Läufe, länger als ein Marathon, werden immer populärer. Aber warum eigentlich? Was ist der Reiz an der Strapaz im XXL-Format? Klaus Höfler, seit mehreren Jahren unser SPORTaktiv-„Mann fürs Grobe", macht sich Gedanken über ein selbsterlebtes Faszinosum, für das man nicht zwingend verrückt sein muss. Aber es hilft ...

Von Klaus Höfler


Irgendwann möchte man es einfach wissen. Geht es dahinter weiter? Wenn ja, wie lange? Und wie fühlt sich das an? Ist man dann alleine oder gibt es dort auch anderes menschliches Leben? Kurzum: Was kommt nach der Ziellinie eines Marathons? Hört die Welt des Laufens tatsächlich nach ohnehin ziemlich langen 42.195 Metern auf?

Alles Fragen, die man sich nicht stellen muss. Tut man es dennoch, hat er einen schon infiziert – der Virus „Ultralauf". Manche entwickeln rasch ausreichend Abwehrkräfte und sind schnell wieder geheilt. Andere werden voll erwischt, nicht selten bildet sich ein suchtähnliches Verhalten nach „Ultras" aus. Was klingt wie ein Fanklub aus der Südkurve eines Fußballstadions sind in Wahrheit Wettrennen, die zwar unterschiedliche Erscheinungsformen, aber eine gemeinsame Eigenschaft haben: Sie sind immer länger als die klassische Marathondistanz. 50 Kilometer am Asphalt, 100 Kilometer als Trailrun querfeldein, 12 Stunden von A nach B, 24 Stunden auf einem kleinen Rundkurs im Kreis: alles ist möglich. Alles gibt es auch schon irgendwo. Aber ist das alles nicht – sagen wir es höflich – vollkommen verrückt?

LANGE ANREISE, LANGER LAUF
Es fällt schwer, Außenstehende von einem „Nein" zu überzeugen. Wahrscheinlich weil der Vorwurf nicht einmal ganz falsch ist. Man muss nicht völlig verrückt sein – aber es hilft. Weil damit das rationale Denken ausgebremst wird. Oder ist es vernünftig, sich als Erstversuch für so eine Expedition in sportliches Neuland gleich einen 80-km-Lauf durch die Schweizer Bergwelt auszusuchen? Eben!

Ich habe es trotzdem getan. Die auch angebotene 21-km-Distanz schien mir in keiner Relation zur Anreisezeit zu stehen, auch die 42 km versprühten zu wenig Herausforderung. Also 80. Das hatte nichts mit sattem Selbstbewusstsein zu tun, sondern mit absoluter Ahnungslosigkeit, was mich da erwartet. Der Mensch wächst ja mit der Herausforderung, sagt man.

Ich kam mir damals eher geschrumpft vor. Vor allem kräftemäßig. Nachdem mich die zahllosen Anstiege und Abhänge so richtig zerkaut hatten, schien mich die Landschaft einfach zu verschlucken. Die meiste Zeit hetzte ich alleine über verlassene Trails, hantelte mich von Checkpoint zu Checkpoint, von denen nicht wenige hoch oben auf Passkanten oder neben Gipfelstationen lagen, stolperte durch die aufziehende Nacht dem Lichtkegel meiner Stirnlampe nach und war nach der Halbzeit eigentlich schon ausreichend „paniert". Mit leichten Zweifeln über mein Tun passierte ich die Grenzstation zwischen der davor schon mehrmals auf konservative Art bei Straßenläufen absolvierten Marathondistanz und einer lauftechnischen Terra incognita, dem unbekannten Land der „Ultras". Und ich gebe zu: Genuss waren die letzten Kilometer keiner mehr.

Warum ich mich seither trotzdem immer wieder für einen „Langen" anmelde? Gute Frage! Man muss nicht die Fähigkeit zur Verdrängung der Qualen und Überhöhung der schönen Momente besitzen – aber es hilft. Ein normaler Marathon ist ja ab Kilometer 37 auch nur selten mehr wirklicher Genuss. Aber die Gänsehaut beim Zieleinlauf, die stolze Freude über die eigene Leistung, das Erreichen eines selbstgesteckten Ziels – all diese Abfallprodukte der Erschöpfung liefern ausreichend Gründe zur sportlichen Wiederbetätigung.

DIE „GESUNDHEITSFRAGE"
Bei „Ultras" ist das nicht anders. Im Gegenteil. Es ist noch ausgeprägter. Der Glückshormonspiegel scheint direkt proportional mit zunehmender Größe der Herausforderung zu steigen. Verrückt? Wahrscheinlich. Gesund? Eher nicht. Zumindest der Wettkampf an sich ist es nicht. Anhand von Blutwerten lässt sich nachweisen, dass die Beinmuskulatur unter derartigen Extrembelastungen massiv leidet. Umso wichtiger ist eine gute Abstimmung der Belastungs- und Regenrationszeiten. Nicht erst rund um ein Rennen, sondern während der gesamten Vorbereitung. Der auf Zeitbudget, Ziele und physischen Zustand angepasste Trainingplan, die regelmäßige Bewegung in der Natur und die bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper ist es, die „Ultras" wie jeden regelmäßig ausgeübten Sport zumindest nicht ungesund machen.

DIE TRAININGSGRUNDLAGE
An dieser Stelle wird die Ausübung des Hobbys schnell zur Glaubensfrage: Strenges Korsett eines über Wochen generalstabsmäßig strukturierten Trainingskonzepts oder eher Je-nach-Lust-und-Laune-Freestyleprogramm? „Wie es Euch gefällt" könnte man mit Shakespeare antworten. Klar: Ein den Weisheiten der Sportwissenschaft folgendes Modell führt mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit zum Erfolg. Gute Trainer wissen ganz genau, wie man Tempohärte und Motorik verbessert, eine höhere Laktattoleranz und einen effizienteren Energiestoffwechsel erreicht und dabei die anaerobe Schwelle Richtung mehr Leistungsfähigkeit schraubt. Man muss sich zwar nicht durch diverse Spielarten von Intervallläufen und Abfolgen genau gesetzter Belastungsreize mühen, um wirklich schneller zu werden – aber es hilft.

Wobei der individuelle Sportlerkörper der nach Allgemeingültigkeit strebenden Wissenschaft eh dann und wann einen Knoten ins Erfolgs­strickmuster knüpft. Weil nämlich die regenerativen und aufbauenden Prozesse je nach Person unterschiedlich lange dauern können. So regenerieren sich die Energiespeicher für gewöhnlich schon nach wenigen Tagen, Veränderungen in der Muskulatur benötigen dagegen länger, und die Gelenksbänder benötigen noch deutlich größere Zeitspannen.

Also doch so laufen, wie es einem gerade einfällt und worauf der Körper Lust hat? Das kann für Halbmarathons reichen, alles darüberhinaus macht mit diesem Konzept wohl sehr schnell keinen Spaß, weil man wichtige Grundlagen nicht aufbaut und keine Geschwindigkeit entwickelt. Auch Ultraläufer brauchen nämlich Tempotrainings. Wer schneller auf den ganz langen Strecken unterwegs sein will, muss zunächst auf den Kurzstrecken sein Leistungsvermögen verbessern.

WAS HEISST „FETZENPECKT"?
Man muss ja nicht gleich Christian Schiesters Motto „Quäle deinen Körper bevor er dich quält" folgen – aber es hilft (in manchen Momenten der faulen Lustlosigkeit). Schiester gilt als einer der erfolgreichsten Ultramaniaks der Szene. Der Steirer lief 200 Kilometer-Läufe durch verschiedene Wüstengebiete der Erde, durch Urwälder und selbst in der Antarktis absolvierte er schon einen „Ultra". Er stillte damit immer wieder sein Bedürfnis, seine physischen und psychischen Grenzen auszuloten, machte daraus ein Lebenskonzept, das keinen Platz fürs Aufgeben lässt.

Wie es einem geht und wie es weitergeht, wenn eigentlich nichts mehr geht – für dieses Gefühl führt Schiester den lautmalerisch schönen wie semantisch treffenden Dialektausdruck „fetzenpeckt" im Sprachrepertoire. Es klingt so, wie es sich anfühlt, wenn nach 40 Kilometern und 3.000 Höhenmetern noch 600 weitere auf den letzten zehn Kilometern warten und man eigentlich keinen Meter mehr gehen, geschweige denn laufen will.

DAS GEMEINSCHAFTSGEFÜHL
In solchen Momenten entfaltet die Ultra-Community ihre ganz eigene Qualität (für die ich nur beim ersten derartigen Lauf in den Schweizer Bergen aufgrund hochgradiger Überforderung keine Antennen hatte). Denn anders als bei gutgebuchten Stadtmarathons fehlt zwar Publikum entlang der Strecke, dafür herrscht eine Stimmung unter den Sportlern, die man bei hektischen Massenveranstaltungen, in denen man in der Anonymität versinkt, so nur sehr selten erfährt. Man läuft zusammen, feuert sich gegenseitig an, geht zusammen, steht zusammen, gönnt sich zusammen die Zeit, für Fotostopps in meist traumhaften Landschaften. In diesen Gastspielen von Gemütlichkeit liegt einer der magnetischen Reize der ausgedehnten Strapaz.

(FAST) KEIN ZEITDRUCK
Durch ihre räumliche Ausdehung fällt auf Ultraläufen der Zeitdruck weg. „800 oder 1.500 Meter-Läufe sind mir zu stressig, da muss man auf Knopfdruck funktionieren und jeder Schritt muss passen", sagt beispielsweise Florian Neuschwander. „Bei einem 50- oder 60-Kilometer-Lauf dagegen kann schon einmal ein Kilometer nicht so gut sein und es ist egal."

Bei Neuschwander ist das mit dem weniger gut laufen freilich relativ. Beim Wings for Life-Worldrun rannte er dieses Jahr über 80 Kilometer und unter die besten zehn weltweit. Der Deutsche kommt zwar von der Bahn, hat sich aber als Langstreckenläufer, der sich noch dazu sehr geschickt als cooler Skatertyp in Laufschuhen vermarktet, in der Szene einen Namen gemacht. Um zu wissen, was da nach einem Marathon eigentlich kommt, muss man es ja nicht wie er machen – aber es hilft vielleicht. Er ist einst für einen Kurzbesuch zu seiner Mutter nach Hause gelaufen. Sie hat über 100 Kilometer entfernt gewohnt.

Klaus Höfler / Bild: Sportograf

Unser Mann fürs Grobe
KLAUS HÖFLER ist Redakteur der Kleinen Zeitung und als Vollblut­sportler bei SPORT­aktiv „der Mann fürs Grobe". In den vergangenen Jahren nahm er an zahlreichen Ultraläufen genauso wie an anderen Extremveranstaltungen teil – etwa dem Swiss Irontrail, dem Transylvania Ultra, 24-Stunden-Wanderungen ­u. v. m. Oder zuletzt beim ­„Sciacchetrail" an der ligurischen Küste – wie in der Story Live dabei: Sciacchetrail - Trailrunning an der Küste Liguriensnachzulesen.



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