Der in Bludenz (V) lebende Südtiroler Profikletterer Jacopo Larcher (31) hat ein „Kletterbuch nicht nur für Kletterer“ geschrieben: Wie eine Route und wie der Klettersport allgemein Spiegelbild des Lebens sein können.
Das Unmögliche ist etwas weiter oben“ heißt Larchers Buch. „Weiter oben also“ – oder: „etwas später“. Also gibt es einen Grund, es bis dahin nicht zu versuchen, nicht einfach. Und wenn man dann einmal so weit gekommen ist, auch über das (scheinbar) Unmögliche hinaus zu gelangen. Im März 2019 hat der Südtiroler die – nach Meinung von Insidern – weltweit vielleicht schwierigste „Trad-Kletterroute“ als Erster durchstiegen. Erklärung für Nichtkletterer: Im Trad-Klettern („traditionell“) werden nur mobile Sicherungen gesetzt, was die Schwierigkeit erhöht und eine mentale Herausforderung mit sich bringt, wenn man nicht völlig sicher sein kann, ob die Sicherung auch hält. Über sechs Jahre hinweg hat Larcher die 25 Meter lange, vor allem im oberen Bereich mit extremen Schwierigkeiten aufwartende Route „Tribe“ in Cadarese in den norditalienischen Wäldern immer wieder probiert. Unzählige Male ist er gescheitert. Um endlich am 22. März 2019 die Route zu durchsteigen. Die Route „Tribe“ bildet die Klammer des Kletterbuches – das eigentlich ein Buch übers Leben und über Werte wie Freiheit, Leidenschaft, Entwicklung, Beharrlichkeit und Sinn ist.
Jacopo, wann ist dir der Gedanke zu dem Buch gekommen: bevor oder nachdem du die „Tribe“-Route nach sechs Jahren schließlich geschafft hast?
Die Idee gab es schon früher und es sollte auch nicht ein Buch über „Tribe“ werden. Ich wollte meine Leidenschaft fürs Klettern und mein Leben als Kletterer beschreiben. Gerade als wir uns entschieden hatten, das Buch zu machen und ich zu schreiben begonnen habe, bin ich drei Wochen später tatsächlich Tribe geklettert. Da lag es natürlich auf der Hand, das im Buch zu verarbeiten.
Kannst du unseren Lesern, die viele keine Kletterer sind, kurz beschreiben, was für dich diese Route so besonders macht? Warum du dich in sie, wie es einmal heißt, verliebt hast?
Das ist eine recht schwierige Frage. Es war etwas, das für mich voll wichtig war und wo ich nicht sicher war, ob ich es schaffen kann. Aber bei dem ich wissen wollte, ob es möglich ist. Es war die erste Route, in die ich so viel Zeit investiert habe – warum ich das getan habe, kann ich bis heute nicht ganz erklären. Vielleicht hat mitgespielt, dass ich gleich zu Beginn meiner Trad-Kletterkarriere auf die Route gestoßen bin. Die Route ist dann jedesmal, wenn ich wiedergekommen bin, zu einem Spiegel meiner Fähigkeiten geworden. Sie hat mir immer gezeigt, dass ich wieder etwas dazugelernt habe. In meinem Leben ist stets viel passiert. Aber die Route war immer da. So habe ich diese Beziehung zu ihr aufgebaut.
Du wolltest der „Tribe“-Route keinen Schwierigkeitsgrad zuweisen. Warum?
Das stimmt. Ich wollte nicht, dass dieses Erlebnis nach sechs Jahren auf eine Nummer reduziert wird. Und ich war fast ein wenig enttäuscht, als eine der ersten Fragen, die mir danach gestellt wurde, war, welchen Schwierigkeitsgrad „Tribe“ meiner Meinung nach hätte. Ich meine, es geht im Klettern nicht nur um Performance. Alle meine Projekte sind wichtige Prozesse in meinem Leben und man kann so viel von all diesen Prozessen lernen. Das kann man nicht auf eine Zahl reduzieren.
Du beschreibst dich als schüchternes Kind, im Klettersport hast du Selbstbewusstsein und deine Leidenschaft gefunden. Was war es, das dich am Klettersport so fasziniert hat?
Die Kletterhalle in Bozen war mein Platz, wo ich mich sicher fühlen und lernen konnte. Und Klettern war mein Mittel, mich mit der Welt zu verbinden. Bis dahin hatte ich noch nicht wirklich meinen Weg gefunden. Beim Klettern habe mich von Beginn weg sicher und frei gefühlt, und die Möglichkeit gesehen, mich als Mensch weiterzuentwickeln.
Welche Bedeutung spielte Leistung in den frühen Kletterjahren für dich?
Nach zwei, drei Jahren habe ich begonnen, wirklich viel zu trainieren. Das machten damals nicht viele Kinder, ich war also viel allein am Trainieren. Mit den Wettkämpfen konnte ich meine Leidenschaft mit anderen teilen. Es ging mir nicht darum, besser oder schlechter als andere zu sein. Wettkampf habe ich auch immer nur als Kampf gegen mich und nicht gegen andere angesehen. Später hat sich der Aspekt Leistung ein wenig verschoben – insofern, als ich schwere Projekte nur für mich gemacht habe. Mit 20, 21 Jahren habe ich die Wettkämpfe sein gelassen: Ich bin schon so viel gereist, zu Weltcups, Europacups, und habe von den bereisten Ländern so wenig mitbekommen. Oft nicht mehr als den Flughafen und die Kletterhalle. Ich wollte aber auch reisen, um Länder und Kulturen kennenzulernen.
Ein entscheidender Punkt war, als du dich als Student für die unsichere Existenz als Profi entschieden hast. War diese Entscheidung für die Leidenschaft und gegen die Sicherheit schwierig? Hast du später einmal Zweifel gehabt, ob sie richtig war?
Am Anfang habe ich öfter gezweifelt. Klettern ist nicht Fußball, es gibt nicht so viel Geld zu verdienen und du hast manchmal Sorge, ob du mit dem Geld überhaupt bis zum Ende des Monats kommst. Für mich war aber das Klettern so wichtig. Mein Eltern haben mich meine Sache machen lassen, aber schon Sorge gehabt, schließlich war Klettern nicht gerade der bekannteste Sport.
Du appellierst, einer Leidenschaft zu folgen, auch wenn das Umfeld oder die Gesellschaft etwas anderes erwartet. Warum, glaubst du, wird das Ausleben von Leidenschaft oft gering geschätzt?
Es gibt so viele Menschen, die sich eigentlich wünschen, einer Leidenschaft zu folgen, aber sich nicht trauen. Oft geht es nur um den ersten Schritt. Aber ich weiß auch, dass das nicht leicht ist. Als junger Student war es für mich wahrscheinlich einfacher als für jemanden, der Familie oder ein Unternehmen hat, insofern muss man das auch relativieren. Aber ich glaube dennoch, dass man sich machmal zu viele Gedanken oder Sorgen macht. Warum es die Gesellschaft so wenig akzeptiert? Meiner Ansicht nach gibt es Gesellschaftsmuster, die sagen einem, dass man eine „normale“ Arbeit haben muss und die Leidenschaft etwas für nebenbei ist – was in Wahrheit wirklich schade ist.
Das Heraustreten aus deiner Komfortzone ist offensichtlich für dich bedeutend: Was motiviert dich dazu, nicht stehen zu bleiben und ständig nach Weiterentwicklung zu streben?
Für mich war es stets immens wichtig, immer etwas Neues zu machen. Es liegt meiner Ansicht nach in der Natur des Menschen, mehr zu wollen, wenn einem etwas zu leicht fällt. Wenn ich eine Route leicht schaffe, möchte ich eine etwas schwerere machen. Wenn ich überhaupt keine Angst mehr verspüre, dann brauche ich eine Herausforderung.
Welche Rolle spielen im Klettern deine Lebenspartnerin Babsi Zangerl, mit der du viele Unternehmungen gemeinsam machst, beziehungsweise andere Kletterpartner und generell Menschen für dich? Ist es auch hier wie oft im Leben: Nur gemeinsam kann man Großes erreichen?
Als ich zu klettern angefangen habe, war das etwas komplett anderes, da war ich am liebsten allein. Heute noch bin ich in einer Gruppe eher zurückhaltend. Aber es gibt einige Leute, mit denen ich täglich gern klettern gehe. Wenn ich zum Beispiel eine Route versuche und es hat niemand Zeit von den Leuten, die ich gern um mich habe, dann möchte ich nicht einfach mit irgendjemandem gehen, nur damit mich jemand sichert. Die Leidenschaft und schöne Momente beim Klettern zusammen zu erleben, ist jedoch etwas Wunderbares. Es kam vor, dass mir Routen plötzlich völlig anders erschienen, wenn ich sie mit einem Menschen geteilt habe. Meine Versuche an der Route in Cadarese haben über die Jahre hinweg eine Handvoll großartiger Menschen geteilt, deshalb habe ich sie auch „Tribe“ – „Stamm“ – genannt.
Was uns abschließend wieder zu „Tribe“ zurückbringt. Wenn man etwas über Jahre hinweg so hartnäckig versucht hat und es am Ende gelingt: Ist dann nur Freude? Oder steht auch die Frage im Raum: Was kann jetzt noch kommen?
Es war so ein schräges Gefühl, als ich die letzten Meter durchgestiegen bin – die großen Schwierigkeiten waren da ja schon vorbei. Plötzlich ziehen sechs Jahre in einer Sekunde vor dem geistigen Auge vorbei. Ich hab geschrien vor Freude. Am Abend war dann plötzlich etwas nicht mehr da, was sechs Jahre in meinem Kopf war – ich hatte in dieser Zeit tatsächlich jeden Tag in irgendeiner Weise an diese Route gedacht. Das war schon ein bitterer Beigeschmack. Ich habe ständig viele Routen im Kopf, die mich reizen, aber keine, die mich so beschäftigt wie Tribe. So etwas zu finden, ist extrem schwer – aber vielleicht passiert es ja wieder einmal!
Buch: „Das Unmögliche ist etwas weiter oben“, Egoth 2020, € 24,90
WEB: www.egoth.at