Spaß im Gelände, Spaß auf der Straße – und das mit ein und demselben Rad. Geht nicht? Geht doch. Ausritte auf der eierlegenden Wollmilchsau der muskelbetriebenen Zweiräder treten den Wahrheitsbeweis dafür an.
Ich gestehe, ich bin verliebt in einen Kompromiss. Dass das möglich sein kann, hätte ich vor wenigen Monaten auch nicht gedacht. Denn prinzipiell orientiert man sich auch bei der Auswahl seiner Sportgeräte doch am Optimum. Und nicht an einer Schnittmenge, deren ureigenste Natur es ist, eben nicht diese optimale Lösung zu sein. Damals hatte ich allerdings noch keinen Crosser („Querfeldeinrad“), meine neue eierlegende Wollmilchsau, die nur als flüchtige Winterromanze gedacht war. Meine neue „Liebe“ erreichte mich in einem Karton. Einem großen, braunen Karton aus Belgien und nach rascher Endmontage stand sie endlich da. Es war aber nicht die Liebe auf den ersten Blick, denn im Vergleich zu meinem schlichten und eleganten Rennrad derselben Marke wirkte der Crosser auf den ersten Blick mit seinem Aluminiumrahmen, den Scheibenbremsen und vor allem den 33 Millimeter breiten Stollenreifen wie ein massiver Geländewagen.
Wenige Wochen zuvor habe ich meinen Crosser bestellt. Ich wollte ein Rad für den Winter, nichts aufregend Aufregendes. Einfach ein stabiles, unverwüstliches Gerät, mit dem ich auf der Straße und auch im einfachen Gelände trainieren kann, ohne um meinen Renner „Angst“ haben zu müssen. Denn, obwohl ich ein Freund von Walze und Zwift bin, wollte ich auch in der kalten Jahreszeit wieder raus an die frische Luft und dabei wenn möglich von den viel befahrenen Straßen runter. Denn mit den kürzer werdenden Tagen wird auch der Platz auf der Straße (gefühlt) weniger und die Gefahr immer größer, bei der diesigen Witterung übersehen zu werden – Reflektoren und Lichter hin oder her. Und außerdem: Wenn Mathieu van der Poel, der neue Shootingstar auf der World Tour, sich im Winter mit Cyclocrossrennen scharf macht, wird es einer Hobbette wie mir bestimmt auch nicht schaden.
Es mussten vor dem Kauf aber zwei grundlegende Entscheidungen getroffen werden. Die erste: Cyclocrosser oder Gravelbike? Der Übergang zwischen den beiden Typen ist zwar fließend, doch sind Gravelbikes von der Auslegung eher für lange (komfortablere) Fahrten auf Schotterpisten konzipiert. Ich war aber auf der Suche nach einem Sportgerät, das in puncto Agilität und Lenkverhalten meinem Straßenrad ähnelt und mit dem ich mir kurz so richtig einschenken kann, sprich ein bis zwei Stunden hart trainieren. Länger macht es mir im Winter auch mit gutem Gewand selten richtig viel Spaß. Daher habe ich mich für den eher aggressiver ausgelegten Crosser entschieden, denn seine Geometrie ist der meines Rennrades nach ein paar Adaptierungen (Vorbau, Sattelstütze) sehr ähnlich, wenngleich etwa das Oberrohr kürzer ist. Blieb nur noch zu entscheiden, ob ein oder zwei Kettenblätter. Wiewohl die moderne einfache Kurbel cooler und auch leichter ist, sprach ein Fakt für die „klassische“ Variante mit zwei Kettenblättern: Sowohl bergauf (vor allem im Gelände bei einem schweren Fahrer, wie ich es bin) als auch bei höherem Tempo auf der Straße würden mir irgendwann schlichtweg die Gänge ausgehen. Darum fiel die Wahl auf 46/36 und 11/32 in solider und robuster FSA-Shimano- 105-Variante.
Die Entscheidungen stellten sich schon bei der ersten Ausfahrt als richtig heraus. Der Premierenritt auf dem neuen Gaul wurde gleich zum ersten Härtetest, inklusive eines leichten Singletrails versteht sich. Denn so ein Rad forderte eines als Allererstes heraus: Das Kind im Mann und das ist erst zufrieden, wenn es irgendwann irgendwo vollkommen dreckig auf dem Boden liegt und das Rad möglichst ein paar Meter weiter. (Leichte) Singletrails sind mit diesen Rädern durchaus fahrbar, der Spaß hält sich im Gegensatz zu einfacherem Terrain wie Schotterpisten oder Waldwegen mit Wurzeln und Schlamm aber relativ in Grenzen. Es ist aufgrund der fehlenden Dämpfung und des schmalen Rennradlenkers eher mühsam, wenngleich auch lehrreich. Wo mit wir bei einem Extrabonus für das Straßenrad sind: Durch das Fahren auf losem Untergrund und in schwierigen Situationen verbessert sich das Handling mit dem Rad merklich und man kann die Grenzen des Fahrbaren besser ausloten.
Das Kind im Mann ist erst zufrieden, wenn es dreckig auf dem Boden liegt und das Rad möglichst ein paar Meter weiter.
Balancieren, schnelles Ein-Aus-Klicken, Kurven lesen und fahren, springen – beim Crossen und auch Graveln werden zahlreiche Fähigkeiten geschärft. Und nicht nur das, es ist obendrein ein Freibrief, sich und das Rad von oben bis unten richtig fein einzusauen. Je dreckiger, desto besser. Weshalb es sich auch immer empfiehlt, vor der Ausfahrt ein, zwei Euro für die Waschstraße einzustecken.
Ein Mal habe ich für die Reinigung von Rad (und mir selbst) sogar zum Feuerwehrschlauch gegriffen, so dick war die Schicht aus Gatsch, Sand und Laub. Obwohl ich es nie vorhatte, ein Rennen zu fahren, habe ich mich bei der ersten Möglichkeit dafür angemeldet. Die Inkubationszeit mit dem Cross-Virus ist offenbar minimal und es war einfach nur großartig: 40 Minuten Vollgas mit Tragepassagen, Matsch, kurzen Rampen, Querfahrten und allen möglichen Hindernissen wurden serviert.
Dabei herausgekommen ist ein Durchschnittspuls von 172 Schlägen, zwei Stürze, ein aufgeschlagenes Knie, überall Sand und Dreck und ein Spaß auf dem Rad, wie ich ihn in dieser Form noch nie hatte. Dabei ist Cyclocross keine neue Erfindung, sondern die Renaissance des eigentlichen Querfeldeinfahrens. Rund um die vorletzte Jahrhundertwende haben sich Fahrer mit Rennen zwischen zwei Orten von Kirchturm zu Kirchturm in Form gebracht und die Wahl der Strecke war frei. Meist wurde dabei die Direkte durch das Gemüse gewählt. Vor allem in den Niederlanden und Belgien ist Cyclocross eine der Top- Wintersportarten und die Saison endet meist im Februar. Mit meiner Leistung hätte ich mir in Belgien aber eher eine Bierdusche als Applaus von den Zusehern abgeholt.
So fein die Traktion des Stollenreifens mit seinem groben Profil im Gelände auch ist, auf der Straße rollt er nicht wirklich fein ab. Aus diesem Grund habe ich mir für das reine Training auf Asphalt einen zweiten Satz Laufräder gegönnt und mit breiten Rennradreifen samt leichtem Regenprofil ausgerüstet. So spare ich mir das lästige Ummontieren der Mäntel und kann das Rad mit wenigen Handgriffen den Trainingsgelüsten anpassen. Vor allem bei feuchter Straße vermitteln die breiteren Reifen ein gutes Gefühl und durch den geringeren Druck in den Reifen werden Unebenheiten wesentlich besser „geschluckt“ als auf dem Rennrad. Nicht nur darum ist es sicher auch eine gute Option für (Rennrad-)Einsteiger, die sich auch vom Verkehr fernhalten wollen. Meist bleiben bei mir aber die „Groben“ montiert und es geht in den Wald zum kompromisslosen „Ballern“. Und meine Saison endet sicher nicht im Februar.