Laufstrecken sind voll, beliebte Bikes ausverkauft, Skitourengehen boomt, auch Strava-Daten belegen einen Bewegungsboom durch die Corona-Pandemie. Eine Momentaufnahme, Ausnahmesituation – oder Veränderung, die bleiben wird? Sind wir auf dem Weg zu einer gesundheitsbewussteren, sportlicheren Gesellschaft? Wir haben Meinungen eingeholt.
Von Christof Domenig, Christoph Heigl und Klaus Molidor
Univ.-Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann, Institut für Philosophie, Universität Wien
"Ich fürchte, nicht allzu viel wird bleiben."
Dieses „Ich muss raus“ ist natürlich einer Situation geschuldet, in der fast alle anderen Aktivitäten nicht möglich sind, auch Schwimmbäder und Fitnessstudios geschlossen bleiben müssen. Viele ohnehin sportlich aktive Menschen kompensieren dies durch Bewegung in der Natur. Vielleicht erkennt man dann, dass ein Waldlauf etwas anderes ist als das Laufband und eine knackige Steigung im Alpenvorland etwas anders als deren Simulation am Ergometer – und bleibt der neu entdeckten Naturnähe treu. Diejenigen, die nun den Freiluftsport erst entdecken, weil andere Betätigungen verwehrt sind, werden zu einem Gutteil nach der Pandemie zur alten Lebensform zurückkehren. Einige werden aber sicher das Gefühl von Wind, Sonne, Regen und Schnee auf der Haut auch danach nicht missen wollen.
Es ist oft so, dass wir zu Erfahrungen, die wir als positiv empfinden, erst gezwungen werden mussten. Es gab z. B. auch noch nie so viele junge Menschen, die bekundeten, wie gerne sie doch in die Schule gingen. Vor Corona sah das ganz anders aus. Die Pandemie beschleunigt aber auch Entwicklungen, die es vorher schon gab: Laufen, Radfahren und Wandern gehören seit geraumer Zeit zu den Trendsportarten.
Sind wir folglich auf dem Weg zu einer bewegteren, gesünderen, sportlicheren Gesellschaft? Leider habe ich da so meine Zweifel. Denn es gibt ja auch die gegenteiligen Beobachtungen. Menschen können durch einen Lockdown passiver werden, leiden an Einsamkeit bis hin zur Depression. In Summe denke ich, dass sich wenig ändern wird, aber es wäre schon viel gewonnen, wenn man wieder das schätzen lernt, was uns die Natur ohne aufwendige Infrastruktur und ganz ohne Events bieten kann.
Tristan Horx, Trend- und Zukunftsforscher, Zukunftsinstitut Frankfurt und Wien
"Spazierengehen ist jugendliche Kulturform geworden."
Ja, viele haben den Wert von Bewegung in der Natur entdeckt. Ich sehe das einerseits im Kontext Gesundheit, es tut dem Immunsystem gut, andererseits den Aspekt Psychohygiene: Niemand ist in einer Großstadt gerne in den eigenen vier Wänden eingesperrt. Die grüne Natur, das Rausgehen tut der Seele gut. Wobei einiges schon überrascht hat: Wer hätte etwa gedacht, dass Spazierengehen sich zu einer Kulturform der Jugend entwickeln würde?
Die Corona-Pandemie wirkt in vielerlei Hinsicht als Beschleuniger – in einigen Bereichen auch als Bremser – bestehender Entwicklungen. Gesundheit und Natur haben zuvor schon einen zentralen Wert in der Gesellschaft bekommen und das wurde und wird nun noch beschleunigt. Und das wird auch bleiben. Schon deshalb, weil viele eine positive erste Erfahrung gemacht haben. Ich war selber zuvor regelmäßig im Fitnessstudio, habe da aber nicht viel Cardio gemacht. Dann war ich gezwungen, im Freien zu laufen. Zu Beginn ist das schwierig – nach einiger Zeit fühlt es sich sehr gut an. Diese Erfahrung muss aber jeder selber machen und das haben jetzt viele getan.
Österreich hat übrigens den zweithöchsten durchschnittlichen Kalorienkonsum der Welt, wobei die Zahl übergewichtiger Menschen schon bisher in keiner Relation zu dieser hohen Kalorienaufnahme stand. Das lässt sich mit der hohen Affinität zum Wintersport erklären. Ein Tiroler hat, wenn man so will, also eine deutlich bessere Basis beim Einstieg ins Laufen als ein Nordrhein-Westfale. Ein weiterer Grund, warum in Österreich die Chance groß ist, dass viele den Lebensstil beibehalten.
Interessant zu beobachten wird nun sein, wie die Politik mit dieser gesellschaftspolitischen Stellschraube, die sie plötzlich in die Hand bekommen hat, umgehen wird. Mit Sportarten, die vom Spitzensport her nicht wahnsinnig sexy sind – etwa verglichen mit Fußball –, aber im Breitensport eine große Wirkung entfalten können. Eine bewegte Gesellschaft kann man sich für jedes Gesundheitssystem nur wünschen. Aber wird man die Menschen einfach tun lassen? Oder auch Ideen haben, diese entstandene Bewegung weiter zu fördern und zu unterstützen?
Antje von Dewitz, Geschäftsführerin Vaude Sport GmbH
"Einstiegshürden wurden nachhaltig eingerissen."
Ich glaube, dass dieser neue Outdoordrang auch nachhaltig nach der Krise wirken wird. Viele Menschen haben die verschiedensten Outdoor-Aktivitäten ausprobiert, vor denen sie ohne so viel Zeit und so wenig andere Optionen zurückgescheut wären. Aktive Freizeitgestaltung mit E-Bikes, Langlaufskiern, Schneeschuhen, Skitouren oder einfach Wandern. Einstiegshürden wurden nicht nur einmalig überwunden, sondern nachhaltig „eingerissen“. Die neue Lust am Draussen-Sein.
Natürlich werden ganz viele Menschen nach der Krise erst mal das Bedürfnis haben, aufgeschobene Reisen und andere Aktivitäten zu verwirklichen, was in einen Rückgang der Outdoor- und Sportaktivitäten münden wird. Doch im Vergleich mit der Zeit vor der Pandemie wird sowohl die Menge der outdoorbegeisterten Menschen als auch die Frequenz der Aktivitäten auf einem deutlich höheren Niveau sein.
Das ist einerseits positiv, weil so mehr Menschen die Natur kennen- und schätzen lernen. Viele Naturlandschaften leiden jedoch unter einem hohen Besucherstress. Die Herausforderung besteht darin, die Besucherströme in den touristischen Hotspots nachhaltig zu lenken und gegebenenfalls auch auf ein erträgliches Maß zu senken. Zum anderen muss eine breite Vermittlung und Verankerung von umweltverträglichen Verhaltensweisen in der Natur erreicht werden. Darin sehe ich neben den Naturschutz-, Outdoor- und Tourismusverbänden auch uns als Outdoormarken in der Mitverantwortung. Wir geben auf unserem Experience-Blog ganz praktische Anregungen, beispielsweise in der Reihe „Hinterlasse keine Spuren!“ über nachhaltiges Verhalten im Outdoorsport.
Mag. Miriam Biritz-Wagenbichler, Sportwissenschafterin, für den Verband von Sportwissenschaftern für Wien
"Bewegungsaffine bleiben leider über."
Die Pandemie mit Homeoffice, Lockdown und Homeschooling schafft neue Bedingungen für unseren Lebensstil und unser Bewegungsverhalten. Die alltägliche Bewegung, die so automatisch von uns vor der Pandemiezeit gefordert war, fällt aufgrund des eingeschränkten Bewegungsradius weg. Statt der täglichen Arbeits-, Schul- und Einkaufswege, sowie Treffen mit Freunden und Verwandten sind wir beschränkt auf unsere eigenen vier Wände. Was es nun braucht sind andere Lösungen, um den natürlich vorhandenen Bewegungsdrang, so gering er auch ist, zu erfüllen. Spaziergänge mit Freunden, um ein gewisses Maß an Sozialisierung zu ermöglichen, Läufe oder auch Wochenendausflüge mit dem Fahrrad sind Lösungsmöglichkeiten.
Ersetzen sie jedoch die eingesparte Alltagsbewegung? Womöglich bei denjenigen, die sich schon immer sehr wenig bewegt haben. Jedoch sicher nicht bei schon zuvor bewegungsaffinen Menschen. Diese werden alleingelassen und bleiben über. Denn gerade durch das Betretungsverbot von Sportstätten ist es den aktiven Sportlern erschwert worden, sich auf ihrem Leistungsniveau mit den nötigen Mitteln fordern zu können. So sehr das Onlinetraining zu Hause propagiert wurde, so sehr muss auch klar sein, dass für viele ein Training ohne Geräte bzw. Trainingsmittel suboptimal ist.
Ob nun die Pandemie einen dauerhaften Bewegungsboom ausgelöst hat, wird sich weisen, wenn sich unsere Alltagsbedingungen wieder ändern. Schaffen wir es, Bewegung als notwendigen Eckpfeiler in der Gesundheitsvorsorge zu sehen und sie als wichtigen Teil unseres Alltags zu integrieren? Können wir der Bewegung den Raum, die Zeit und die Möglichkeit geben, die sie in unserem Arbeits- und Lebensalltag bräuchte? Das hängt von diversen Anreizen ab, die sicher im politischen, im schulischen und im arbeitsrechtlichen Ermächtigungsbereich liegen. Und natürlich auch von der Bewusstseinsbildung was Bewegung alles bewirken kann.
Benedikt Böhm, Geschäftsführer Dynafit
"Corona hat den Trend zu Offroad-Sportarten noch verstärkt."
Wir haben schon vor der Pandemie gemerkt, dass es einen starken Drang zum Rausgehen gibt. Corona hat diesen Trend zu „Offroad“ als Skitouren, Bergsport, Trailrunnung dann noch einmal verstärkt. Davon haben wir als Bergsportausrüster natürlich profitiert. Nach einem starken Umsatzrückgang in der Zeit des ersten Lockdowns ist die Kurve dann senkrecht nach oben gegangen. Im Sommer und natürlich auch im Herbst und Winter.
Was wir gesehen haben: Der Skitourensport hat sich gewandelt und ist zum Fitnesssport geworden. Die Nachfrage nach LVS-Geräten, Literatur zur Lawinensicherheit etc. ist nämlich nicht gestiegen. Die Leute wollen in sicherem Gelände aufsteigen und vielleicht eine Piste runterfahren. Daher müssen wir die Komplexität aus dem Sport nehmen. Komplettsets haben sich sehr gut verkauft und auch Kindersets. Es haben viele junge Leute, vor allem Frauen damit begonnen.
Jetzt wird es darum gehen, Infrastruktur zu schaffen. Skifahren und Tourengehen – das wird parallel existieren. Skigebiete werden um niederschwellige Angebote für Tourengeher nicht mehr herumkommen, ähnlich wie bei den Funparks. Das wird Standard werden und die Leute sind durchaus bereit dafür zu bezahlen. Das sehen wir schon in unseren 25 Dynafit-Skitourenparks. Privat fehlen mir natürlich die Reisen, aber dafür hab ich einmal unter der Woche den Alltag mit meinen drei Kindern erlebt – das war auch eine sehr schöne Erfahrung.
Jane Bergthaler, Diätologin
"Essen wird bewusster und kritischer erlebt."
Durch den Lockdown verbringen mehr Menschen mehr Zeit zu Hause. Das schlägt sich im Verhalten bei Ernährung, Kochen und Einkauf nieder. Man hat mehr Zeit fürs Kochen, geht aber seltener einkaufen und versucht, mit einer gewissen „Vorratshaltung“ geschickt zu improvisieren, experimentierfreudiger und variantenreicher zu kochen. Was habe ich zu Hause? Was kann ich daraus machen? Im Sommer haben viele erstmals Dinge im eigenen Garten angebaut oder am Balkon, man hat eingekocht und entdeckt die Freude an regionalen und selbst gezüchteten Lebensmitteln. Der „Bauer von nebenan“, das „Gemüsekistl“ und „Ab-Hof-Verkauf“ sind gefragt. Familien schätzen die neue Gemeinsamkeit bei Tisch, ein großer sozialer Faktor.
Was davon bleiben wird? Beim Thema Ernährung und Kochen gab es sicher eine gewisse Marktlücke und wir merken genau, wie gefragt jetzt Kochvideos und Ernährungstipps sind. Die Konsumgesellschaft wird vermutlich zurückkehren zu alten Gewohnheiten wie Fast-Food und Tiefkühlkost, die breite Masse wird durch Corona keine gesund essende Gesellschaft. Jedoch wird es eine Gruppe individueller Menschen geben, die die Wichtigkeit der Ernährung auch künftig nicht mehr ignorieren. Die die entdeckte Leidenschaft fürs bewusste Einkaufen, Selberkochen und Ausprobieren weiter leben. Die ihren Fleischkonsum überdenken, mehr Gemüse, Hülsenfrüchte und Co. konsumieren, das Überangebot am Markt hinterfragen, kritischer bei Lebensmitteln sind. Als Folge werden sie auch auswärts und in Restaurants bewusster und mit großem Genuss essen.