Auf zum Kultberg am Gardasee. Wie unterschiedlich werden Tremalzo-Schotter, See-Panorama und das Dolce Vita rund um Riva wahrgenommen? Und: Spürt man den Mythos Tremalzo immer noch? Jungfern-Fahrer Klaus Molidor und Wiederholungs-Täter Christoph Heigl auf Spurensuche.
Von Klaus Molidor (Tremalzo-Debütant) und Christoph Heigl (Tremalzo-Wiederholungstäter)
Und plötzlich ist alles still und weit. Der Atem geht tief, Bauch, Brustkorb, Flanken, alles ist sauerstoffdurchströmt auf diesem kleinen Felsvorsprung. Davor geht es fast senkrecht Hunderte Meter bergab, aber der Blick geht in die Weite der steilen Hänge, die sich wie Kulissen ineinanderschieben. Der erste Grat ist nebelumweht, dahinter bricht die Sonne mystisch durch die Wolkendecke. Mit jedem Atemzug wird die innere Ruhe größer, mit jedem Atemzug steigt das Gefühl der Freiheit. Hier bin ich dem Leben und dem Tod gleichzeitig so nah wie nie. Der Mythos Tremalzo hat mich fest im Griff.
Fünf Stunden davor: Endlich ziehen wir die Schiebetür unseres Roadsurfer-Camping-Vans zu und starten von Riva am Nordufer des Gardasees zur Tremalzo-Runde. Oft geplant, ebenso oft verschoben, wird das Highlight des Jahres endlich wahr. Schon die ersten Meter sind spektakulär. Nach der Altstadt von Riva geht es die Ponale hinauf. Eine Asphalt- und Schotterstraße, die direkt in den Fels der den See umrahmenden Berge gehauen wurde. Die Steigung ist angenehm, es kurbelt sich gut, auch wenn die Sonne schon viel Kraft hat. Nach einer halben Stunde verschwindet der See, es geht am neu angelegten Radweg ins Hinterland, mal Schotter, mal Asphalt, mal am Bach entlang. In Molina di Ledro schlängeln wir uns hintereinander zwischen alten Häusern und gusseisernen Laternen durch die Gassen. Das erste Mal kommt ein gewisses Unbehagen auf. 60 Kilometer liegen noch vor uns und noch doppelt so viele Höhenmeter, wie wir bisher gemacht haben. Der Ledrosee und der Trinkstopp am Brunnen wischen dann alle Bedenken weg, auch wenn es jetzt ein paar Minuten richtig steil bergauf geht. Dafür sind wir nahezu alleine und schrauben uns auf Asphalt höher und höher hinauf. Nie flach, aber auch nie steil erheben wir uns über Ledrosee und Wald. Dramatische Wolken schieben sich ins Bild und verstärken Anspannung und Vorfreude gleichermaßen. Am Rifugio Garda auf knapp 1800 Meter kommen Spaghetti Pomodoro und Espresso dann keine Sekunde zu früh, um Oberschenkel und Sitzfleisch einmal durchschnaufen zu lassen. Bis hierher war es schon schön, aber was danach kommt, ist unbeschreiblich.
Auf grobem Schotter geht es noch knappe zwei Kilometer bergauf, durch Nebelschwaden, aus denen es leicht regnet. Dann die Passhöhe, der erste Tunnel. Stockfinster ist es in der Mitte, ein Gefühl der Schwerelosigkeit überkommt mich, dann das Licht am Ende – eine Neugeburt in einer anderen Welt. Vor uns liegt ein Serpentinen-Karussell mit Tunnels, Kehren, leichten Wellen. Nach sieben, acht stellt sich der Flow ein, mit einer Glücksgefühlswelle, die mich millimeternah an den Übermut spült. Der Fotostopp am Felsvorsprung ist jetzt erreicht.
Einatmen, ausatmen, ich bin kurz davor, wie ein Adler die Schwingen auszubreiten. Die Gefährten holen mich zurück in die Normalität. Nach 7,5 Kilometern ist die Schotterkurvenhatz vorerst vorbei und wir sind im Wald. Es folgt eine neun Kilometer lange Querfahrt auf 1200 Meter Höhe, fast ausschließlich mit Blick auf den Lago und ohne nennenswerten Höhenmeterverlust. Mehr Genuss geht kaum. Kupiertes Gelände, ein paar kleine Stufen, kurze Anstiege, wieder Schotter und Waldboden – ich spüre: Heute ist mein Tag. Am Passo Rocchetta verzichten wir auf den Abstecher zum Foto-Point mit See-Hintergrund. Das Erlebnis geht vor und hier beginnt es noch einmal neu. Die Trailpassage Richtung Pregasina wird mir zum absoluten Highlight, ich überrasche mich selbst, fahre über Stufen, Steine und durch Kurven, an die ich sonst nie zu denken wagte. Vor der Kirche in Pregasina rinnt mir das Adrenalin aus den Ohren. Auf den Asphaltkehren runter ans Ufer wünsche ich mir, dass der Tag nie enden möge. Vergesst alles, was sie euch über die Tremalzo-Runde erzählt haben – es ist noch viel besser.
Anfang, Ende, Wiedergeburt. Der Tremalzo-Tunnel auf 1830 Metern ist im wahrsten Wortsinn ein Höhepunkt der Tour. Dann geht es knapp 2000 flowige Höhenmeter retour zum Gardasee runter. Über den berüchtigten Tremalzoschotter, durch alte Tunnel und Haarnadelkurven. Adrenalin pur.
Complimenti! Kollege Klaus hat bei seiner Beschreibung des Mythos Tremalzo in jedem Wort recht. Die erste Fahrt war für ihn offenbar ein genauso überwältigendes Erlebnis wie für mich damals. Nur liegt meine Erstbefahrung schon fast 30 Jahre zurück und fand in einem Sommer in den frühen 90er-Jahren statt. Viele weitere sollten folgten.
Was hat sich in der Zwischenzeit verändert? Am Berg naturgemäß wenig. Millionen Jahre alter Fels rührt sich nicht mehr. Die Tunnel, der Schotter, das Panorama, alles noch fantastico. Und auch wenn Gardasee-Bikepionier Uli Stanciu jetzt seufzen wird: Der Hotspot Gardasee Nord und der Tremalzo sind immer noch jede Reise wert. Stanciu wird allerdings nicht müde zu predigen, dass es noch viel schönere, viel weniger frequentierte und lohnendere Biketouren in der Region gibt. Doch für mich sind die 100 Jahre alte Militärstraße vom Tremalzo zum Passo Nota und der Passo Rocchetta jedes Mal aufs Neue ein Erlebnis – gleich wie in den 90ern, als der erste Bikeboomin den Mainstream schwappte und wir als junge Staunende mittendrin waren. Zur Feier des Tages war ich auch heuer mit einem flotten Race-Hardtail unterwegs. Damals gab es praktisch nix anderes, heuer aus Nostalgiegründen wieder, geht alles noch.
Aber rundherum hat sich vieles verändert. In den Hängen rund um die Mekkas Riva und vor allem Torbole wird gebaut, als gäbe es kein Morgen. Es ist zu befürchten, dass mit jedem Luxustempel und mit jeder feudalen Appartementanlage aus dem sportlich-dynamischen Gardasee eine mondäne Destination wie der Comer See oder der Lago Maggiore wird. Vor 30 Jahren hat sich hier niemand um Biketrails und Bikeverbotegekümmert, alles war chillig und (fast) alles erlaubt. Jetzt gibt es empfindliche Einschränkungen, Verbote und hohe Geldstrafen. Schöne alte Lago-Freiheit, wo bist du hin? Und dann die Tremalzo-Tour selbst. Wer sich damals über die atemberaubende Ponalestraße in die Bergwelt aufgemacht hat, war unter seinesgleichen. Biker und Bikerinnen mit verwegenem Blick und langem Tag vor sich, alle fit bis in jede Muskelfaser. Drehte man sich um, konnte man im Hafen von Riva die Frauen und Kinder erahnen, die mit weißen Taschentüchern nachwinkten und ihre Helden mit letzten Grüßen in die Berge entließen. Bergsteiger und Kletterer waren da, auch alles Helden.
Heute ziehen Horden von E-Bikern an uns vorbei, alles summt und brummt nach oben. Ohne E-Bike-Tempo wird man fast über den Haufen gefahren. Wir noch halbwegs fit in jeder zweiten Muskelfaser, um uns herum Flipflop-Touris und Akkuradler, sehr viele leider ohne Helm, ohne echte Bike- und Schutzausrüstung. Unser holländischer Mitfahrer lacht: „Das hättest du dir vor 30 Jahren nicht gedacht, dass du hier mal von Omas mit Handtaschen überholt wirst!“ Eine wohl 100 kg schwere Frau im unvorteilhaften Tank-Top rast am E-MTB an uns vorbei, ihre schwarzen Leggings zum Zerreißen gespannt, dass darunter der blau-weiße Bikini durchblitzt. Hilfe! Wo bin ich hier?
Bis zu den Cafés oben am Ledrosee ist der Radverkehr an diesem Juniwochentag erschreckend dicht, hier endet für die meisten nach 600 Höhenmetern aber die „Mountainbiketour“ – für uns beginnt sie hier erst. Rauf auf den Tremalzo lässt man den Trubel endlich hinter sich (E-Bike-Quote oben beim Rifugio nur noch 50 % ...), es wird ruhig, man ist wieder unter seinesgleichen. Hochmut und Arroganz? Vielleicht. Touché. Die Demokratisierung des Mountainbikens und dass jetzt alle überall hinaufkommen, muss ja nicht auch noch meinen geliebten Tremalzo weichspülen. Irgendwo muss Schluss sein. Aber vielleicht denke ich in 30 Jahren ganz anders.
Der Mythos Tremalzo ist oben in der Bergwelt noch immer spürbar. Weiter unten knabbern Touristenströme und E-Bike-Flotten kräftig daran.
Gardasee-ABC
Gardasee (Lago di Garda): Italiens größter See liegt in Oberitalien auf nur 65 Meter Seehöhe, im Süden Flachland, im Norden von knapp 2000 Meter hohen Bergen umgeben. Besonderheit: sub-mediterranes Klima. Hotspot für Surfer, Mountainbiker, Wanderer und Kletterer rund um Torbole, Riva und Arco.
Monte Tremalzo: 1973 m hoher Berg im westlichen Hinterland des Gardasees an der Grenze zwischen Trentinound der Lombardei. Die alte Tremalzo-Militärstraße führt im Schatten des Gipfels durch einen Tunnel auf 1830 Meter Seehöhe retour über Passo Nota zum See bei Vesio/Tremosine.
Ponale-Straße: legendäre Auffahrt (von 1848 bis 1851 unter Giacomo Cis gebaut) von Riva del Garda durch zerklüftete Felsen und Tunnels ins Ledrotal, vorbei an alten Bunkern und militärischen Stellungen. Wo sich früher Italiener und Österreicher bis in den Tod bekämpften, radelt und wandert man jetzt friedlich. Der Geist der Geschichte ist spürbar.
Die SPORTaktiv-Tremalzo-Tour: Riva, Ponale, Ledrosee, Tiarno di Sopra, Rifugio Garda, Tremalzo, Passo Nota, Passo Guil, Passo Rocchetta, Pregasina, Ponale, Riva. Daten: 70 km, 2220 hm, reine Fahrtzeit rund 6 Stunden. Die Tremalzorunde kann man in mehreren Varianten (z.B. vom Süden her oder direkt über den Ledrosee) fahren. Stilgerecht war unser Basecamp ein von Roadsurfer zur Verfügung gestellter VW-Campingbus (Ocean Edition) am Campingplatz Brione in Riva.
Weitere Infos zum Van: www.roadsurfer.com