Diese Erkenntnis betrifft alle Laufsportler weltweit! Bei einem internationalen Laufschuh-Symposium im Rahmen der ISPO München einigten sich praktisch alle vortragenden Experten auf dieses Urteil: „Die Laufschuh-Industrie und die Laufschuh-Beratung befand sich in den letzten Jahrzehnten schlichtweg auf einem Irrweg"!

Von Gerhard Polzer


Es muss nicht immer ein lauter Knall sein, mit dem eine echte Revolution beginnt! Im Gegenteil, es war sogar außergewöhnlich still im vollbesetzten Auditorium, als beim internationalen Laufschuh-Symposium in München gleich der erste Vortragende die Laufwelt sozusagen auf den Kopf stellte. Denn der Schweizer Wissenschafter Benno Nigg von der University of Calgary (Kanada) erteilte der jahrezehntelang üblichen Praxis, die Auswahl und Kategorisierung von Laufschuhen fast ausschließlich am Abrollverhalten des Fußes und seinem Pronationswinkel festzumachen, eine klare Absage: „Über viele Jahre haben wir geglaubt, dass es bei der Schuhwahl entscheidend ist, wie weit der Fuß beim Abrollen nach innen knickt und wie sehr diese Pronation durch vermehrte Stützung und Dämpfung im Laufschuh korrigiert werden muss. Heute wissen wir, dass der Grad der Pronation, aber auch die Dämpfung eines Laufschuhs nur wenig bis gar nichts mit der Häufigkeit von Laufverletzungen zu tun hat."

Zur Untermauerung dieser These präsentierte Professor Nigg eine Studie, in der ganz klar festgestellt wurde, dass die vertikalen Impaktkräfte und selbst eine Überpronation des Fußgelenkes absolut keine Auslöser für Verletzungen darstellen! Es sei vielmehr das gesamte Bewegungsverhalten eines Läufers, das typische Laufverletzungen wie Läuferknie oder Hüftbeschwerden beeinflusst –„also das Zusammenspiel der Muskeln und der Gelenke sowie die inneren Kräfte und die Druckverteilung, die beim Laufen einwirken. Das sind die wesentlichen Variablen, die man sich anschauen muss, wenn man Laufverletzungen erklären bzw. mit der richtigen Schuhversorgung verhindern will", schickte Benno Nigg als Botschaft an die vielen Laufschuh-Händler und -Berater, die im Auditorium saßen. Die aber mussten erst den logischen Umkehrschluss verarbeiten: Stimmt Niggs These, dann ist die bisher übliche Praxis, bei der Auswahl der Laufschuhe in erster Linie auf die mehr oder weniger starke Stützung des Schuhs zu setzen, mit der einer (Über-)Pronation entgegengewirkt werden kann, hinfällig.

Was aber kann dann künftig als Beratungskriterium beim Schuhkauf gelten, wenn Pronation und Aufprallkräfte keine Rolle spielen? Eine konkrete Lösung dieses Problems konnte auch Benno Nigg nicht liefern, setzte lediglich auf den Begriff „Komfort": „Der beste Laufschuh für einen Läufer ist der, der dessen bevorzugten Bewegungsablauf zulässt und den der Läufer selbst am komfortabelsten findet."

EINTÖNIGES BEWEGUNGSMUSTER
Falls im Anschluss an diesen Vortrag jemand die These des Schweizer Wissenschafters noch als „Einzelmeinung" abtun wollte, so wurde er im Laufe des Symposiums eines besseren belehrt. Denn diese „Laufschuh-Revolution" hat tatsächlich weltweit ihre Unterstützer! „Das 40 Jahre alte Paradigma der Laufindustrie war ein Irrtum", stellte auch Dr. Simon Bartold, anerkannter Biomechaniker aus Australien, in seinem Vortrag fest – „es ist nun eindeutig erwiesen, dass selbst übermäßige Pronation keine wesentliche Ursache von Verletzungen oder Schmerzen ist. Somit sind auch die Kriterien der Dämpfung und der Stützung bei der Laufschuhwahl nicht entscheidend." Vielmehr sei das immer gleiche eintönige Bewegungsmuster, das viele Hobbysportler ganz automatisch beim Laufen haben, die Hauptursache für die Entstehung von Schmerzen und Verletzungen. „Wer Abwechslung in sein Lauftraining bringt", sagte Bartold (der für Laufschuhhersteller Salomon an neuen Konzepten forscht), „wer zum Beispiel auf unterschiedlichem Untergrund läuft, der senkt sein Verletzungsrisiko sofort."

Auch Spencer White, Entwicklungschef beim Laufschuhhersteller Saucony, bekannte auf dem Laufschuhsymposium, „dass wir in der Vergangenheit nicht das Beste getan haben! Es ist nicht die Frage, wie stark ein Läufer proniert, sondern wie der Körper mit dem Maß an Pronation umgehen kann. Wir müssen uns viel mehr auf die „,Stride Dynamics' konzentrieren." Heißt: Bei der Analyse des Laufstils eines Läufers ist der Blick nicht nur auf die Fußbewegung zu richten, sondern auf den ganzen Bewegungsablauf. „Dazu gehören die Rotation von Hüft- und Schulterachse, die gesamte Beinachse und der Aufsatzpunkt des Fußes in Relation zum Schwerpunkt des Körpers."

White hatte noch zwei interessante Tipps auf Lager. Der erste ging an die Laufshops, die bei Laufanalysen künftig „die Videokamera nicht von hinten, sondern besser von der Seite auf den Läufer richten sollten, um den gesamten Bewegungsablauf und den Laufstil beurteilen zu können". Und Tipp 2 ging direkt an die Adresse der Hobbyläufer: „Jeder Läufer profitiert am meisten, wenn er unterschiedliche Schuhe einsetzt. Wer mindestens zwei unterschiedliche Modelle zum Laufen verwendet, verringert seine Verletzungsanfälligkeit um fast 40 Prozent."

KNIE STICHT FUSS!
In einem weiteren Vortrag setzte Björn Gustafsson zum Thema Pronation sogar noch eins drauf. Denn der Gründer des Bewegungsanalayse-Instituts Currex in Hamburg präsentierte eine vielbeachtete Studie, nach der „Pronierer" sogar weniger Verletzungen erleideten als „Normalfußläufer". Gustafsson stellte klar: „Der Fuß ist ein Reaktor! Bei der biomechanischen Analyse ist nur der gemeinsame Blick auf Fuß, Knie und Beinachse erkenntnisreich." Wobei für die Currex-Analysten gilt: Knie sticht Fuß! „Das bedeutet: Bei der Auswahl des Schuhs und etwaiger Einlegesohlen ist vor allem die Analyse der Kniebewegung entscheidend." Abschließend brachte es auch Björn Gustafsson auf eine Formel: „Wenn wir den Komfort im Schuh erhöhen, dann reduzieren wir auch die Verletzungsanfälligkeit."

VOM KNÖCHEL AUF DEN KÖRPERDie Laufschuh-Revolution: Haben Überpronation und Laufschuh-Dämpfung ausgedient? / Bild: iStock / lzf
„Hat die Überpronation ausgedient?" Schon der Titel seines Vortrages ließ erahnen, dass sich auch Dr. Gert-Peter Brüggemann, renommierter Professor an der Sporthochschule in Köln, der „Revolution" angeschlossen hat. Der Wissenschafter zitierte eine ähnliche Studienlage wie Benno Niggs, zum Beweis dafür, „dass es zu kurz greift, bei der Analyse von Laufverletzungen nur auf das Fußverhalten in der Laufbewegung zu achten".

Auch Brüggemann konzentriert sich in seinen Forschungen zu besseren Laufschuhen und einer verbesserten Kategorisierung von Schuhen auf die Beziehungen zwischen dem Fußverhalten und der Kniebewegung während des Laufens. Er fand heraus, „dass die Bewegung des Kniegelenks maßgeblich von der Rückfußbewegung beeinflusst wird". Gemeinsam mit dem Laufschuhhersteller Brooks arbeitet Brüggemann schon konkret an der Umsetzung seiner neuen Erkenntnisse für die Laufschuhentwicklung bzw. -beratung. André Kriwet, Laufschuhentwickler von Brooks, erklärte dazu: „Unsere Konstruktion nach dem ,Stride Signature'-Prinzip löst sich von dem Gedanken, den Fuß bei der Abrollbewegung kontrollieren zu wollen. Der Schuh soll die Belastung nicht mehr korrigieren, sondern optimieren." Auf diese Weise wird auch der Tatsache Rechnung getragen, dass jeder Läufer einen individuellen Bewegungsablauf hat, in dem er sich wohlfühlt – und in den man nicht korrigierend eingreifen soll.

„Wir müssen bei der Wahl des richtigen Laufschuhs von der Korrektur zu Erlebnis und Komfort kommen". Das war zum Ende des Symposiums auch die Kernaussage von Caspar Copetti, einem der Gründer der Schweizer Laufschuhmarke ON. „Und eine Folge muss sein, dass bei der Laufschuhberatung der Blick vom Knöchel auf den ganzen Körper geht." Damit lieferte Copetti gleich eine Steilvorlage für die anschließenden Workshops, in denen die Händler und Laufschuhberater darüber diskutierten, welche Auswirkungen die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Beratung am „Endverbraucher", also dem Läufer, haben müssen.

BERATUNG? JETZT ERST RECHT
Grundsätzlich waren sich alle Teilnehmer einig: Die neue Studienlage in Sachen Laufschuh-Technologie macht eine versierte Beratung keineswegs überflüssig, sondern vielmehr besonders notwendig. Komfort sei zwar ein guter Indikator für einen guten Laufschuh, aber komfortabel sind viele Laufschuhmodelle. „Wir müssen mit einer versierten Beratung weiterhin dem Läufer helfen, sich im Dschungel der vielen Laufschuhmodelle zurechtzufinden", brachte es ein Händler auf den Punkt – „es reicht sicher nicht, in einen Schuh hineinzuschlüpfen, ihn komfortabel zu finden und deshalb zu kaufen."

LAUFSCHUH-ANALYSE DER ZUKUNFT
Wie schon in naher Zukunft die Laufanalyse und -Beratung im Laufshop ausschauen könnte, wurde den Symposiumsteilnehmern an Hand eines Prototyps gezeigt. Dabei vermessen drei Sensoren an Taille, Ober- und Unterschenkel die Kniebewegung des Läufers.

IM ERSTEN SCHRITT ... ... wird die habituelle Gelenkbewegung bestimmt, indem der Läufer im Stand einige Kniebeugen macht. Das sei laut Prof. Brüggemann derzeit die beste Möglichkeit, die gewohnte bevorzugte Gelenkbewegung zu ermitteln: „Beim Gehen bewegt sich das Knie zwar ebenfalls in der bevorzugten Weise, hier ist der Winkel aber zu klein für die Messung."
IM ZWEITEN SCHRITT ...... läuft die Testperson eine kurze Strecke barfuß, dabei wird die Abweichung zur habituellen Gelenkbewegung im Knie bestimmt.
IM DRITTEN SCHRITT ...... muss nun der Laufschuh gefunden werden, der die Bewegung wieder in Richtung der habituellen Gelenkbewegung verschiebt. Dazu läuft der Proband mit verschiedenen Schuhen, wobei man jeweils die Gelenkbewegung misst und schließlich den optimalen auswählt.

Ein interessantes Detail: Bei diesem Test auf der ISPO mit zwei Testläufern entsprach der mit den besten Werten auch dem mit dem subjektiv besten Komfort!


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