SPORTaktiv schaute sich vor der Rad-Weltmeisterschaft in Tirol mit Lesern die Strecken an, fand den Gnadenwald und landete in der Hölle. Ein Tretlager der besonderen Art.
Der Asphalt zieht schwarzgrau unter uns durch. In knalligem Orange erkennt man ein paar Markierungen. „Hier wird bis zur WM noch neu asphaltiert“, sagt Thomas Rohregger. „Wenn die Profis flach auf ihren Zeitfahrmaschinen liegen, wollen sie auf keine Asphaltkanten knallen.“ Wir sind mittendrin in der ersten Rennradfahrt, die SPORTaktiv mit der UCI-Rad-WM, der Tirol-Werbung, den Tourismusregionen und den Partnern Mavic, Trek und Nürnberger organisiert. Der Ex-Profi Rohregger ist ein Botschafter dieser WM (siehe Infobox hinten), hat die Strecken mitkonzipiert und stellt sich uns und ausgewählten SPORTaktiv-Lesern, alles fitte Hobby-Radler, als Guide zur Verfügung. Und vorweg: Ja, der Sieger der Österreich-Rundfahrt 2008 fährt immer noch verdammt gut Rad.
„Ein herrliches Bild wird das für die TV-Kameras, wenn sie bei der WM hier losstarten“, freut sich der Tiroler, als wir beim Start zum Mannschaftszeitfahren bei der Area 47, einem riesigen Outdoor-Freizeitpark, am Beginn des Ötztals stehen. Von dort rollen wir runter ins Inntal. „Gurrrrte Forrrt, Mandrrr!“, ruft uns ein älterer Herr vom Gehsteig aus zu. Das Tempo nähert sich dem 35er-Schnitt, ehe es vor Innsbruck knackig nach Axams und Götzens hinaufgeht. Durchatmen, Puls beruhigen. Der Zielort Innsbruck ist dann rasch erreicht. „Wollt’s noch die Höll’ fahren?“, fordert uns Rohregger heraus. Keine Frage. Ja, logo! Auch wenn es erst für Tag zwei geplant war. Beim Brunnen unten füllen wir sicherheitshalber unsere Trinkflaschen auf.
Der WM-Höhepunkt
Die „Hölle“ vom Stadtteil Hötting aus hinauf zum Gramartboden und zur Hungerburg hoch über Innsbruck heißt eigentlich Gramartstraße und ist vor der Weltmeisterschaft im Zentrum des medialen Interesses. Dabei wird sie nur beim Höhepunkt befahren, dem Straßenrennen der Herren am 30. September. Die Hölle wird acht Kilometer vor dem Zielbogen den Scharfrichter spielen. In der Hölle wird WM-Gold gegossen.
Die komplette Steigung hat 2,8 km mit durchschnittlich 11,5 Prozent. Der heißeste Teil der Hölle sind die letzten 400 Meter im Anstieg mit kurzfristig 28 Prozent. Wie sich das anfühlt, wollen wir unbedingt erleben. Ein Holländer hat sein Strava-Segment jedenfalls mit „niet normaal“ betitelt. Italo-Star Vincenzo Nibali hat sich bei einer Probefahrt dort das Strava-Krönchen (= die Bestzeit) geholt. Schon ganz unten, direkt vom Inn weg, ist die Straße so schmal, dass man mit den Rennrädern am Gehsteig fahren muss (und darf), weil Autos sonst gar nicht vorbeikommen. Gäste in den Cafés schauen uns teils mutmachend, teils mitleidig an.
Im Klettersteig
Langsam, unerbittlich und gnadenlos wird das Sträßchen enger und steiler. Von unten weg fahren wir im ersten Gang. Wer eine bergtaugliche Übersetzung hat, ist klar im Vorteil. Wer nicht (ich z.B.) presst die Pedale fast in Zeitlupe ums Tretlager. Karbon ächzt. Die Fittesten unserer Truppe hanteln sich dennoch Tritt für Tritt im Asphalt-Klettersteig nach oben. Es ist taghell, aber ich sehe Sterne und muss kurz stehenbleiben. „Warum habt’s kane E-Bikes, Burschen?“, lachen zwei Wanderer von oben runter. Tja, warum eigentlich nicht?, höre ich mich erstmals denken. Die Antwort gibt der Wandersmann: „Fleisch gehört gequält.“ Ich bin mitten in den 28 Prozent und das Vorderrad steigt hoch wie ein Lipizzaner in der Hofreitschule, nur eine Spur weniger elegant. Endlich oben, neuer Maximalpuls auf der Uhr. Zwei schieben, einer schultert sein Rad. „Bist du deppert.“
Oben am Ende der Hölle lehnt eine Anrainerin übers Gartentor. „Im Herbst liegt dort feuchtes Laub, da wird es ziemlich rutschig“, sagt sie und wirft einen Kennerblick hinunter in den Schlund der Hölle. In der Früh wagen sich hier sogar Rehe so knapp an die Stadt, erzählt sie. Gegenüber auf der großen Parkwiese spielen Kinder beim Brunnen, Männer werfen die Griller an, die Damen sonnen sich. Camping in der Hölle. „Die verrücktesten Fans werden hier in die Bäume hinaufklettern“, vermutet Rohregger. Zigtausende Italiener, Slowaken, Holländer, Belgier und heimische Fans werden erwartet, die Hölle wird kochen. Die Veranstalter werden den Zutritt aus Sicherheitsgründen limitieren. Und wir fragen uns: Quälen sich hier auch die Profis? Oder fliegen sie den Anstieg mühelos herauf? Die Hölle wird jedenfalls jetzt schon mit ikonischen Radsport-Quälgeistern wie der Mauer von Geraardsbergen und der Mur de Huy in einem Atemzug genannt.
Das SPORTaktiv-Racing-Team in Fahrt!
Generalprobe gelungen
Am zweiten Tag starten wir in Kufstein und radeln die WM-Strecke den Inn hinauf, werden von einer weiteren fiesen Steigung („Gnadenwald“, welch ein Hohn!) fast am falschen Fuß erwischt und rattern über den Olympia-Rundkurs Richtung Lans und Igls. Tirol zeigt sich von seiner schönsten Seite. Die Hölle geben wir uns als Finale ein zweites Mal, Ehrensache. Das teuflische Ding kommt uns schon geradezu vertraut vor. Jeder tut sich einen kleinen Hauch leichter. „Brutal einfach!“, stöhnt einer mit rotem Kopf. Die Luft zum Lachen hat aber keiner. ’S isch Zeit! Innsbruck und das Tiroler Land sind bereit für die WM. Die Hölle freut sich auch schon.
20. bis 30. September | UCI Rad-Weltmeisterschaft 2018 Innsbruck-Tirol |
So, 23. September | Mannschaftszeitfahren der Damen und Herren, Area 47 – Innsbruck, 54,5 bzw. 62,8 km |
Mo, 24. September | Einzelzeitfahren der Juniorinnen und Herren U23, Hall – Innsbruck, 20 bzw 27,8 km |
Di, 25. September | Einzelzeitfahren Damen Elite und Junioren, Hall – Innsbruck, 27,8 km |
Mi, 26. September | Einzelzeitfahren Herren Elite, Rattenberg – Innsbruck, 52,5 km |
Do, 27. September | Straßenrennen Juniorinnen und Junioren Rattenberg – Innsbruck, 70,2 bzw. 126 km |
Fr, 28. September | Straßenrennen Herren U23 (Kufstein – Innsbruck, 174,3 km) |
Sa, 29. September | Straßenrennen Damen Elite Kufstein – Innsbruck, 150,6 km, ab 12.10 Uhr |
So, 30. September | Straßenrennen Herren Elite (Kufstein – Innsbruck, 252,9 km, 4670 hm, ab 9.40 Uhr |