Taktik, Balance, Fingerspitzengefühl, Konzentration, Wischkraft – die Challenge gegen Serienmeister Sebastian Wunderer zeigt, dass Curling eine der komplexesten Sportarten überhaupt ist. Und nicht ganz ungefährlich, wie blaue Flecken am Tag danach zeigen.
Eigentlich hätte ich spätestens hellhörig werden müssen, als mir Eismeister Chris – ein waschechter Schotte – wärmstens empfiehlt, einen als Stirnband getarnten Helm aufzusetzen. „Believe me – it’s better“, sagt er in breitestem Glasgower Dialekt. Dass er mich mit dem Hinweis nicht aufs Glatteis führen wollte, merke ich, als er mich wirklich aufs Glatteis führt. Und zwar in der Kitzbüheler Curlinghalle, der einzigen (!) ihrer Art in ganz Österreich und Heimat von Sebastian Wunderer, der mit seinem Team so etwas wie der FC Red Bull Salzburg des Stein- und Besengewerbes ist, da die vergangenen sechs Staatsmeistertitel alle an ihn und sein Tiroler Team gegangen sind. Er soll mich in die Geheimnisse des Sports einweihen, der wahlweise respektvoll als „Schach auf dem Eis“ oder weniger respektvoll als Hausfrauen-Bewegungstherapie tituliert wird. Letzteres kann allerdings nur jemand behaupten, der sich noch nie aus einem sogenannten Hack katapultiert und versucht hat, einen 20 Kilogramm schweren Stein ins gegenüberliegende Haus zu befördern.
Doch zurück zu meinen ersten Gehversuchen, bei denen ich mit Curlingschuhen auf der Eisbahn so sicher stehe wie eine Kuh auf dem Drahtseil. Am linken Schuh eine Slider-Sohle, rechts einen Anti-Slider-Aufsatz, sodass ich mich elegant bewege wie Paulchen Panther zu seinen besten Zeiten. „Am besten du gehst die Bahn ein paarmal auf und ab, damit du dich daran gewöhnst“, schlägt Chris vor. In der Zwischenzeit schafft Sebastian die Steine heran, denn zunächst soll es darum gehen, wie man das Spielgerät fehler- und unfallfrei auf die Reise schickt. Sprich: Als Rechtshänder kommt der rechte Fuß in den Hack, der an einen Startblock aus der Leichtathletik erinnert, linker Fuß daneben. Curlingstein in die rechte Hand, links ein „Krücke“ genanntes Hilfsgerät, damit man beim Sliden nicht umfällt (echte Curler nehmen dafür ihren Besen). „Hüften hoch, Schwung holen und abstoßen“, erklärt Sebastian. Was er nicht erklärt, ist, wie man das Gleichgewicht halten soll, wenn man den Stein irgendwann loslässt. Dementsprechend unbeholfen mache ich (und vor allem mein rechtes Knie) erstmals, aber leider nicht letztmals Bekanntschaft mit dem Eis.
„Das ist ganz einfach“, sieht Sebastian gleich, woran es hapert. „Du musst so viel Gewicht wie möglich auf den linken Fuß und so wenig wie möglich auf den Stein geben. So kannst du dich auch voll darauf konzentrieren, welchen Drall du ihm mitgibst.“ Womit wir beim nächsten spannenden Punkt dieser irrsinnig komplexen Sportart angelangt sind. Denn wer glaubt, dass man einen Stein einfach so gerade über die Bahn schieben kann, hat die Rechnung ohne die Tücken des Eises gemacht. „Zwei Möglichkeiten: Entweder du drehst den Stein am Anfang auf 14 Uhr und zurück auf 12, wenn du ihn loslässt. Oder du drehst von 10 Uhr auf 12. Das Erste ergibt einen Linksdrall, beim Zweiten sorgt die Rotation dafür, dass er nach rechts geht.“ Bedeutet: Wenn man versucht, den Stein in die Mitte des Hauses (Button oder Dolly) zu platzieren, zielt man in Wahrheit gut einen Meter daneben, was wiederum durch die Rotation ausgeglichen wird. Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?
Zu Übungszwecken stellt Sebastian einen Stein in die Mitte, den ich einfach nur aus dem Haus schießen soll. „Take out“ nennen das die Profis. Wobei einfach natürlich in Anführungsstriche gehört, da mein Stein wahlweise rechts oder links vorbeirauscht oder schlicht und ergreifend zu wenig Power hat und somit zu kurz ist. Eine gute Gelegenheit, den Besen ins Spiel zu bringen, mit dem man die Richtung, vor allem aber die Länge des gespielten Steines beeinflussen kann. Drei bis vier Meter, sagt man, kann der Weg bei optimalem Wischen verlängert werden, weswegen es ratsam ist, dem Stein im Zweifel lieber ein bisschen zu wenig als zu viel Schwung mitzugeben. Detail am Rande: Will man gegnerische Steine aus dem Zielbereich schießen, ist es ab der Mitte des Hauses erlaubt, auch bei denen mit dem Wischer nachzuhelfen.
Nun drückt mir Sebastian also einen Besen in die Hand und ich ahne schon, dass der Stein, den er als Nächstes auf den Weg bringt, viel Wischeinsatz benötigt. Also wird das Eis geschrubbt, was das Zeug hält, ohne Rücksicht auf Verluste. Und ohne Rücksicht auf mein Gleichgewicht, weswegen spätestens jetzt das Gefühl tiefer Dankbarkeit in mir aufkommt, dass ich einen Kopfschutz trage. Was meinem schmerzenden Ellbogen freilich auch nicht hilft. Wurscht. Jedenfalls kommt hier der wirklich sportliche Teil des Spiels zum Tragen, denn wenn man die 45 Meter lange Eisbahn ein paar Mal in gebückter Haltung rauf und runter hirscht und dabei Wasserfilme auf dem Eis produziert, bleibt der Curlingdress nicht lange trocken.
Die wichtigsten Curling-Regeln
Ein Team besteht aus vier Spielern, von denen jeder zwei Steine ins Spiel bringen muss. Kapitän des Teams ist der sogenannte Skip, er bestimmt die Taktik und zeigt mit dem Besen im Haus an, wohin gezielt werden soll. Ein Match besteht bei großen Meisterschaften aus zehn Ends, in denen es für jeden Stein, der dem Zentrum im Haus am nächsten ist, einen Punkt gibt (ähnlich wie beim Boccia).
Am Anfang wird gelost, wer im ersten End den Hammer bekommt (=Recht auf den letzten Stein). Punktet ein Team, geht der Hammer automatisch zum Gegner über. Steine, die als Guards in der sogenannten und meist gelb markierten „Free Guard Zone“ vor dem Haus platziert werden, dürfen in den ersten fünf Runden eines Ends nicht weggeschossen werden – das führt zu vielen taktischen Variationsmöglichkeiten beim Curling.
„Die Basics kannst du ja jetzt, spielen wir ein End“, sagt Sebastian. Normalerweise besteht eine Mannschaft zwar aus vier Spielern, von denen jeder zwei Steine ins Spiel bringen muss, aber da ich ja ohnehin viel üben muss, spielen wir eins gegen eins. Als Skip (eine Art Spielführer und Mastermind, der die Taktik vorgibt) für uns beide fungiert Eismeister Chris. Er steht am Ende der Bahn und zeigt mit dem Besen an, wohin man zielen soll. „Du bist der Herausforderer, also überlasse ich dir den Hammer“, meint Sebastian. Was deutlich schroffer klingt, als es gemeint ist, denn wer den Hammer hat, hat das Recht, den letzten der insgesamt 16 Steine zu spielen – ein unschätzbarer Vorteil, mit dem man in der Regel ein End für sich entscheiden kann.
Also muss der Profi loslegen. Und ich beginne zu erahnen, wie groß die taktische Komponente beim Curling ist. Es gibt offensive und defensive Varianten, welche, bei denen man sogar auf einen Punkt verzichtet, um den Hammer nicht zu verlieren, immer alles abhängig vom jeweiligen Spielstand und den noch zu spielenden Ends. Nur eins kann man dabei auch als Profi nur ganz schwer berechnen: das unkontrollierbare Glück des blutigen Anfängers. Als alles auf ein Waterloo für mich herausläuft, verfehle ich mit dem letzten Stein mein anvisiertes Ziel um Längen. Und löse eine Kettenreaktion aus, an deren Ende plötzlich und unerwartet einer meiner roten Steine der guten alten Dolly am nächsten kommt. Schluss, aus, Punkt für mich. „Gutes Spiel“, kommt Sebastian auf mich zu und drückt mir die Hand.
Inhaltlich natürlich nicht zu rechtfertigen, aber ein elementarer Bestandteil der Sportart, den man „Spirit of Curling“ nennt. Ein Ehrenkodex, der beispielsweise auch besagt, dass man einen Gegner niemals provozieren oder aus der Konzentration bringen darf, in Streitfragen zugunsten der anderen Partei nachgibt und eine Niederlage immer einem ungerechtfertigten Sieg vorzieht. „Und es heißt darin, dass der Gewinner den Verlierer nach dem Match zum Trost auf ein Getränk einlädt“, sagt Sebastian. Und sein verschmitztes Lächeln lässt mich latent daran zweifeln, ob mein Glücksschuss am Ende nicht doch von langer Hand geplant gewesen sein könnte ...