gruben die Verschütteten aus. Scherjau überlebte, die Freunde nicht.
Der topfitte Freizeitsportler erlitt einen Schädelbasisbruch, multiple Gesichtsschädelfrakturen, war stark unterkühlt, hatte vielfältige weitere Verletzungen. Einen Monat lag er im künstlichen Tiefschlaf. Im Jänner 2018 sitzt der nun 42-Jährige in einem Grazer Kaffeehaus und erzählt. Er spricht überlegt, offen, lächelt oft. Zwei Tage zuvor hatte er eine kleine Operation, eine Spätfolge der Verletzungen von damals. Es ist alles bestens, haben die Ärzte versichert.
Lange Jahre war es ihm unmöglich, über das Unglück zu sprechen. Wenige Wochen vor unserem Treffen hat er beim Lawinensymposium der Naturfreunde Österreich öffentlich über das Erlebte berichtet. Scherjau will aufklären, aber keineswegs jemanden vom Skitourengehen oder Geländeskifahren abhalten. Und er sagt auch: „Darüber zu sprechen, ist für mich auch ein Teil der Aufarbeitung."
LEBEN MIT SCHULDGEFÜHLEN
Von Jugend an war der gebürtige Kärntner, der fürs Studium nach Graz übersiedelte, vielfältig sportlich: Klettern im oberen 9. Grad, Bergsteigen in den Dolomiten und Westalpen, Bouldern im Yosemite Valley. Ein hervorragender Badmintonspieler. Natürlich Skifahren. In der Rehabilitation musste er erst das Gehen wiedererlernen. Die körperlichen Verletzungen waren nur die eine Seite – das Unfalltrauma reichte viel tiefer. Beispiel: „Eine Schneefeldquerung war mir zu Beginn unmöglich." Längeres Konzentrieren auch. Wurde Scherjau müde, kamen dunkle Gedanken. „Zwei Dinge haben mich ständig beschäftigt. Erstens die Schuldfrage, weil zwei Freunde gestorben sind, die mir vertraut haben. Ich war im Gelände der Erfahrenste. Zweitens die Frage, warum gerade ich von uns drei überleben durfte."
Der eine Freund hatte schon Kinder. Der andere war ein Spitzenkletterer. Beide hätten ein Überleben mehr verdient – „das habe ich mir eingeredet." Alte Sportfreude wollte Scherjau lange nicht treffen. Auch wegen des Wissens, sportlich nicht mithalten zu können. Beim Badminton traf er keinen Ball. Klettern war ohne Kraft in der linken Hand nicht möglich. Mountainbiketouren machte er mit einer Hand trotzdem.
FREUNDSCHAFT, SPORT, LIEBE
Der Sport hat ihm dennoch sehr geholfen – und gute Freunde. „Einen der heute besten hatte ich erst kurz vor dem Unglück kennengelernt. Er kletterte damals im sechsten Grad, wie er stolz anmerkte. Ich schmunzelte und schwieg. Auf Tour bemerkte er, dass ich der bessere Kletterer war und er sagte: ‚Steig du vor'." Nach dem Unfall motivierte derselbe Freund Scherjau wieder zu gemeinsamen Touren. Ganz leichte zunächst, die sich langsam steigerten. „Auf einer Tour auf die Planspitze im Gesäuse sagte er mir wieder: ‚Steig du vor!' Dieses Vertrauen hat mir sehr viel gegeben."
Scherjaus Freundin, die er zum Zeitpunkt des Unglücks hatte, stand zu ihm. 2008 dachten beide: „Eine größere Prüfung für eine Beziehung kann es nicht geben." Ein Irrtum. Sie heirateten 2008 – 2010 folgte die Scheidung. Im selben Jahr lernte er seine heutige Lebensgefährtin kennen, eine begeisterte Sportlerin, die ihn erstmals wieder zu einer Skitour mitnahm. Mit neuen Skiern, die ihm Freunde zum Studienabschluss schenkten. Jene, die er beim Unglück fuhr, standen noch im Keller: K2 Seth Pistol, mit Totenkopf-Graphics und dem Aufdruck: „Destroy yourself". „Die passen nicht mehr", fanden Scherjau und die neue Frau in seinem Leben.
DER FILM NACH ACHT JAHREN
Diese, von Beruf Shiatsu-Praktikerin, brachte ihn dazu, viel aktiver an der Aufarbeitung des Traumas zu arbeiten. „In Extremsituationen reagiert der Körper mit Kampf, Flucht oder Starre. Ich war in einer jahrelangen Starre gefangen." Scherjau machte Therapien, probierte Unterschiedlichstes. Ein Maori nahm ihm endlich das Schuldgefühl. „Ich verstand danach, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist". Und die zweite Schlüsselfrage – warum gerade er überlebte? „Die haben mir meine Kinder beantwortet", lächelt Dietmar Scherjau. Der Sohn wird im März sechs, die Tochter wird zwei.
2014 entschied sich der Techniker zu einer Ausbildung zum „Natur- und Wildnistrainer". Einer von nativen Völkern beeinflussten Philosophie, die das Leben mit der Natur propagiert, Achtsamkeit der Natur gegenüber, Nehmen und Geben statt achtlosen Konsumierens. Gleich zu Beginn dieser Ausbildung, im Moos zwischen zwei Felsen sitzend und auf einen Berghang schauend, konnte er sich plötzlich an das Unglück erinnern. Es lief wie ein Film ab: Die Fahrt im Lift, der kurze Aufstieg. Bei Lawinenwarnstufe zwei bis drei fuhren die Freunde einzeln ab, Scherjau voraus. Der Dritte fuhr zu weit Richtung Rinne, Scherjau schrie, fuchtelte mit den Armen. Es folgte das Wumm-Geräusch, das bedrückende Gefühl, die Abrisskante. Die beiden am Haltepunkt Stehenden blickten sich noch kurz an, da begann schon der Boden unter ihnen zu schwimmen. „Ein kostbares Geschenk" nennt Scherjau die nach acht Jahren aufgetauchte Erinnerung.
Geländeskifahren genießt er heute wieder sehr. Mit Vorsichtsmaßnahmen, die er aber (mit Abstrichen) auch vor dem Unfall getroffen hat. „Jeder muss auf sich selber vertrauen. So viel Wissen wie möglich aufbauen. Und es muss nicht immer das beste und größte Erlebnis sein", so der Kern seiner Botschaft. Er möchte anderen, die Ähnliches erlebt haben, anbieten, sich mit ihm auszutauschen. „In der Rehabilitation habe ich mir häufig so jemanden gewünscht."
Dass der Unfall ihn auch menschlich verändert hat, hat ihm einmal die Frau seines besten Freundes gesagt. Ein Kompliment. „Früher war ich vielleicht überheblich, habe Leute verarscht, die weniger sportlich waren. Aber ich war auch selbstkritisch, was meine eigene Leistungsfähigkeit angeht. Heute sehe ich das alles völlig gelassen." Dietmar Scherjau genießt den Moment. „Das versteht man erst richtig, wenn man Kinder hat. Für das Leben im Hier und Jetzt sind sie die besten Lehrmeister."
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