Als erster und bislang einziger Mensch hat Markus Pucher den Cerro Torre im Free Solo bestiegen. Im Interview erzählt er, wie der legendäre Gipfel zu seinem „Hausberg“ wurde. Und warum die Stille sein liebster Begleiter ist.
Markus, du hast deine Bestimmung am Cerro Torre gefunden. Wie ist es dazu gekommen?
Als Teenager sind wir daheim im Maltatal in unsere ersten vereisten Wände gestiegen, damals noch mit Bauarbeiter-Overall und Tourenskischuhen. Die Mischung aus Stein und Eis hat mich wegen ihrer Vielseitigkeit gereizt. Außerdem hat mir die Ruhe in diesen Wänden getaugt.
Was ist so schön daran?
Mir gefällt die Einsamkeit. Du fühlst dich lebendig, wirst feinfühlig und findest zu dir selbst. In der Stille liegt für mich eine besondere Stärke.
Im Jahr 2000 warst du erstmals in Patagonien. Wie hast du das erlebt?
Beim Campieren in El Chaltén habe ich zwei US-Amerikaner kennengelernt, gemeinsam sind wir auf den Fitz Roy. Ich hatte ein Steigeisen auf dem einen und einen Kletterschuh auf dem anderen Fuß, das war echtes Mixed-Klettern, genau mein Terrain. Wir erreichten mit den letzten Sonnenstrahlen des Tages den Gipfel. Im Westen erhob sich der Cerro Torre. So etwas hatte ich bis dahin nicht gesehen, das war alles so groß. In diesem Moment ergab sich eine Verbindung, die mich nicht mehr losgelassen hat.
2013 hast du den Cerro Torre allein ohne Sicherung bestiegen. Warum tut man das?
Mit einem Freund wollte ich eine neue Route an der Westkante klettern. Wetter und Vorhersage waren perfekt. Leider hatten wir uns einen Magenvirus eingefangen. Bei mir ging’s wieder, aber mein Partner konnte nicht in die Wand, also dachte ich mir: Weißt was, ich schau mir mal die Ferrari-Route an, die kenne ich von früheren Touren. Und wenn’s passt, dann passt’s.
Und es hat gepasst?
Die Verhältnisse waren ideal. Ich biwakierte unter dem Col de Esperanza, um zwei Uhr nachts zog ich los. In der Route waren Spuren anderer Seilschaften, kein loses Eis. Ich musste nur raufklettern.
Warum ohne Sicherung?
Im Rucksack hatte ich ein 60-Meter-Halbseil, um wieder runterzukommen. Bei Problemen hätte ich mich sichern können, aber ich habe es nicht gebraucht. Bei Sonnenaufgang war ich oben, ein unvergesslicher Moment der Stille. Insgesamt benötigte ich für Auf- und Abstieg keine sechs Stunden. Als ich später am Circo de los Altares am Inlandeis meinen Partner wiedertraf, konnte der kaum glauben, dass ich oben war.
Geschah das erste Free Solo auf den Cerro Torre aus einer Laune heraus?
Sagen wir: aus einem Gefühl. Bei solchen Touren kannst du nur danach gehen, was du spürst. Zieht es dich rauf oder runter? Wenn es dich raufzieht, ist alles leicht. Wenn es unter dir 1000 Meter durchpfeift und du nur an deinen Pickeln hängst, dann musst du schon mal ruhig bleiben. Aber am Ende war es eine spontane, beinahe einfache Aktion.
Angst und Zweifel saugen dich leer. Ohne Vertrauen in deine Stärke wirst du scheitern.
Sind andere Free Solos auch spontan?
Schwere Mixed-Routen oder kürzeren Touren in den Alpen plane ich genau. Bei einer Expedition in Patagonien bist du tagelang unterwegs, um überhaupt an den Berg zu kommen. Da musst du nehmen, was du kriegst und das Beste draus machen. Aber das Gefühl muss eben stimmen. Mich zwingt ja keiner. Ich habe schon häufig am Fuß einer Wand abgebrochen.
Hat man dieses Bauchgefühl? Oder kann man das trainieren?
Als Bergsteiger verbringst du viel Zeit in der Einsamkeit. Ich spüre dort immer eine Kraft, die mich mit meinem Umfeld verbindet. Du bist allein, niemand wird dir helfen. In Situationen wie diesen triffst du klare Entscheidungen und lernst, auf dein Gefühl zu hören.
Ist mentale Stärke der entscheidende Faktor beim Bergsteigen?
Definitiv. Herausragendes Können und die nötige Kondition haben viele Bergsteiger. Aber der Körper ist nicht wichtig. Wenn du in der Wand hängst, musst du auf den Punkt abliefern, was du kannst. Angst und Zweifel saugen dich leer. Wie stark du auch bist: Ohne Vertrauen in deine Stärke wirst du scheitern.
Siehst du dich in der Wand aus einer anderen Perspektive?
Tatsächlich gibt es verschiedene Kameraperspektiven. Wenn ich im Flow bin, sehe ich mich häufig von hinten, schräg oberhalb. Plötzlich bin ich wieder total fokussiert darauf, wie ich den Pickel in einer Felskante einhake. Die Perspektiven wechseln. Ich bin aber immer im Hier und Jetzt, es gibt kein Vorher und kein Nachher, keine Zeit – nur den Raum, in dem ich mich bewege.
2014 bist du wieder Free Solo auf den Cerro Torre. Diesmal lief es weniger gut. Was ist passiert?
Ich flog kurz vor Weihnachten nach Patagonien. Meine Familie war nicht begeistert, aber ich musste einfach los. Mein Plan war die Solobesteigung des Torre Egger. Das Wetter war miserabel, also bin ich rüber zum Cerro Torre.
Warum bist du bei diesen Bedingungen in die Wand?
Trotz Schneesturm hat es mich hochgezogen. Ich musste viel Eis aus der Route entfernen, das war schon am Limit. Zu dieser Zeit war ich physisch und mental allerdings extrem gut drauf. Beim Abstieg verkletterte ich mich an einer Wechte. Im losen Schnee verlor ich den Halt und kam ins Rutschen.
Kameraeinstellung?
Frontal. In Zeitlupe. Ich stürzte auf eine Schneeflanke, rutschte rückwärts mit dem Kopf voran nach unten, konnte mit den Pickeln im harten Schnee bremsen und kam einen Meter vor einem Abgrund zum Stehen. Dort wär’s 1000 Meter die Südwand runtergegangen.
Und dann?
Ein Moment der Stille. Nur der Wind und mein Herzschlag. Im Lichtkegel der Stirnlampe tanzten die Schneeflocken. Ich bin eine Minute so liegen geblieben und habe mir bewusst gemacht, was geschehen ist.
Warum laufen die Dinge so, wie sie laufen? Ich glaube daran, dass alles auf irgendeine Weise gesteuert wird.
Nämlich?
Ich war nicht im Moment gewesen, sondern in Gedanken bei einer Tomatensuppe, die ich mir nach meinem Abstieg im Biwak warmmachen wollte.
Eine Tomatensuppe hätte beinahe dein Ende bedeutet?
Kann man so sagen. Wobei ich mir während des Rutschens sicher war, dass mir nichts passieren würde. Im Endeffekt hat die Tomatensuppe dafür gesorgt, dass ich hochkonzentriert weiter abgestiegen bin. Leider kam direkt das nächste Problem. Meine Stirnleuchte ging aus, Akku leer. Ich stand gegen Mitternacht ohne Licht im Whiteout, drei Stunden über meiner Eishöhle.
Bist du unruhig geworden?
Nur kurz. Zwei Schritte später brach ich mit dem Fuß in eine Randspalte des Gletschers ein. Das war die Rettung, ich konnte hineinklettern, war vor dem Wind geschützt. Um nicht auszufrieren habe ich die ganze Nacht Gymnastik gemacht, Kniebeugen, Schattenboxen und solche Sachen. Das waren die längsten sechs Stunden meines Lebens. Aber schlussendlich hört alles einmal auf.
Glaubst du an Schicksal?
Dieser Abstieg war wie ein Videospiel. Level geschafft, schon kommt das nächste Problem. Die Frage, die ich mir in solchen Situationen stelle, ist: Warum laufen die Dinge so, wie sie laufen? Ehrlich gesagt glaube ich daran, dass alles auf irgendeine Weise gesteuert wird.
Fehlt die geplante Winterbegehung des Cerro Torre. Machbar?
Auf jeden Fall. Ich habe es dreimal versucht, einmal haben mir nur 40 Meter gefehlt. Auf der Gipfelwand klebte ein Meter dicker Schnee, durch den hätte ich einen Tunnel graben müssen, wofür mir leider die Zeit gefehlt hat.
Wirst du es noch einmal versuchen?
Kann ich heute nicht sagen. Der Einsatz ist der höchste, den du bringen kannst. Aber wenn das Gefühl kommt, dann werde ich losziehen.