Gernot Schweizer ist ­Fitness-Coach von Marcel Hirscher und treibt als Bewegungskoordinator die Kampagne „Mach den ersten Schritt“ an. Wo der passionierte Beweger den Hebel ansetzen will, damit aus dem ersten viele Schritte werden, wo wir als Gesellschaft Defizite haben und was der Schneeball damit zu tun hat.

Klaus Molidor
Klaus Molidor

Sie haben gesagt, Sie erkennen bei Ihren Klienten, wenn sie den Raum betreten, wo sie ihre Probleme haben. Woran krankt es denn bei mir?
Zu wenig Rumpf. Die linke Schulter ist verspannter als die rechte, dafür ist die rechte weiter hinaufgezogen. Sie haben einen Flachrücken in der Brustwirbelsäule und zu wenig Nackenmuskulatur.

Na bravo.
Keine Sorge. Ist alles nicht schlimm. Aber es ist die Folge einer sitzenden Tätigkeit. Zu wenig Ausgleich, zu wenig Schulterblattmuskulatur.

Bewegungscoach Gernot Schweizer im Interview mit Klaus Molidor von SPORTaktiv

Damit sich das ändert, treten Sie als Bewegungskoordinator an. Wie machen wir denn den ersten Schritt?
Wir bauen diese Website auf, mit 100 einfachen Übungen, die man sich anschauen und runterladen kann. Damit der Mensch wieder lernt sich selber zu spüren. Wo steht mein Gelenk, wo steht meine Wirbelsäule, wie ist meine richtige Haltung bei einer Übung? Wo sind meine Kniegelenkswinkel bei einem Squat? Denn falsch gemacht ist der Squat ein schlechter Squat. Dafür eignet sich ein Video perfekt. Mit geschlossenen Augen auf einem Bein stehen, auf einem  flexiblen Untergrund, das ist schwer. Aber in drei, vier Wochen kannst du dich da unglaublich verbessern. Bloß bleiben die Leute meistens nicht dran.

Eben. Erster Schritt gut und schön. Es gibt medialen Rückenwind, man kennt Sie, auch als Trainer von Marcel Hirscher. Aber wie bleib ich dran?
Wir sind dabei, mit der Sportstrategie Austria bundesweit die Vereine zu erreichen. Die Menschen sollen in den Verein gehen können und dort wirklich den ersten Schritt im Verein machen. Wir rechnen damit, dass von den 6000 Vereinen 1000 regional mitmachen werden. Die Leute sollen unter Anleitung guter Instruktoren beginnen, ohne beitreten oder einen Mitgliedsbeitrag zahlen zu müssen.

Sollte man die Bewegung nicht in den Arbeitsalltag integrieren und statt einer Mittags- eine Sportpause machen?
Ich hab das vor Jahren in Deutschland mit großen Firmen gemacht. Dieses asiatische Denken, Tai Qi in der Pause machen, das kommt in Europa nicht gut an. Weil wir eine Neid- und Eifersuchtsgesellschaft sind. Wenn du mit Kollegen Sport machst und besser bist, hat der andere vielleicht schon die Vermutung, dass das vom Unternehmen genutzt wird, um ein Ranking zu erstellen. Davor haben viele Menschen Angst. Viele sagen auch: Jetzt arbeite ich mit meinen Kollegen eh schon acht Stunden, da muss ich sie nicht beim Sport auch noch sehen.

Was halten Sie von Belohnungen, wenn man mit dem Rad oder zu Fuß in die Arbeit kommt?
Ich finde das teilweise traurig. Ein Mensch sollte sich mit seiner eigenen Bewegung selbst belohnen. Aber rein auf der ökologischen und gesundheitlichen Seite finde ich, das ist eine saugeile Sache. Diese Ideen haben wir auch schon im ersten Schritt, dass wir sagen: Unternehmer, finanziert euren Leuten so was. Oder Supermarktketten: Wer nicht mit dem Auto kommt, kriegt 2 oder 5 Prozent auf den Einkauf. Das ist nicht leicht zu kontrollieren. Aber die paar, die das ausnutzen und das Auto um die Ecke parken, die sollen den Bonus auch kriegen und daheim beim Essen ein schlechtes Gewissen haben.

Ein Mensch sollte sich mit seiner eigenen Bewegung selbst belohnen.

Gernot Schweizer, Fitnesstrainer & Bewegungskoordinator

Laufen boomt ja. Ist das der perfekte Einstieg? 
Es ist das Einfachste, weil man es überall machen kann. Für viele ist das aber das einzige Ventil zum Abschalten und sie werden süchtig. Vergessen dabei aber, dass laufen gelernt sein will. Da sind wir wieder beim Thema Rumpfstabilität. Da muss man aufpassen, dass die Dosierungen, die Verhältnisse vom Lauftraining im Verhältnis zur Leistungsfähigkeit des gesamten Körpersystems ausgewogen sind. Die Einseitigkeit ist das Problem. Der Rumpf und die Systeme müssen intelligent an die Sportart angepasst werden. Einfach nur zu laufen, ist zu wenig. Das gilt für alle Sportarten

Da kommt uns wieder die Leistungsgesellschaft in die Quere, die sagt: Du musst besser sein als der andere
Absolut. Es geht nur mehr um Leistung. Unsere Grundbewegungen oder der Grundsport, der der wertvollste ist, hat so stark an Wertigkeit verloren. Das flotte Spazierengehen, leichtes Joggen oder Wirbelsäulengymnastik daheim. Alles muss nur noch auf Leistungsniveau ablaufen. Deswegen: Marcel Hirscher gibt dem „Ersten Schritt“ Rückenwind, super. Aber: Er ist Profisportler und ich möchte nicht, dass sich die Menschen an so etwas orientieren. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Der Schaden ist aber bereits passiert. Heute haben 40-Jährige schon Rückenschmerzen.
Orthopädisch bedingte Rücken- oder Kopfschmerzen – das gab es zu meiner Zeit nicht. Ich kriege heute unfassbar viele Kinder mit Haltungsschäden, mit Migräne. Und die Trainer in den Vereinen sind überfordert. Die können nicht Haltungssport betreiben und Systeme entwickeln, die wir noch spielerisch auf der Straße entwickelt haben. Skateboard fahren, Rollschuh fahren, Rollhockey spielen, raufen, machen, tun. Es ist ja nicht nur so, dass den Kindern die Bewegung fehlt, sie wird ihnen oft sogar noch verboten. Schneeballschlacht im Schulhof? Verboten. Es könnte ja mal einer einen Ball auf den Schädel kriegen. Wir haben heute kein Vertrauen zu Kindern, zu Gesundheit. Man hat kein Vertrauen mehr in natürliche Entwicklung. Die Bewegung der Kinder wird im Keim erstickt. Wer nicht ruhig im Eck hockt, wird gleich als ADHS-Kind abgestempelt. Wir brauchen wieder eine viel höhere Akzeptanz Kindern, Kinderlärm und Kinderbewegung gegenüber. Das sind auch meine Aufgaben mit dem ersten Schritt, hier die Gesellschaft aufzurütteln. 

Der Rumpf und die Systeme müssen intelligent an die Sportart angepasst werden. Einfach nur zu laufen ist zu wenig.

Gernot Schweizer, Fitnesstrainer & Bewegungskoordinator

Ein Satz von Ihnen: Innere und äußere Haltung gehören zusammen.
Absolut. Ein Kind braucht Ventile. Ich hab erst kürzlich, als ich einen Termin im Ministerium hatte, gesehen, dass sie in einem Park Äste von Bäumen abgesägt haben, damit keine Kinder darauf herumklettern können. Ist doch wurscht, wenn ein paar Bäume untenrum kaputtgehen. Besser, als dass unsere Kinder kaputtgehen. Da pflanz ich doch in ein paar Jahren neue Bäume. Ein Kind muss mal wieder rumtoben dürfen, herumrennen, Spaß haben, es müssen sich bewegen dürfen, laut sein dürfen. Es gibt immer irgendwelche Stänkerer in der Gesellschaft, die versuchen, zu verhindern, dass sich Kinder überhaupt noch bewegen dürfen. 

Wenn sich im Kindergarten ein Kind den Arm dabei bricht, ist der Aufschrei groß und die Pädagogen bleiben mit den Kindern lieber drinnen.
Alle, die in der motorischen Erziehung arbeiten, haben schon fast Ängste, versicherungstechnisch. Natürlich kann sich ein Kind auf der Wiese einen Bänderriss holen oder den Fuß brechen, wenn’s dumm läuft. Aber je weniger ich die Kinder bewege, desto mehr solcher Unfälle werde ich haben. So und wenn ich jetzt noch Trainer, Erzieher, Lehrer für alles, was die Kinder machen, in die Verantwortung nehme oder für alles, was auch im Sportunterricht wieder gemacht gehört, dann wird kein Pädagoge mehr seinen Kopf hinhalten für unser gesellschaftliches Drama. Das ist eins der größten Probleme. Da muss politisch was passieren. Lehrer brauchen mehr Rechte, mehr Versicherungsschutz und Eltern mehr Aufklärung.

Wie groß ist die Gefahr, dass die „Mach den ersten Schritt“-Kampagne nach den nächsten Wahlen wieder im Sand verläuft?
Vorweg: Ich bin als Experte engagiert worden, nicht wegen eines Parteibuchs. Die Regierung hat erkannt, dass es gesellschaftlich so nicht weitergehen kann. Das beeindruckt mich. Denn die Kosten im Sozialversicherungswesen werden explodieren, das tun sie ja jetzt schon. Und wer hat dann das Recht von den Kosten zu profitieren und wer nicht? Also besser, man geht ganz schnell in die Prävention, um nicht zum Richter für Gesundheit werden zu müssen. Da gehen wir in ein ethisches Desaster. Wir brauchen gesunde Menschen und wir sind finanziell auf Dauer nicht in der Lage, Systeme zu erhalten, wie sie derzeit im Sozialversicherungswesen laufen, wenn wir jetzt nicht in der Prävention und gesellschaftlich in der Erziehung von Kindern vom Kindergarten bis zur Schule ganz schnell was verändern. Selbst wenn es zu einem Regierungswechsel kommt – hier kann keiner mehr aus. Was wir nicht vorhaben: so etwas in Gang zu setzen und dann aufhören – wie es schon oft passiert ist. Ich werde nicht aufgeben. Dafür bin ich zu viel Visionär. 

Sagen Sie mir abschließend drei Übungen, die ich machen sollte.
Das kann man so nicht sagen, weil jeder anders ist. Ich kann nur global sagen: Rumpf trainieren.  Immer Rumpf, oberstes Gesetz. Zweites Gesetz: Nacken-SchulterBereich, in jedem Beruf. Drittes Gesetz: Herz-Kreislauf-System trainieren. Und das vierte ist das neuromuskuläre Training, das Visualisieren, Brain Kinetic. Balancieren mit Jonglieren, kopfrechnen, Englisch lernen und dabei balancieren. Da kommt ganz viel zu auf uns in dem Bereich, das wird ein ganz großes Thema. Im Spitzensport wie im Alltagssport, wie im Schulsport – in allen Bereichen der Bewegungserziehung wird das ein Zukunftsthema. Unglaublich, was da für faszinierende Dinge passieren.

Die Kampagne:
Sozial- und Sportministerium haben in einer Zusammenarbeit die Kampagne auf die Beine gestellt. Ziel und Antrieb dahinter: Menschen zur Bewegung animieren. Laut Empfehlung der WHO soll man sich 150 Minuten pro Woche regelmäßig bewegen. Zusätzlich zu kurzen Videos, in denen eine Fülle an Übungen erklärt und vorgezeigt werden, gibt es auch Empfehlungen zur richtigen Balance beim Essen. „Möglichst viele Leute sollen möglichst lange ohne gesundheitliche Probleme leben können“, erklärt Sportminister Heinz-Christian Strache die Kampagne.

Gernot Schweizer
Gernot Schweizer

ist Fitnesstrainer und Bewegungskoordinator der Bundes­regierung. Der gebürtige Deutsche trainiert unter anderen mit Ski-Weltcup-Seriensieger Marcel Hirscher.

Web: www.teamschweizer.at