Vom Raucher mit Mehrgewicht zum Ultraläufer – das ist zwar einigen zuvor schon gelungen. Der Werdegang des Brooks-Trailrunners Andreas Rieder ist dennoch eine ganz eigene Liga: Mit 30 begann er zu laufen, mit 38 ist er mittendrin in der Weltklasse.
Es ist der 10. September 2024: Andreas Rieder aus dem Tiroler Zillertal läuft beim „CCC“, dem 100-km-Trailrun im Rahmen des Ultra-Trail du Mont- Blanc (UTMB), auf Platz 8 ins Ziel. Zur Einordnung muss man wissen, dass der UTMB das jährliche Highlight im weltweiten Trailrunning-Kalender ist. So etwas wie die inoffizielle Weltmeisterschaft und die Besetzung ist dort besser als bei der echten WM. Das UTMB-Hauptrennen führt über rund 170 km/10.000 hm – der „CCC“ („Courmayeur–Champeux–Chamonix“) mit 100 km/6100 hm liegt im Prestige nicht weit dahinter. Abgesehen von diesem Erfolg ist Rieder mittlerweile mehrfacher Staatsmeister, WM- und EM-Teilnehmer und hat etliche Siege errungen. Aber auch die Aufnahme ins internationale Brooks-Trailrunning-Team wertet er zu Recht als Riesenerfolg.
Bis zu seinem 30. Lebensjahr führte Andreas Rieder ein wenig sportliches Leben, war Raucher und brachte bei 176 cm Körpergröße bis zu 95 Kilo auf die Waage. Eine Gesundenuntersuchung knapp vor seinem 30. Geburtstag öffnete ihm die Augen. Statt Blutdrucktabletten einzunehmen, versuchte er es mit einer Lebensstiländerung und begann zu laufen.
Andreas, wie hat dein Leben bis 30 wirklich ausgeschaut?
Ich war ein Lebemann, ein rauchender Partytiger, habe teils echt gelebt, als gäbe es kein Morgen. Dank meiner Frau habe ich die Kurve gekriegt. Aber als sie mit unserer ersten Tochter schwanger war, hat sie 5 Kilo zugenommen und ich 20! Es war echt nicht mehr schön, dieses Unwohlsein, ich bin kaum eine Stiege raufgekommen. Ein Schlüsselmoment war die Gesundenuntersuchung kurz vor dem 30. Geburtstag im Jahr 2016: Der Bluthochdruck, das hat mich richtig runtergeholt.
Wieso ist es das Laufen geworden?
Zunächst war es eine Kombination aus Laufen und Kraftsport. Als Vorbereitung auf die Hochzeit habe ich Freelethics gemacht, da war ich dann schon wieder halbwegs in Shape. Dazu bin ich immer wieder laufen gegangen. Mitte 2018 habe ich dann mehr zu laufen begonnen, weil ich gesagt habe: Ich brauche ein Ziel und möchte 2019 bei einem lokalen Marsch bei uns, dem Steinbockmarsch im hinteren Zillertal, mitlaufen. Ohne konkretes Ziel kann ich mich schwer motivieren.
Du hast dann früh auch schon eine Leistungsdiagnostik gemacht.
Unter meinen Arbeitskollegen waren ein paar recht fanatische Radsportler: Sie haben mir dazu geraten. Ich habe mir die günstigste Leistungsdiagnostik in der Region herausgesucht. Zuvor schon habe ich mich aber auch selbst mit Training befasst, mich eingelesen und schnell eingesehen, dass man ohne Struktur nicht vorwärtskommt.
Was ist bei der Untersuchung herausgekommen?
Im August 2018 habe ich zu trainieren begonnen, im Februar 2019 war die Leistungsdiagnostik bei Peter Leo in Mayrhofen. Er hat mich nach dem Test gefragt: Was hast du vorher gemacht? Ich: Gar nichts. Da hat er gefragt, ob ich Interesse an einem Trainingsplan habe, denn ich hätte Potenzial! Dabei habe ich auch in der Jugend nie Ausdauersport gemacht, war ums 20. Lebensjahr zwar ein Discopumper im Fitnessstudio, aber Ausdauer habe ich nie trainiert. So hat mich Peter Leo entdeckt, seitdem sind wir ein Team.
Dein erster Lauf war im Mai 2019 die kurze Distanz beim Innsbruck Alpine Trailrun Festival. Das Unglaubliche: erster Lauf, erster Sieg ...
Genau. Es hat keiner geglaubt und ich habe es auch nicht geglaubt. Ich hab trainiert, bin immer fitter geworden und habe mir gedacht: Ich mach bis zum Steinbockmarsch im August noch etwas anderes. Den Steinbockmarsch hab ich dann übrigens verschoben, erst ein paar Jahre später nachgeholt.
Ist das Talent, dein strukturiertes Vorgehen, dein Fleiß?
Ich glaube, es ist eine Kombination aus allem. Viele trainieren seit der Kindheit und kommen nicht dahin. Der Nachteil, wenn man so spät anfängt: Du musst dir die Bewegungsabläufe, die du dir eigentlich im Kindesalter, in der Jugend holst, erst erarbeiten und zehnmal mehr investieren, um nicht verletzt zu sein. Das habe ich auch relativ schnell herausfinden müssen.
Deine Ernährung hast du auch komplett umgestellt?
Ich trinke keine Tropfen Alkohol mehr, lebe eine Kombination aus vegetarisch und vegan. Fleisch esse ich nur noch ganz selten und wenn, dann nur vom Hof meines Onkels. Diese Ernährungsweise hat sich aber beinahe von selbst ergeben, das Verlangen nach Fleisch war durch den Sport komplett weg.
Du hast bei den kurzen Traildistanzen begonnen und dich sukzessive zu den längeren hingearbeitet – ein mustergültiger Aufbau.
Eigentlich war es von Beginn an immer mein Plan, einen Ultralauf zu machen. Aber mein Trainer hat gesagt: Ohne ordentlichen Aufbau wirst du den nicht finishen. Durch meinen späten Einstieg musste ich alles aufbauen, Muskulatur, Sehnen, das dauert. Ich muss meinem Trainer völlig recht geben: Es braucht Zeit und Geduld und die habe ich mir genommen. Irgendwann möchte ich meinen 100-Meiler (100 Meilen, rund 160 km, gelten im US-geprägten Ultratrailrunning als eine ikonische Grenze, Anm.) laufen. Da kommt die Zeit dafür.
Wann bist du deinen ersten Lauf über der Marathondistanz gelaufen?
Trotzdem relativ früh, 2020 in der Coronazeit. Der virtuelle Wings for Life Worldrun sollte mein erster Marathon werden. Mein bester Freund hat mich mit dem Rad begleitet. Nach 40 Kilometern wollte ich es lassen und nach Hause laufen, er schaut aufs Handy und sagt: Du kannst jetzt nicht aufhören, bist weltweit in den Top 50. Am Ende bin ich 54 Kilometer weit gekommen und in den Top 20 gelandet.
Großartig! Aber um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Einen „Ultra“ durchlaufen, nachdem man jahrelang nicht optimal gelebt hat, ist das eine. Deine Erfolge sind eine ganz andere Nummer: Staatsmeistertitel, EM- und WM-Teilnahme, Siege und Topplatzierungen bei prestigeträchtigen internationalen Läufen und zuletzt Platz 8 beim CCC des UTMB-Finales. War das dein größter Erfolg?
UTMB ist schon was Besonderes. Top 10 war ich dort jetzt schon zum zweiten Mal, 2022 Zehnter beim OCC (57 km, 3500 hm), jetzt Achter beim CCC. Die UTMB-Finals sind die inoffizielle WM und von der Besetzung schon stark. Der 160 Kilometer lange UTMB ist mein großes Ziel – und für den wird die Zeit kommen. Aber die Frage nach dem größten Erfolg, die sehe ich immer mit ein bisschen gemischten Gefühlen. Die Staatsmeistertitel empfinde ich als ebenbürtig.
Was motiviert dich heute im Laufen?
Ich will wissen, wie weit man seinen Körper bringen kann. Ausgehend von dem, was ich vorher war, möchte ich erfahren, wie weit es geht. Es ist schon erstaunlich, was mit Disziplin möglich ist – denn es steckt natürlich Disziplin dahinter, ist mit Verzicht und Einschränkung verbunden. Das Laufen ist aber auch zum Entspannen ein ganz wichtiger Bestandteil meines Lebens. Es ist das Einfachste, du brauchst fast nichts dafür: Laufschuhe, raus, fertig. Traillaufen ist vielleicht ein bisschen aufwendiger, aber auf der Straße, auf Feldwegen brauchst du nur die Schuhe. Training ist für mich keine Belastung – ich freue mich auf jede Einheit.
Und was sind Wettkämpfe für dich?
Die sind das, wo ich noch einmal tiefer in meinen Körper reingehen, moch mehr aus mir rausholen kann. Wenn du im Rennen Probleme hast, musst du mental stark sein. Ich habe nicht nur gute Rennen, es kann auch richtig übel sein, wo es besser wäre auszusteigen. Aber da bin ich dann auch wieder zu stur. Beim CCC war es zuletzt aber ganz anders: 9 Stunden Runners High!
Wie stehen deine Familie, deine Kinder zu deinem Hobby Laufen? Denn du arbeitest ja auch Vollzeit, dementsprechend knapp müssen die Zeitressourcen sein ...
Stimmt. Ich habe drei Kinder, zwei mit meiner Frau und dazu eine 18-jährige Tochter. Wir haben auch einen Hund, eine Katze, sechs Hasen, fast einen Zoo daheim. Also Zeit ist wirklich nicht im Übermaß vorhanden. Bei den Kindern ist die Begeisterung ein bisschen abgeflaut, da ist es eher: „Muss er schon wieder laufen?“ Meine Frau ist dagegen begeistert. Wir gehen gemeinsam durch Höhen und Tiefen, auch wenn es nicht einfach ist. Unser Leben ist getaktet, Urlaube sind begrenzt und auf meine Laufteilnahmen ausgerichtet – das ist schon eine Challenge. Peter Leo ist mittlerweile ein Freund meiner ganzen Familie und stimmt sich auch mit meiner Frau ab: Er plant mein Training ganz nach meinem Leben.
Kannst du dir ein Leben ohne Laufen noch vorstellen?
Ich mache bewusst einmal pro Jahr eine Saisonpause, wo alles rund ums Laufen, auch Social Media, reduziert wird. Dann gibt es nur eine entspannende Zeit mit der Familie. Aber ganz ohne Laufen werde ich nervös. Generell möchte ich mit meiner Geschichte auch motivieren: Man hat diese Tiefs im Leben – und wenn man dann etwas findet, was zur Passion wird, kann einen das zu einem komplett neuen Horizont führen. Man kann sein Leben komplett ändern, wenn man will, und wenn man seine Ziele hartnäckig verfolgt, kann man sie auch erreichen.