Marathon hinter Gittern. Laufen entlang von Stacheldraht und Betonmauern, Finishen mit einem Schwerverbrecher. Der Knastmarathon in Darmstadt ist ein wildes Rodeo an Eindrücken, Erfahrungen und Erinnerungen, das in den Gehirnzellen gefesselt bleibt. Lebenslänglich.


Jeder im Leben macht mal einen Fehler“, sagt Mehdi. In seinem Fall waren es genau genommen sogar zwei, wenn auch mit unterschiedlicher Tragweite. Der erste brachte ihn hierher, in die Justizvollzugsanstalt Darmstadt. „Ich habe einen Juwelier überfallen.“ Der zweite, kleinere Fehler waren 42,195 km im Laufschritt durch den Gefängnishof. Jetzt plagen Mehdi ärgste Muskelschmerzen. „Meine Beine sind platt und morgen habe ich das erste Mal einen achtstündigen Freigang“, hadert er. „Als Probe, ob ich wieder komme.“
Selbst bin ich froh, dass ich nicht zurück muss. Der Tag hinter Gittern soll einmalig bleiben. Einzigartig ist er schon jetzt. Einen Marathon in einem Gefängnis zu absolvieren gehört nämlich zweifelsfrei zu den exotischeren Laufabenteuern.
Das beginnt lang vor dem eigentlichen Start. „Ah, zum Knast möchtest du!“ Der Taxifahrer kann seine Überraschung nur schlecht überspielen. „Was? So viele Besucher?“, staunt er dann bei der Ankun vor der meterhohen Mauer am Eingang. „Ich bin eh auch nur auf Besuch hier“, stelle ich sicherheitshalber klar. Das Schild bei der kleinen blauen Tür scheint zwischen Gastläufer und Knastbruder aber keinen Unterschied zu machen: „Achtung! Einbringen von Alkohol, Rauschmitteln, Tabletten, Geld, Rauchwaren ist strengstens verboten“, steht dort in respekteinflößender Deutlichkeit. In Zehnergruppen geht es dann durch vier Türen und eine Sicherheitsschleuse, wie man sie von den Gepäckskontrollen am Flughafen kennt. Handy, Geld und Fotoapparat wandern in einen Safe. Dafür schmückt jetzt ein giftgrünes Armband mein Handgelenk. „Knastmarathon“ steht drauf. Klingt wie eine Verurteilung ...

EIN KNÖDEL IM HALS
„Den Hund nicht angreifen und keine hektischen Bewegungen“, höre ich wenig später den routinierten Befehlston eines Wachebeamten. Da sitzen wir zehn Neuankömmlinge schon auf Bierbänken im schmucklosen Garderobenraum. Zwischen uns, wie angeordnet, eine Armlänge Abstand, abwechselnd der eine nach innen, der nächste nach außen blickend, allesamt unsere Rucksäcke geöffnet zwischen die Unterschenkel geklemmt. Der Knödel im Hals wird nicht kleiner. Auch nicht, als im nächsten Moment eine neugierige Schäferhundnase das Gepäck abschnüffelt. Ein seltsames Empfinden der Entmündigung macht sich breit.
Bei den Laufkumpels aus dem Knast dominiert dagegen eher das Gegenteil. „Ein kleines Gefühl der Freiheit“ habe er beim Training schon verspürt, sagt Mehdi, „ein Gefühl der Dazugehörigkeit“ zu jenem auf 160 Läufer limitierten Starterfeld, das von außen kommt, um an dem Marathon teilzunehmen.
Was uns dann tatsächlich eint, ist eine latente Drehwurmgefahr. Denn um auf die volle Langstreckendistanz zu kommen, müssen 24 Runden à 1,758 km zurückgelegt werden. Auf verschlungenen Wegen und durch mächtige Kiefern-Alleen, teilweise mit motivationsmäßig eher abdimmenden Hin- und Zurückabschnitten kurven wir durch den großzügig angelegten Innenhof der Justizanstalt. Teilweise stehen Gruppen von Männern mit einheitlichem Bürstenhaarschnitt, in schwarzen Hosen und weinroten T-Shirts am Streckenrand. Die meisten schauen nur leeren Blicks, einige klatschen, manche schieben coole Sprüche oder suchen Ablenkung beim Zigaretten-Rauchen, Karten- oder Backgammon-Spielen.

KLISCHEES WERDEN REAL
Die schwereren Burschen dürfen sich weniger frei am Gelände bewegen. Aus dem Maschendraht-Käfig beobachtet eine Galerie Männer mit nackten Oberkörpern und Muskelbergen, die beeindruckende Tätowierungen zieren, das Geschehen. Die Rallye durch billige Klischees geht noch weiter: Nach einer zermürbenden Geraden entlang der baumhohen Mauer mit Stracheldrahtkrone hör ich aus einem Wohntrakt Blechtöpfe gegen Gitterstäbe klopfen, hinterlegt mit „Ali, Ali“-Sprechchören.
Eine Kulisse, wie in einem schlechten Hollywoodfilm. Ali – grau meliert, zahnstocherdünn, schlapprige Shorts, zappeliger Schritt – lächelt, winkt und läuft und läuft. Wird überholt. Und läuft. Wird überrundet. Und läuft. Der Somalier ist augenscheinlich der Publikumsliebling und einer von 20 Häftlingen, die die strengen Kriterien des internen Sportprogramms erfüllt haben. Denn, um beim Knast-Marathon Mitte Mai an den Start gehen zu dürfen, müssen die Männer ab Oktober an den wöchentlichen Laufeinheiten, an Vorträgen und Laktattests teilnehmen. Bis zu tausend Trainingskilometer haben sie am Ende in den Beinen. Und die meisten weniger Kilos am Körper. „Ich bin von 115 auf 85 Kilo gekommen“, ist Mehdi stolz. Mit dem schrumpfenden Gewicht hat sich auch die angepeilte Endzeit auf vier Stunden verkürzt. Nach 3:51 Stunden läuft er am Ende durchs Ziel. Sein Grinsen sprengt in diesen Glücksmomenten die Gefängnismauern.

Knastmarathon Darmstadt Start ZielSPORT ZUR RESOZIALSIERUNG
Die meisten der insgesamt 600 Insassen schätzen die Justizanstalt Darmstadt. Nicht nur wegen der sportlichen Resozialisierungsprojekte (ein Gefangenen-Fußballteam kickt in der untersten Kreisliga mit). „Das hier ist das beste, das ich erlebt habe“, sagt Dimitri, ein Russe, der wegen Körperverletzung fünf Jahre in verschiedensten Anstalten verbracht hat. Zusammen hecheln wir nach gefühlten 237 Runden und nach 3:35 Stunden ins Ziel.
Schulter an Schulter mit einem Knacki – eine seltsame Schicksalsgemeinschaft, die auf einer verbindenden Infektion mit dem Laufvirus basiert. Eine Stunde später schafft es Robertas, ein baumlanger Hühne mit tellergroßen Händen aus Litauen, der wegen Hehlerei einsitzt, und klatscht mit uns ab.
Welcome to the club! Mit einem großen Unterschied: Ich kann nach draußen gehen, wann ich will. So finde ich mich am späten Nachmittag wieder in einer zehnköpfigen Gruppe in der Nähe des Ausgangs. Die Stimmung ist aufgekratzt. Bei allen mischt sich wohl eine Form von Erleichterung in die Gedanken, als wir Handy, Geld und andere Habseligkeiten wieder ausgehändigt bekommen. Selten hat sich ein Atemzug Luft so befreiend angefühlt, wie beim Schritt aus dem blauen Tor.

DER KNASTMARATHON DARMSTADT
Auf einem Rundkurs von 1,758 km (24 Runden) innerhalb der Justizvollzugsanstalt Darmstadt. 144 der 180 Teilnehmer kamen ins Ziel. Schnellster Mann: Alain Silverio (LUX, 2:49:17), schnellste Frau Patricia Kusatz (GER, 3:27:41).
Weitere Infos findest du auf www.sv-kiefer-darmstadt.de


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