Skicross ist olympisch. Trotzdem bekommen die „Vierkämpfe“ auf Skiern noch nicht so richtig viel Aufmerksamkeit. Was Skicross ausmacht, wo und ob man es auch als Hobbyskifahrer ausprobieren kann (und soll): Das wollen wir mit Filip Flisar, Elan-Athlet und Weltmeister 2015, hier aufklären.
Der Internationale Skiverband (FIS) zählt Skicross zum Freestyle-Skifahren, neben Buckelpiste, Springen, Halfpipe und Big Air. Ganz schlüssig ist die Zuordnung nicht, geht es in den anderen Freestyledisziplinen doch um Tricks, die eine Jury bewertet. Im Skicross stattdessen gilt es, einen Parcours mit wilden Sprüngen, Wellen und Steilkurven im Kampf Mann gegen Mann (bzw. Frau gegen Frau) schneller als drei Konkurrenten zu bewältigen. Bei Filip Flisar passt „Free“(style) aber deswegen perfekt, weil das Wort an Freiheit und Freidenkertum denken lässt. Der heute 32-Jährige aus dem slowenischen Maribor ist glücklich, nach einigen Europacupeinsätzen im alpinen Rennlauf (Abfahrt und Super-G) beim Skicross gelandet zu sein: „Schon als Jugendlicher war ich immer ein wenig anders“, erzählt der Elan-Athlet, „nach einem langweiligen Trainingsprogramm hart zu trainieren, das habe ich nie geschafft. Stattdessen habe ich immer nach Wegen gesucht, mein Training ein bisschen spannender zu gestalten.“
Mit diesem Zugang konnten seine Trainer nichts anfangen – und Flisar mit der Vorstellung, Teil des „konservativen Systems“ alpiner Rennlauf zu sein, ebenso wenig. Den Umstieg im Alter von 20 Jahren hat er daher nie bereut: „Ich bin auf der Suche nach Freiheit meinen eigenen Weg gegangen und habe ihn gefunden“, grinst Flisar. 2008 debütierte er im Skicross-Weltcup, 2015 krönte er sich zum Weltmeister und im Winter 2019/20 gehört der Slowene, der auch gern die Bartmode ändert, zum „Inventar“ des Skicrosssports. Einer Sportart, die viel mehr Aufmerksamkeit verdienen würde, als sie bekommt. Dabei ist Skicross seit 2010 olympisch und zum Zuschauen spektakulär. Wenn sich vier Skifahrer gemeinsam aus dem Starthaus stürzen, sich auf dem Parcours mit Sprüngen, die bis zu 50 m weit gehen und bis zu 4 Meter Luftstand haben, duellieren – und das alles bei Geschwindigkeiten rund um 100 km/h, mit minimalem Abstand zueinander: Da bleibt kein Auge trocken. Die Athletenperspektive beschreibt Flisar so: „Adrenalin und Nervenkitzel sind durchaus mit Abfahrtsrennen vergleichbar.“
Im Downhill sei der Highspeed höher und der Untergrund ruppiger, im Skicross würden dafür die Streckenführung und die unmittelbare Nähe zu den Konkurrenten für Thrill sorgen. „Du hast etliche große und kleine Sprünge, teils auch Sprünge in den Kurven – und hängst dabei stets dem Konkurrenten am Skiende.“ Verwendet werden übrigens Riesentorlaufrennski, erklärt der Slowene, in seinem Fall Elan GSX 191, die jedoch aufgrund der weiteren Kurvenradien etwas anders präpariert werden als bei den Alpinen. „Im Skicross“, erzählt Filip Flisar weiter, „muss man ein kompletter Skifahrer sein, mehr noch als im alpinen Rennsport. Neben dem Beherrschen des Springens in jeder Form sollte man in den ohnehin schon kniffligen Situationen möglichst null Respektabstand von den drei Konkurrenten auf der Strecke halten.“ Konkurrenten, die oft nur wenige Zentimeter voneinander entfernt in der Hocke hängen, die Stöcke unterm Arm und das Messer sprichwörtlich zwischen den Zähnen. „Mental stark zu sein ist ganz wichtig. Und du musst nicht nur in einem Lauf stark drauf sein, sondern in vier, um ins Finale zu kommen.“
Die längsten Sekunden der Welt
Durchschnaufen kann man in den 60 bis 90 Sekunden, die ein Lauf dauert, keine Sekunde. Und schon gar nicht beim Start, denn das ist reine Nervensache. „Im Gate zu stehen ist definitiv nichts, was wir im Skicross lieben“, sagt Flisar und erzählt, dass der Start immer und immer wieder im Training geübt wird. So läuft die Startprozedur ab: „Skiers into the gate“, heißt das erste Kommando, dann „riders ready“, es folgen 3 bis 4 Sekunden Pause, dann „Attention.“ Und dann geht es immer noch nicht los. Sondern es dauert zwischen einer und fünf Sekunden, in voller Anspannung also unter Umständen eine gefühlte halbe Ewigkeit, bis das automatische Gate öffnet. Wer am schnellsten reagiert, die nicht unkomplexe Abstoßbewegung am besten beherrscht und folglich in der ersten Kurve die Nase vorn hat, der hat schon einmal einen wesentlichen Schritt zum Sieg getan. Denn nur das Überholen gilt als noch schwierigere Disziplin im Skicross als das Starten.
Im Rennen kommt es zunächst auf die eigene Position an: „Wenn du führst, fokussierst du dich auf die Strecke und darauf, deine Linie so zu wählen, dass die Jungs hinter dir nicht an dir vorbei können. Wenn du hinten bist, konzentrierst du dich auf die möglichen Stellen zum Überholen.“ Nur wer aus den Kurven und über die Wellen den maximalen Speed mitnimmt, hat auf den engen Kursen eine Chance, einem Gegner, dem kein grober Patzer unterläuft, einen Platz zu klauen. Die Sprungtechnik und das Drücken der Wellen sind entscheidend, weil man durch das Drücken und „Schlucken“ der Unebenheiten Geschwindigkeit generiert. Das benötigt jede Menge Kraft und vor allem Kraftausdauer und schlägt sich auch im Training nieder. Die Übungsprogramme der Skicrossprofis unterscheiden sich deswegen von denen der alpinen Kollegen: Kraftausdauerfähigkeiten sind besonders wichtig, erklärt Flisar, auch, weil das Finale in der Regel erst der fünfte Lauf eines Renntags ist. Die wenigen potenziellen Stellen in einem Run, die zum Überholen taugen, werden schon bei der Streckenbesichtigung abgecheckt, Überholmanöver müssen auf den engen Kursen meist schon ein, zwei Kurven früher eingeleitet werden, damit Schwung und Linie so gut passen, um sich einen besser gestarteten Kollegen noch zu krallen.
Weil beim Überqueren der Ziellinie das erste Körperteil zählt, strecken Skicrosser dabei die Hand nach vornezumindest wenn es knapp hergeht. Und dann, im Idealfall, die Faust jubelnd in die Höhe. Manchmal muss aber auch erst das Zielfoto entscheiden. Filip Flisar hat im Skicross jedenfalls genau seine Disziplin gefunden. Falls es jetzt ein Hobbyskifahrer einmal probieren will: Ja, es gibt für Normalskifahrer ein paar Möglichkeiten. Zum Beispiel im „Crossers Paradise“ auf dem Tiroler Pitztaler Gletscher oder im Crosspark auf der steirischen Reiteralm. Vom Skicross entlehnte Funelemente wie Wellen oder Steilkurven sind zwar wesentlich öfter in den Skigebieten zu finden, aber die haben mit der Originaldimension nur sehr wenig zu tun. Was irgendwo auch gut ist, denn sich als Ungeübter einfach einen Profi-Skicross-kurs herunterzustürzen, kann Filip Flisar auf gar keinen Fall empfehlen. „Die Sprünge erfordern Speed, um sie überhaupt fahren zu können. Man muss also mit voller Geschwindigkeit anfahren und das kann für Anfänger sehr gefährlich werden.“ Im Crosspark auf der Reiteralm gibt es nicht umsonst eine Original-Skicrossstrecke, die für Rennen und den Rennläufern für Trainingszwecke dient. Sowie eine entschärfte Publikumsvariante, wo man es langsamer angehen kann. Auf einer solchen können sich auch Freizeitskifahrer gefahrlos einmal so frei wie die Profis im Skicross-Weltcup fühlen.