Was ist eigentlich das Schöne am Plagen, Kurbeln und Schnaufen? Oder anders gefragt: Was lässt das Herz eines wahren Kletterers am Rennrad höherschlagen?
Von oben brennt die Sonne, von unten glüht der Asphalt und mit jeder Kehre baut sich eine weitere Serpentine auf. Für die einen ein Albtraum – für eingefleischte Bergfahrer der Traum in den Alpen. Auch in diesem Jahr werden wieder Tausende Radler versuchen, beeindruckende Pässe und Bergstraßen zu erklimmen. Aber es müssen nicht immer die klingenden Namen sein, die Rennradfahrers Herzschlag (wegen der Anstrengung, aber auch aus schierer Freude an der Herausforderung und am Aufwärtskurbeln) beschleunigen. Damit liegt die erste Frage an unser Expertenteam dieser Geschichte – allesamt mit einer ausgesprochenen Liebe zum Rennrad ausgestattet – auf der Hand: Woher kommt die Begeisterung fürs Überwinden von Höhenmetern?
Gunter Brandstätter, Geschäftsführer der Tourismusregion Mittelkärnten, erklärt es so: „Für Rennradenthusiasten sind Bergetappen das ultimative Abenteuer. Es geht nicht nur darum, von A nach B zu gelangen, sondern vielmehr um die Herausforderung, sich selbst und seine inneren Grenzen zu übertreffen.“ Dazu ergänzt Raimund Stanger von Radsport Stanger in Kitzbühel: „Pass- oder Höhenstraßen sind meistens landschaftlich besonders reizvoll und der Ausblick auf die Bergwelt ist gigantisch. Außerdem gibt es eine Vielzahl an Bergstrecken, die ein Muss für jeden Rennradenthusiasten sind.“
Für Rennradprofi Letizia Borghesi vom amerikanischen „EF Education-Easy Post“-Team, die in der Region Trentino zu Hause ist, ist es nicht immer ein Genuss und dennoch faszinierend. „Das Erklimmen der langen, harten Anstiege stellt Körper und Geist auf die Probe. Es ist ein ständiger Kampf, trotz des Brennens in den Beinen und der Kurzatmigkeit das Leiden zu ertragen. Manchmal ist der Verstand im Zwiespalt und sagt, man solle langsamer machen, aber dann blickt man zurück und sieht, wie weit man schon gekommen ist, dann sammelt man die letzte Energie, um weiterzumachen.“
Startklar
Die Vorbereitung auf eine solche Tour von mitunter mehreren Tausend Höhenmetern sollte gut durchdacht sein. Dafür empfiehlt Raimund Stanger ein abwechslungsreiches Programm: „Es müssen nicht immer extrem lange Anstiege sein. Auch der kurze Hausberg reicht aus, wenn man ihn entsprechend oft fährt. Ideal ist es, wenn man Tempofahrten bzw. Intervalle einbaut. Das können kürzere von 1 bis 3 Minuten sein oder auch längere zwischen 5 und 10 Minuten.“ Und ein Tipp vom Profi: „Ich empfehle auch einen Testanstieg, bei dem die Zeit gemessen wird und so der Fortschritt beobachtet werden kann. So sieht man, ob das Trainingsprogramm die richtigen Reize setzt. Am Wochenende würde ich dann eine längere Fahrt mit einigen Anstiegen einplanen, um die aerobe Basis zu stärken.“ Zeitlich empfiehlt Gunter Brandstätter den Spätsommer oder Frühherbst als perfekten Zeitpunkt für die jährliche „Passkontrolle“, denn „da erreicht die eigene Fitness den Höhepunkt und das Wetter in den Bergen ist stabil. Es geht aber schon Mitte, Ende Mai los, wenn die großen Pässe geöffnet und vom Schnee befreit sind.“
Geschmackssache
Bei der Frage nach dem perfekten Anstieg scheiden sich die Geister – stundenlang hochkurbeln oder Meter für Meter die knackigen Rampen hinaufquälen? Bei Letizia Borghesi fällt die Antwort eindeutig aus: „Wenn ich ans Bergfahren denke, kommen mir als Erstes Anstiege mit vielen Haarnadelkurven in den Sinn, die kultigsten Berge bestehen aus unzähligen Kehren.“ Raimund Stanger: „Der perfekte Anstieg ist sicherlich jener, der mit einer entsprechenden Geschwindigkeit gefahren werden kann. Das hängt natürlich sehr vom eigenen Leistungszustand ab. Für einen Einsteiger sind so eher die weniger steilen Rampen feiner zu fahren, leistungsstarke Fahrer finden auch an steileren Anstiegen ihren Spaß.“ Und Gunter Brandstätter fasst es so zusammen: „Letztendlich kommt es darauf an, was sich am besten anfühlt und welche Art von Erfahrung gesucht wird. Manche mögen die Einfachheit und Vorhersehbarkeit von ordentlichen Gefällen, während andere die Abwechslung und das Gefühl des Hochkletterns von Kurve zu Kurve schätzen.“
So weit das Auge reicht
Wer seinen Rennrad-Urlaub gern mit „viel Pass“ garniert, der ist in den Alpen genau richtig. Hier schlängeln sich unzählige steile Bergstraßen die Hänge hoch. „Bei uns in Kitzbühel ist sicherlich das Kitzbüheler Horn die prominenteste Bergstraße; es wird nicht umsonst als der ‚steilste‘ Radberg Österreichs bezeichnet. Es gibt aber in unserer Region auch viele andere Strecken, speziell in den Seitentälern des Brixentals oder im Kaisertal“, so die Empfehlung Stangers. Im Trentino findet man unter den 23 hervorragend ausgewiesenen „Salita da Mito“-Anstiegen unzählige Legenden des Giro d’Italia wie beispielsweise den malerischen Manghen-Pass zwischen Valsugana und Val di Fiemme: „Aber es gibt nicht nur die Pässe, sondern auch andere versteckte Anstiege wie den zum Lago di Tovel, der mir am besten gefällt. Ein etwa 8,5 Kilometer langer Anstieg mit Rampen von fast 20 %. Ich liebe diesen Anstieg, weil die Landschaft um ihn herum bezaubernd und die Natur unberührt ist. Nach der Anstrengung erreicht man einen kleinen Almsee, der in der Vergangenheit für sein rot gefärbtes Wasser berühmt war.“
In Kärnten empfiehlt Gunter Brandstätter, Sport, Naturgenuss und Kultur zu verbinden: „Der Magdalensberg ist vielleicht nicht der bekannteste Berg in Kärnten, aber er ist definitiv ein Pflichttermin für Rennradfahrende und Besucher gleichermaßen. Und während der Tour können Radfahrer auch den Herzogstuhl besichtigen, einen steinernen Thron, der ein Symbol für die Selbstständigkeit Kärntens ist.“
Beim Rennradfahren geht es nicht um die Fahrt von A nach B, sondern darum, sich selbst und seine inneren Grenzen zu übertreffen.
Abwärts!
Vorsicht ist geboten, wenn es wieder nach unten geht. Mit den Scheibenbremsen am Renner hat sich die Bremsleistung verbessert, das richtige Betätigen will aber gelernt sein: „Wichtig ist, beide Bremsen zu verwenden“, rät Raimund Stanger, „die Bremsleistung ist am Vorderrad durch die dynamische Gewichtsverteilung wesentlich größer. Hier besteht bei Radfahrern oft die Angst, dass das Vorderrad wegrutschen kann, oder dass man einen Überschlag verursacht.“ Im Trentino gibt es Aktionen wie den Sellaronda Bike Day – zwei autofreie Tage im Jahr, an denen das Sella- und Grödnerjoch sowie Pordoi- und Campolongopass den Radlern vorbehalten sind. So bleiben Überraschungen bei der Abfahrt in Form anderer Verkehrsteilnehmer aus. Aber: „Mein Rat ist, bergauf, hart fahren, aber bergab, mit einer Geschwindigkeit, die nicht übertrieben ist und die den eigenen Fahrkünsten entspricht. Lass dich nicht vom Stolz treiben, anderen Radfahrern folgen zu müssen oder dich von ihnen abzusetzen. Bergab ist es dringend notwendig, einen kühlen Kopf zu bewahren“, empfiehlt Profi Letizia Borghesi. Gunter Brandstätter stimmt zu: „Vorausschauend und nicht über die eigenen Verhältnisse fahren, immer ein gutes Gefühl haben. Und auf den regelmäßigen Reifendruck-Check niemals vergessen.“
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