„Neue Tourenski? Wozu? Die alten haben seit Jahren beste Dienste geleistet, sind noch gut in Schuss. Und nur wegen der Modefarbe brauch ich nix neues.“ Ein oft gehörtes Verweigerungsargument von g’standenen Skitourengehern. Ihr Denkfehler dabei: Das Material hat nicht nur obenauf die Farbe gewechselt – auch innen drin stecken neueste Innovationen und auch die Skilänge ist anders. Zum Beweis vergleichen hier Patrick Paier von Hagan und Silke Dankelmayr von Fritschi einen zehn Jahre alten und einen neuen Tourenski, sowie die jeweils aktuellen Tourenbindungen.
Patrick Paier und Silke Dankelmayr haben für uns in ihren Archiven gekramt, alte und moderne Eckdaten verglichen und uns die technischen Inputs geliefert. Und das war gar nicht einfach, erklärt Patrick Paier: „In unserer Branche mit jährlichen Verbesserungen sind zehn Jahre nämlich wirklich eine große Zeitspanne.“
SKIBREITE
Der Hagan Tour Expert der Saison 2003/04 hatte die Maße 92-68-82, heute misst der Hagan Y[wai]-Flow 130-87-100 mm. „Um ein geringes Gewicht zu erzielen, musste man den Ski damals so schmal bauen“, erklärt Patrick Paier. „Auch stand die Abfahrt noch nicht so im Vordergrund. Ein breiter Ski von heute hat eine wesentlich größere Auflagefläche – und damit mehr Auftrieb im Tief- und Schlechtschnee.“
GEWICHT
Der zehn Jahre alte Ski wiegt ca. 1.200 Gramm, der heutige, im Schnitt doch 4 cm breitere Y-Flow ungefähr das gleiche: 1.180 Gramm bei 173 cm Länge. Möglich wird das gleichbleibende Gewicht bei viel breiterer Auflagefläche vor allem durch den Einsatz von Spezialhölzern und Carbon.
FLEX/TORSION
Einer der größten Fortschritte der letzten zehn Jahre: „Um früher einem Tourenski Stabilität zu geben, fi el die Flexkurve sehr steif aus, bei vergleichsweise schwacher Torsionssteifigkeit aufgrund noch nicht ausgereifter Materialien“, weiß der Hagan-Experte. „Heute erreicht man das Gegenteil: Angenehm softer Flex für nötigen Auftrieb und Geländeanpassung und sehr hohe Torsionssteifigkeit für hohen Kantengriff.“
SKILÄNGE
Vor zehn Jahren wurden Tourenski knapp unter Körpergröße gefahren. Durch die aufkommende Taillierung und zunehmende Breite wurde diese in den Folgejahren um bis zu 15 cm reduziert. Erst bei der neuesten Skigeneration wächst (auch durch die Rockertechnologie) die Skilänge für gute und sportliche Fahrer wieder bis Körpergröße und darüber. Für Einsteiger und schwächere Skifahrer sind heute Körpergröße minus 5 bis 10 cm empfohlen.
BINDUNG
Mit der Diamir Titanal lancierte der Bindungshersteller Fritschi bereits 1995 eine leichte Tourenbindung mit Bedienkomfort und Sicherheitspotenzial einer Alpinbindung. Dieses Grundkonzept war auch 2003/04 noch zeitgemäß. Die Fritschi Diamir Eagle 12 der Saison 2013/14 zeigt sich vor allem im Gehkomfort dem Ahnen deutlich überlegen. Durch einen speziell konstruierten Drehpunkt mit mehr Bewegungsfreiheit erlaubt sie dem Fuß ein wesentlich natürlicheres Abrollen.
SCHAUFELFORM
Früher verjüngte sich die Schaufel in den letzten 15 bis 20 cm zur Spitze hin ziemlich gleichmäßig. Heute hat man einerseits eine Rockerschaufel: 30 bis 40 cm vor der Skispitze beginnt der Ski sich bereits sanft aufzubiegen. Die Schaufel schwimmt dadurch im Tiefund Schlechtschnee sehr gut auf, ein Verkanten ist nicht möglich. Der Y-Flow besitzt außerdem eine Schaufelform, die sich ab der breitesten Stelle (ca. 22 cm vor der Spitze) „elliptisch“ verjüngt, um alle Schneearten perfekt zu durchpflügen.
TAILLIERUNG/RADIUS
Der Radius des zehn Jahre alten Hagan- Skis beträgt 30 Meter. Drehfreudigkeit bei griffigen Verhältnissen war damit aus heutiger Sicht kaum gegeben. Der neue Y-Flow weist eine wesentlich stärkere Taillierung auf und einen Radius von 19 Metern.
DIE NEUEN TOURENGEHER
Was man gleich anfügen muss: Beim Skitourenmaterial haben sich seit dem Winter 2003/04 noch einmal überdurchschnittliche Entwicklungssprünge ergeben. Das spiegelt sich auch in einer stark veränderten Zielgruppe wider: „Vor 10 bis 15 Jahren war das Skitourengehen einer Gruppe von Spezialisten vorbehalten. Heute ist es fast ein Massensport geworden. Und die individuellen Bedürfnisse der früher sehr homogenen Tourengehergruppe sind heute breit gestreut“, erklärt der Hagan-Experte.
Dabei zeigen sich bei einem Blick auf die Ziele der Skientwickler, damals wie heute, dennoch Gemeinsamkeiten: „Grundsätzlich strebte man 2003 nach geringem Gewicht und guter Performance, so wie man es heute auch tut. Während man das Gewicht aber schon ganz gut im Griff hatte, gab es in der Performance doch große Mankos.“ Aber auch das ist klar ersichtlich: Das Abfahren stand 2003/04 bei Weitem nicht so im Vordergrund wie heute: „Es ging dem Skitourengeher von damals eher um das Streben nach dem Berg und der Freiheit. Auf Tourenskiern war die einzige Möglichkeit, im Winter auf einen Gipfel zu kommen.“ Die Abfahrt nahm man eher nebenbei mit – und dabei mangels Alternativen auch in Kauf, sich talwärts eher plagen zu müssen. Heute ist das völlig anders – die größten Unterschiede zwischen alten und neuen Skiern zeigen sich daher auch bei den Abfahrtseigenschaften. Um die praktischen Auswirkungen zu verdeutlichen, lohnt sich hier durchaus noch der eine oder andere vertiefende Blick des Technikers:
Das Beispiel Flex und Torsion: Anders als bei der augenscheinlichen Skibreite und Skilänge ist der Fortschritt bei diesen Kennwerten nicht auf den ersten Blick zu sehen. Aber die Auswirkungen im Fahrverhalten sind umso größer: Der 2003er-Ski wies materialbedingt einen hohen Flex-Wert (= Durchbiegehärte) aber wenig Torsionssteife (= Verwindungssteife) aus. „Das führte dazu, dass sich der Ski im Tiefschnee eingrub und andererseits bei harten Verhältnissen wenig Kantengriff bot, unruhig zu fahren war“, sagt Paier. Mit heutigen Materialien erreicht man genau das (gewünschte) Gegenteil: „Ein softer Flex sorgt für den nötigen Auftrieb und dafür, dass sich der Ski an die Geländeform anpasst. Die sehr hohe Torsionssteifigkeit sorgt für hohen Kantengriff auch bei einem leichten Ski.“
Beispiel Taillierung und Radius: Ein moderner Tourenski hat im Schnitt eine größere Taillierung und damit einen kleineren Radius als ein zehn Jahre alter. Was Sportlern wiederum beim Abfahren entgegenkommt. Aber auch hier geht die Entwicklung noch weiter: „Neuerdings geht der Trend in Richtung Multiradius“, weiß der Hagan- Experte. Am Beispiel des aktuellen „Y-Flow“ mit seinen 19 m Radius: „Belastet man den Ski eher an der Schaufel, erzielt man sogar noch einen kürzeren Radius. Steht man neutral auf dem Ski, dann treffen die angegebenen 19 Meter zu, und wer den Ski eher im hinteren Teil belastet, erhöht den Radius und kann schöne, gleichmäßig lange Schwünge fahren. So ist der Ski in allen Geländearten und Geschwindigkeitsbereichen immer sehr gut steuerbar.“
DAS SAGT DER „SKITOURENFEX“
So weit die Theorie. Wie schauen die Vorteile aber in der Praxis aus? Einer, der seit 40 Jahren sämtliche Materialtrends im Skitourensport mitgemacht hat, ist der Hopfgartener Helmut Klingler. Der 64-Jährige Tiroler kommt auf rund 80 Skitouren im Jahr, allein und als Skitourenführer mit Gästen der Ferienregion Hohe Salve, und er kennt und schätzt die Vorteile topmodernen Materials. Eine der größten Änderungen sieht er in der Differenzierung: „Vor zehn Jahren war das undenkbar, da war Tourenski gleich Tourenski. Aber heute habe ich drei Paar Ski für die unterschiedlichsten Verhältnisse. Eines mit starker Taillierung fürs abendliche Pistengehen; einen breiten für Pulverschnee und einen eher schmalen für harte, harschige Verhältnisse. Denn zum Spuren im Schlechtschnee bevorzuge ich immer noch weniger Breite und eine andere Skilänge“
Auch Helmut Klingler sieht die größten Fortschritte der letzten Jahre downhill – und da vor allem für weniger geübte Geländeskifahrer. „Mit dem neuen Material siehst du kaum noch einen, der schlecht fährt.“ Was früher durchs anstrengende „Hintensitzen“ bewerkstelligt werden musste, gehe heute fast ohne Kraftaufwand, nämlich die Ski aufschwimmen zu lassen – bei allen Schneeverhältnissen. Und auch über die Ski hinaus weiß der Skitourenfex das eine oder andere Loblied aufs moderne Material zu singen, von den maßgeschneiderten Fellen, die doppelt so lang halten, bis zum voll beweglichen Tourenskischuh mit anpassbarem Innenschuh: „Da wohnen die Füße drin wie im Wohnzimmer.“