Die Fingerspitzen sind sein Horizont. Trotzdem hat „Blind Climber" Andy Holzer die höchsten Berge aller Kontinente bestiegen. Wie er das schaffen konnte? Mit dem Vertrauen seiner Eltern. Und beneidenswerter Weitsicht.
Interview: Axel Rabenstein
Andy, was ist für dich das Faszinierende am Klettern?
Du musst dir überlegen, mit welchem Partner du einsteigst, welches Seil du nimmst und welche Schuhe. Du musst das Wetter beobachten und wissen, wie gut du trainiert bist. Ob deine Überlegungen korrekt waren, sagt dir am Ende der Berg. Er ist einer der wenigen, die auf diesem Planeten wirklich ehrlich sind. Der Berg weiß nämlich nicht, was du vorhast. Er ist einfach da und gibt dir seine knallharte Antwort.
Wann hast du damit begonnen?
Mich hat es schon als Junge in die Berge gezogen. Die anderen Kinder haben davon erzählt, wie schön die Gipfel der Dolomiten sind. Das sahen sie aus den Fenstern ihrer Kinderzimmer. Ich konnte es von unten nicht sehen. Also musste ich hoch, um mir vor Ort ein Bild davon zu machen.
Indem du die Gipfel ertastet hast?
Natürlich. Viele meiner Freunde sagen mir: Andy, schau dir das mal an! Dann geben sie mir etwas in die Hand. Genauso lerne ich die Berge kennen. Deshalb besteige ich sie am liebsten von allen Seiten über verschiedene Routen – damit ich einen Rundumblick erhalte.
Der Berg weiß auch nicht, dass du blind bist. Wie orientierst du dich da?
Beim Felsklettern brauchst du natürlich einen Partner, aber die meisten sehenden Kletterer sind ja auch zu zweit unterwegs. Wenn du blind auf die Welt kommst, realisierst du relativ schnell, dass du im aufrechten Gang größere Schwierigkeiten hast, die Balance zu finden. Wenn du mit den Füßen hängen bleibst, muss der ganze Oberkörper ausgeglichen werden. Im steilen Gelände nimmst du die Hände zur Hilfe, sie melden dir, wie der nächste Tritt aussieht. Für blinde Menschen ist das Klettern deshalb ziemlich geeignet.
Wollten deine Eltern dich nicht davon abhalten, klettern zu gehen?
Ich hatte immer ein positives Naturell und habe meinen Eltern vermittelt, dass es keinen Grund gibt, vor einer Krankheit zu kapitulieren. Also wurde ich als sehendes Kind erzogen. Heute bin ich ein sehender Erwachsener, bei dem die Augen nicht funktionieren. Es ist wichtig, Kindern etwas zuzutrauen. Sonst werden sie zu Menschen, die sehenden Auges durch die Welt spazieren – aber trotzdem irgendwie blind sind.
Es heißt, dein Vater habe dir Skier gekauft, als du drei Jahre alt warst?
Naja, ich wollte unbedingt welche haben. Weil ich gespürt habe, dass der Ski ein Hilfsmittel ist. Mit normalen Schuhen knöchelst du im Gelände schnell um. Auf Skiern stehst du stabiler, ich kann das Skifahren deshalb nur jedem Blinden empfehlen. Dass ich 40 Jahre später aus 7.100 Meter Höhe vom Shishapangma in Tibet abfahre, hätte damals natürlich keiner gedacht.
Welche Fähigkeiten benötigst du zum Skifahren ohne Augenlicht?
Das sind angeborene Empfindungen. Der Körper verfügt über eine Vielzahl von Sinneszellen in seinen Gelenken. Auch im Dunkeln spürst du genau, ob deine Beine angewinkelt oder gestreckt sind. Alle Sensoren zusammen funktionieren wie eine hochsensible Wasserwaage. Wenn du eine Buckelpiste runterfährst, taugen deine Augen nur für einen groben Überblick. Aber dein Gehirn meldet dir exakt, was zu tun ist: Linkes Knie zehn Grad beugen, rechtes Knie durchstrecken, 15 Prozent Körpergewicht nach rechts vorne ... sonst fallen wir um. Das nennt sich Propriorezeption. Bei mir ist diese Wahrnehmung natürlich besonders gut ausgeprägt, beim Spazierengehen nehme ich jeden Kanaldeckel, jede Neigung des Asphaltes mit meiner Fußsohle ganz genau auf.
Was ist noch gut ausgeprägt?
Ich habe ein ziemlich mieses Namensgedächtnis, kann mich aber nach Jahren daran erinnern, wo sich mein Partner nach welcher Länge ausgegebenen Seils befindet. Wenn ich eine Route gescannt habe, dann kenne ich sie. Ein neuer Kletterpartner ist schon mal von den Socken, wenn ich ihm zurufe, dass er jetzt nach links greifen soll, weil da ein schöner Untergriff kommt.
Funktioniert dieses Scannen nur über deinen Tastsinn?
Aber nein! Mein Gehirn weiß ja nicht, dass ich blind bin, also macht es sich ein Bild aus dem, was mir an Sinnen zur Verfügung steht. Das sind immerhin noch vier. Und ich verfüge über mehr Ressourcen, denn Bilder brauchen Rechenleistung und Speicherplatz. Diese Kapazität steht mir extra zur Verfügung. Ich höre an den Schuhen und am Schnaufen, ob mein Partner 20 Meter über mir piazt, grätscht oder einen Quergang hat. Jede Kante, jede Felsformation bringt Verwirbelungen mit sich, so kann ich aus jedem Luftzug Informationen generieren. Als Bub bin ich pfeilgerade mit dem Luftstrom durchs Gartentürchen gelaufen, und alle haben sich gefragt, wie ich das treffen konnte.
Hast du auch so etwas wie einen siebten Sinn?
Das will ich nicht behaupten, aber nennen wir es Intuition. Die führt dazu, dass ich nicht immer allen einfach hinterhersteige. Bilder sind oberflächlich und trügerisch. Meine Wahrnehmung kann man mit einer auf Parametern basierenden Modellrechnung vergleichen. Ähnlich wie beim Wetterbericht.
Apropos ... wie war denn das Wetter am 21. Mai 2017 um 7.20 Uhr?
Da stand ich auf dem Gipfel des Mount Everest, und das Wetter war großartig.
War das der Augenblick deines Lebens?
Am Tag danach war ich kritisch, weil ich dort oben so hautnah den Tod gespürt habe, so weit weg von der Erde, als stünde ich im Vorhof zum Himmel. Aber heute beflügelt es mich. Bergsteigerisch war es nicht die Welt, da habe ich schon andere Sachen bewältigt, aber symbolisch war es die größte Sache meines Lebens. Meine Eltern haben den kleinen Jungen ohne Augenlicht in die weite Welt gelassen, und dieser Weg führte mich auf den physikalisch höchsten Punkt unseres Planeten. Ich bin sehr gläubig und habe mit dem lieben Gott einen Pakt geschlossen: Wenn er mich lebendig runterlässt von diesem Berg, dann werde ich die Botschaft in die ganze Welt posaunen.
Ist es diese Botschaft, dass du den Sehenden die Augen öffnen möchtest, so wie der Titel deiner Vortragsreihe lautet?
Die Botschaft ist, dass Sehen für mich Realisieren heißt. Jeder Mensch ist verschieden, deshalb sollten wir versuchen, die anderen zu verstehen ... und nicht ständig auf unsere eigene Perspektive hereinfallen.
Der "Blind Climber" | ANDREAS „ANDY" JOSEF HOLZER kam am 3.9.1966 in Lienz auf die Welt. Aufgrund einer Augenkrankheit (Retinitis pigmentosa) ist er von Geburt an blind. Schon als Kind begann er mit dem Skifahren und Bergsteigen. Nach der Schule machte er eine Ausbildung zum Heilmasseur und Heilbademeister. Im August 2004 durchstieg er als erster blinder Kletterer die Nordwand der Großen Zinne. Es folgten Routen und Begehungen auf der ganzen Welt, heute hat er mit den Seven Summits die höchsten Berge aller Kontinente bestiegen. Am 21. Mai 2017 stand er mit seinen beiden Freunden Wolfgang Klocker und Klemens Bichler auf dem Gipfel des Mount Everest (8.848 m). Andy Holzer ist neben dem US-Amerikaner Erik Weihenmayer der einzige blinde Profi-Bergsteiger der Welt und lebt mit seiner Frau Sabine in Tristach (Osttirol). |
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