Viele Mythen und Methoden beschäftigen sich mit der Frage, was unser Körper vor und nach dem Sport an Hilfe braucht, um topfit zu sein. Die Rede ist vom richtigen Aufwärmen, Dehnen und Mobilisieren. Eines aber kann mit Sicherheit gesagt werden: Die meisten machen’s falsch!

Christoph Lamprecht


Ein bisschen ziehen, ein bisschen strecken und ab ins Work-out. Viele Hobbysportler wissen zwar vom Hörensagen, dass die richtige Vorbereitung aufs Training positive Effekte für die eigene Leistungsfähigkeit bringen sollte, Genaueres bleibt aber meist im Dunkeln. Dementsprechend sind oft auch die Effekte des lieblosen, weil unsachgemäßen Aufwärmens eher enden wollend. Auf der anderen Seite gibt es die Stretch-Fanatiker, die vor, während und nach dem Sport die Grenzen ihrer Beweglichkeit mit langem statischen Dehnen schmerzvoll ausreizen – und sich damit genauso wie die Dehnmuffel auf dem Holzweg befinden.

Was ist nun die richtige Art, den Körper auf die kommenden Belastungen vorzubereiten? Wie viel Beweglichkeit braucht man als Hobbyathlet, um sportliche Aufgaben bestmöglich und ohne Schmerzen meistern zu können? Die Antwort ist wie die Thematik an sich komplex und verlangt zwangsläufig nach der Gegenfrage, was denn nun der Anspruch des jeweiligen Sportlers ist.

Dass klassische Läufer nicht die selben Bewegungsmuster und -radien haben (müssen) wie beispielsweise Balletttänzer oder Kampfsportler liegt auf der Hand. Daraus ergeben sich beim Aufwärmen der Muskulatur, beim Mobilisieren der Gelenke, aber auch beim Dehnen insgesamt völlig andere Schwerpunkte. So ist es natürlich auch für den Läufer wichtig, Bewegungseinschränkungen bestmöglich entgegenzuwirken, um auf lange Sicht im ausreichenden Maße mobil und schmerzfrei zu bleiben. Allerdings geht es bei der Erhaltung von Beweglichkeit nicht zuletzt auch um einen passenden Ausgleich zur jeweils ausgeübten Sportart und weniger darum, Hobbysportlern undifferenziert Positionen wie den Spagat beizubringen.

DAS AUFWÄRMEN
Beim Aufwärmen wird, wie der Name schon verrät, die Körpertemperatur mittels Bewegung erhöht und die Durchblutung angekurbelt. Dies können fitte Personen mit lockerem Laufen (inklusive Anhocken, Anfersen etc. ), Seilspringen oder anderen Übungen leicht erreichen.

Als Sinn des Aufwärmens und Dehnens wird in der Sportwissenschaft vorrangig die Verletzungsprävention genannt, auch wenn die positiven Effekte bis heute nicht eindeutig bewiesen werden konnten. Dass eine erhöhte Bewegungsfähigkeit auch einer Vielzahl an Verletzungen vorbeugt, scheint zwar auf der Hand zu liegen, jedoch verletzen sich beim Sport bekanntermaßen eben nicht nur Athleten mit Bewegungsdefiziten, sondern auch gut gedehnte.

SPORTaktiv-Experte Mario Nerad, Personaltrainer von „Vibes Fitness“ in Graz, nennt noch einen wichtigen Aspekt des Aufwärmens, der von vielen übersehen wird: „Das Aufwärmen bedeutet auch das mentale Bereitmachen auf das, was folgt. Aufwärmen kann somit als Ritual verstanden werden und signalisiert dem Körper, dass es nun losgeht. Wer beim Sport mit den Gedanken ganz woanders ist, läuft selbst bei harmlosen Work-outs Gefahr sich wehzutun.“

DAS MOBILISIEREN
Auf die erste Aufwärmphase folgt das Mobilisieren – und zwar gezielt jener Bereiche, die dann beim Sport benötigt werden. Wer nach einem langen Arbeitstag mit einem steifen Nacken oder müden Handgelenken zu kämpfen hat, mobilisiert natürlich auch diese Körperstellen (bestenfalls nicht nur vor dem Training).

DAS DEHNEN
Ob vor einer Belastung gedehnt werden sollte, ist noch immer Mittelpunkt von Studien, die nicht immer zu einem eindeutigen Ergebnis kommen. Prinzipiell gilt: Dehnung vor der eigentlichen Anstrengung wird nur in Disziplinen empfohlen, in denen extreme Beweglichkeit Voraussetzung für den sportlichen Erfolg darstellen. So bringen etwa Turner beim Dehnen schon vor der eigentlichen Belastung die Gelenke in jene Endposition, in sie auch während des Wettkampfs einnehmen sollen. Für die meisten Hobbysportler empfiehlt es sich daher, sich vor dem Training oder Wettkampf aufs Mobilisieren zu konzentrieren und das Dehnen als eigene Trainingseinheit anzulegen. Zum Weiterlesen: Die 6 besten Dehnübungen für den Alltag.

Mit einem Mythos wollen wir hier auch aufräumen: Richtiges Dehnen hat keinen negativen Effekt aufs Krafttraining, wie oft behauptet wird. Entgegen der Praxis in vielen Fitnessstudios sollte man allerdings nicht den eben trainierten Muskel dehnen. Besonders dann nicht, wenn man bereits die durch hartes Training verursachte starke Durchblutung („Pump“) im entsprechenden Muskel spürt.

Vibes Fitness-Experte Mario Nerad empfiehlt sogar das Dehnen in Splits. „Soll heißen: Man dehnt niemals den gesamten Körper, sondern nur die Körperstellen, die beim Work-out nicht primär belastet werden.“

DEHNEN IST KEIN ALLHEILMITTEL
Muskelverkürzungen, Muskelkater oder gar kleinere Verletzungen „wegdehnen“ zu können, wie es auch oft herumgeistert, funktioniert sicher nicht. Das Dehnen ist keineswegs als Allheilmittel für schmerzhafte Bewegungseinschränkungen zu betrachten, sondern ist nur eines der Werkzeuge, die für den Erhalt beziehungsweise den Erwerb von funktioneller Beweglichkeit zum Einsatz kommt. „Entscheidend ist dabei die richtige Kombination von Mobilisierungs- und Dehnübungen“, sagt die international anerkannte Stretch-Spezialistin Karin Albrecht, „die aber je nach Person und deren Bedürfnissen sehr unterschiedlich ausfallen kann.“

Grundsätzlich bezeichnet die Schweizerin die Dehnung der Muskulatur sowohl im Sport als auch im Therapiebereich als sinnvoll und auch als notwendig, „um Beweglichkeit, Leistungsfähigkeit und Regeneration zu optimieren. Voraussetzung dafür ist allerdings das konkrete Wissen um körperliche Stärken und Defizite sowie die zielgerechte Anwendung von Dehnreizen, um nicht gar negative Effekte zu bewirken.“

ALLES EINE FRAGE DER ZEIT
Als einen der häufigsten Fehler, den Sportler in diesem Bereich immer wieder machen, bezeichnet Katrin Zunkovic von Vibes Fitness die Ungeduld. „Viele versuchen, etwas zu schnell zu erreichen. Beweglichkeit zu erlangen braucht aber Zeit und Disziplin.“ Was das konkret bedeutet, beschrieb Karin Albrecht in ihrem Standardwerk ‚Stretching und Beweglichkeit‘, in dem sie von einem Zeitraum von 360 bis 700 Tagen spricht, die das Bindegewebe benötigt, um sich an neue Längenanforderungen anzupassen. „Sollte sich nach 6 bis 9 Monaten konsequenten Dehnens keine positiven Effekte für die Beweglichkeit einstellen, empfiehlt es sich, sowohl Dehnanwendung als auch deren Ausführung sowie die betroffenen Muskeln und Gelenke erneut unter die Lupe zu nehmen.“

Dass für die Verbesserung der körperlichen Bewegungsradien zu allererst der Kopf geschult werden muss, klingt vielleicht komisch und ist den meisten Sportlern gar nicht bewusst. Als wichtigster Faktor für die individuelle Beweglichkeit wird in der heutigen Sportwissenschaft aber das Nervensystem gesehen.

Im Gehirn jedes Menschen entstehen durch die täglichen Bewegungsgewohnheiten neurale Muster, die die individuelle Beweglichkeit vorgeben. Einerseits muss das Gehirn Bewegungen erst erlernen, um sie optimal ausführen zu können, andererseits lässt der Körper nur diejenige exzentrische Verformung zu, die er bereits kennt. Der neurale Einfluss auf die Beweglichkeit wurde unter anderem auch dadurch bewiesen, dass Menschen unter Narkose – also ohne bewusste Steuerung – viel beweglicher waren als bei Bewusstsein. Der Dehnungsschmerz fungiert quasi als neuraler Stopp und soll signalisieren, dass man sich Bereichen nähert, in denen sich die entsprechende Körperstelle im Normalfall nicht befindet.

AUSGLEICH ZUM ALLTAG
Da Anpassungsprozesse kontinuierliches Mobilisieren, Dehnen und vor allem Zeit verlangen, sollte man sich darüber im Klaren sein, was man eigentlich erreichen will. So stellt sich für Fitness- und Hobbysportler die Frage, wie viel Beweglichkeit überhaupt notwendig ist, wenn keine schmerzenden Blockaden vorhanden sind. Katrin Zunkovic: „Jemand, der zweimal in der Woche für eine Stunde Sport betreibt, hat nicht denselben Beweglichkeitsanspruch wie ein professioneller Bodenturner. Dehnung und Mobilisation sollten im Hobbybereich vor allem als Ausgleich zum Alltag und zur betriebenen Sportart gesehen werden. Beispiel: Die meisten Büromenschen befinden sich tagsüber in einer Beugehaltung, der man am besten mit der Aktivierung der Streckmuskulatur&entgegenwirkt.“

Dass Regeneration heutzutage prinzipiell auf die Körperebene reduziert wird, wird von Stretching-Expertin Karin Albrecht stark kritisiert. Für sie ist Regeneration gleichbedeutend mit Entspannung und mit der Fähigkeit, sich erholen zu können. „Das sogenannte ‚Cooldown‘ ist als Gegenstück zum Aufwärmen sowohl für den Körper als auch für die Psyche sinnvoll. Übungen mit leichter Intensität oder gemütliches Auslaufen sorgen dafür, dass sich Körpertemperatur und Puls kontinuierlich senken und so dem Körper den Schock eines abrupten Stopps ersparen.“

DEHNEN ALS RITUAL
Im Dehnen nach dem Sport sieht Albrecht eine gute Möglichkeit, um aus der Leistungsbereitschaft (sympathischen Nervensystem) in die Entspannung (parasympathisches Nervensystem) zu wechseln. So fungiert das Nachdehnen als doppelt sinnvolles Ritual, das sowohl für Beweglichkeit als auch für mentale und vegetative Regeneration von Bedeutung ist.

Ob sich Nachdehnen nun als positiv oder negativ auf die Regeneration auswirkt, hängt aber selbstverständlich ebenfalls von der Ausführung ab: Soll die Erholungsfähigkeit des Körpers verbessert werden, muss so gedehnt werden, dass die Mikrorisse, die Muskelkater verursachen können und deren Reparatur zu Muskelwachstum führt, nicht weiter vergrößert werden. Zudem liegt der Sinn des Nachdehnens auch in der Anregung der Durchblutung. Aus diesem Grund dehnt man nach der Belastung bewegt- statisch oder intermittierend mit leichter, bestenfalls mittlerer Belastung.

Auch wenn die Komplexität des Themas viele Hobbysportler eher abschreckt – zusätzliche Beweglichkeit und Freiheit von Schmerzen sorgen gerade bei ihnen für ein gänzlich neues Körpergefühl. Versprochen.