Egal, wo diskutiert wird, Darco Cazin ist in Sachen Mountainbike-Tourismus der Mann der Stunde. Der Schweizer ist Destinationen-Entwickler, kennt fast jeden Winkel in den Alpen und warnt vor einer selbstverliebten Szene der Freaks.
Darco, Sie werden als Bike-Visionär bezeichnet. Wie kamen Sie mit dem Thema Mountainbike überhaupt in Berührung?
Ich bin kein gelernter Mountainbiker und im Nebental des Engadin mit dem Tourismus aufgewachsen wie jedes Kind in den Alpen. Meine Eltern waren keine Touristiker. Aber meine Mutter erfüllte sich ums Jahr 2000 einen Jugendtraum und hat im Münstertal ein altes Hotel übernommen. Das Dach war kaputt, für die Gäste mussten wir uns was überlegen. Ich hab während des Studiums begonnen, Mountainbike-Touren zu führen. Reschenpass, Nauders, Engadin, Livigno. Das war mein Einstieg und im dritten Jahr war das Hotel voll. Schon damals habe ich erkannt, welches Potenzial im Biken steckt und was noch fehlt.
Was hat gefehlt?
Damals gab es eine Rennszene, viele Marathons und ein paar Downhill-Parks, aber die Tourismus-Destinationen haben das nicht verstanden. Und sie haben das Thema Mountainbike unterschätzt. Fast nirgends gab es befahrbare Singletrails.
Das Thema Mountainbike boomte erstmals in den 90er-Jahren. Woher kommt jetzt der neue Hype?
Die Bewegung ist so stark wie noch nie. Langsam sickern die Argumente durch, die schon lange bekannt sind: Der Sommer wird in den Alpen wichtiger, der Winter ist rückläufig. Das Thema Mountainbike ist eine Riesenchance für die Zukunft. Wobei im Gesamtkontext des Tourismus das Biken noch nicht mit Nachdruck betrieben wird, der Anteil ist gering. Und ich betone bei der Gelegenheit, dass ich nicht gegen den Wintersport bin.
Wie viel trägt das E-Mountainbike zum aktuellen Boom bei?
Das E-Mountainbike ist keine direkte Ableitung vom Mountainbike, sondern ein Aspekt der allgemeinen Mobilität. Die Städte überschlagen sich ja fast im Wettstreit um den Titel Fahrradstadt, überall werden Radwege gebaut. Das E-Mountainbike ist ein Teil davon. Wir profitieren von Strömungen, die größer sind als das Mountainbiken selbst.
Sie sind Destinationen-Entwickler. Wie darf man sich das vorstellen?
Wir entwickeln mit Allegra Tourismus das Mountainbike-Angebot für Destinationen, damit sie für Biker attraktiv sind. Wir kümmern uns um Trail-Entwicklung, Services und Identität, unsere drei Schlagworte. Wir bilden Guides aus, planen das Ticketing, kümmern uns um interne und externe Vermarktung. Die Arbeit an den Trails draußen ist der sichtbare Teil, aber wir sitzen viel in Besprechungen, diskutieren über Naturverträglichkeit, Prozesse der Raumentwicklung und Politik. Dieses Package bieten nur wir. Allerdings sind wir auch eine sehr kleine Firma und es wird spannend, wenn die großen Skigebiete-Entwickler und Tourismus-Macher in den Bike-Markt einsteigen.
Wie könnt ihr das Marktpotenzial abschätzen?
Wir nehmen einen Ort, schlagen auf der Karte einen Radius und schauen, welches Einzugsgebiet, welche Städte und wie viele Menschen wir haben. Dann schauen wir, wie mobil die Menschen dort sind. Der Schweizer ist konservativ, der Deutsche fährt für einen Tagesausflug 150 bis 200 Kilometer. Dann schauen wir, welches Konkurrenzangebot es gibt und was ich selber anbiete. Für einen Tag, für ein Wochenende, für eine Woche. Was brauche ich an Umsatz, Logis, Gastronomie? Und dann kann ich Marktpotenzial und Investitionskosten abschätzen. Lohnen sich 100.000 Euro? Lohnt sich eine Million?
Was sind eure größten Projekte?
In Graubünden entwickeln wir die Grundlagen fürs E-Mountainbiken für alle Destinationen, das größte Bauprojekt ist die Bike Republic Sölden, und dann gibt es überregionale Projekte in verschiedenen Kantonen der Schweiz.
Ich sehe nicht ein, dass Mountainbiker ausgeschlossen sind, wo es andere Naturnutzer nicht sind.
Kann man Mountainbike-Tourismus überall etablieren?
Nein, ein paar Einschränkungen gibt es. Manche Regionen sind einfach zu alpin, zu steil und ausgesetzt, die Saison ist dort zu kurz fürs Biken. Manche haben keine touristische Infrastruktur.
Auffallend oft loben Sie bei Vorträgen die im Vergleich bescheiden kleinen Wexl-Trails im niederösterreichischen St. Corona am Wechsel. Warum?
Die Macher der Wexl Trails waren im Alpenraum die Ersten, die sich getraut haben, ganz unterschwellige und einfache Angebote für Biker zu machen. Das ist die Zukunft. Der Markt braucht genau solche Angebote, damit er wachsen kann. Sonst ist die Einstiegshürde zu hoch. Wir wünschen uns noch ganz viele St. Coronas.
Noch immer verstehen viele im Tourismus das Biken nicht und bieten kilometerlange fade Forststraßen statt attraktiver Trails an. Wann wird sich das ändern?
Wir sehen jetzt mehr Verständnis für Singletrails und dort liegt ja das Potenzial: Trails mit niedriger Einstiegsschwelle. Es wird immer noch nicht verstanden, was da in den Alpen brachliegt. Die vielen alten Militärpfade, ehemalige Schmugglertrails in den Grenzgebieten, alte Pilgerwege – das ist eine ideale Wegestruktur, die man gar nicht bauen muss, sondern die nur richtig instand gesetzt werden muss. In den Alpen liegt eine perfekte Sportinfrastruktur einfach brach. In den Köpfen ändert sich das gerade ein bisschen. Vielleicht gibt es einfach noch zu wenig gute Beispiele.
Wie zum Beispiel?
St. Corona ist extrem stimmig. Sölden weiß genau, was es sein will und was nicht. Und Graubünden ist für mich best practice in puncto Nachhaltigkeit. Bei den Bikehotels ist Südtirol führend.
In Österreich wird schon ewig wegen der Öffnung der Forststraßen und Wanderwege für Mountainbiker diskutiert. Würde das der Gesamtsituation helfen oder wäre es kontraproduktiv?
Eine schwierige Frage, ich kenne die Situation in Österreich gut. Welche Ausstrahlung hat das Verbot auf den Biker, wenn er sich nicht frei bewegen darf? Und man darf in Österreich nicht unterschätzen, wenn ein Deutscher sagt, hoppla, da bin ich ja gar nicht willkommen. Er wird andere Angebote im Ausland finden. Ich sehe nicht ein, dass Mountainbiker ausgeschlossen sind, wo es andere Naturnutzer nicht sind.
Beim Radsymposium in Kärnten haben Sie den Begriff der „Zeit-Optimierung“ als Schlüssel verwendet. Warum?
Es ist ein soziales Phänomen: Wir lieben alles, was uns hilft, Zeit einzusparen, weil unsere Zeit so wertvoll ist. Im Sport wollen wir das Gleiche. Drei-Minuten-Yoga. Sieben-Minuten-Fitness. Möglichst viel in kurzer Zeit. Deshalb nutzen wir Guides, die uns die Berge zeigen. Deshalb nutzen wir E-Bikes, damit wir schneller höher hinaufkommen. Deshalb gibt es die Bergbahnen für Skifahrer, sie optimieren unsere Zeit. Ob uns das als Gesellschaft an sich entspannter und ruhiger macht, steht auf einem anderen Blatt.
In welche Richtung wird sich der Mountainbike-Tourismus in den nächsten Jahren entwickeln und was ist dringend zu tun?
In den nächsten fünf Jahren werden noch sehr viele neue Destinationen entstehen. Danach wird eine Konsolidierung eintreten, ein paar große Player setzen sich durch. Das Potenzial in den Alpen ist unheimlich groß, aber es muss gelingen, nicht nur den Biker im Bike-Trikot anzusprechen, sondern auch den Sportler im normalen T-Shirt. Bike-Gründer Uli Stanciu warnt immer vor der „Arroganz der Elite“, das Mountainbiken darf nicht zu freakig und szenig sein, sondern muss offen sein für alle. Wenn das gelingt, wird es in den nächsten zehn Jahren weiteres Wachstum geben. 20 Prozent Marktanteil am Sommertourismus sind eine schöne und realistische Vision. Wenn das nicht gelingt, kann auch alles wieder zusammenbrechen. Denn eines ist klar: So etabliert ist das Mountainbiken am Markt nicht, dass es nicht auch ohne gehen kann.