E-Mountainbiken im Jahr 2020 oder: Wie das E-MTB das Leben eines Bike-Freaks positiv veränderte.
1985 ist ein interessantes Jahr. Die ersten europäischen Pässe werden ausgestellt, Michail Gorbatschow wird Generalsekretär der KPdSU und trifft Ronald Reagan. Das Wrack der Titanic wird entdeckt. Und ich? Ich bin bis dahin auf der Fantic, dann auf einer 4-Takt-Enduro unterwegs und mache erstmals mit großen Augen einen Ausflug im Wald auf einem geliehenen Kettler-Alurad „Mountainbike“. In den Monaten davor hatte ich ein Bonanza- Rad beim Springen im Park geschrottet (ohne gröbere Verletzungen). Ein Jahr später kaufe ich im Rahmen eines Auslandspraktikums in Atlanta, USA, ein Trek 7000. Starrgabel, Hardtail, V-Brakes. Die Enduro wurde umgehend verkauft. Allein in den Bergen unterwegs, ohne Lärm und Gestank. So viel besser. Eine kleine MTB-Szene in Vorarlberg wird geboren. Bei Touren werden zaghaft die ersten „Trails“ runtergeeiert. Abgang über den Lenker, das Standardprogramm in dieser Zeit.
Wir bohren Löcher in Kurbeln und Titan-Bar-Ends, um die Teile leichter zu bekommen. Fahren vom Vorderälpele ab. Die Abfahrten belasten die damals revolutionären Specialized-Mission-Control-2,5er-Reifen so stark, dass die Karkassen während des Downhills auf den viel zu schmalen, keramikbeschichteten Felgen zurückgezogen werden. Wir müssen vor der Abfahrt die Luft aus den Reifen lassen, die Ventile 45 Grad zurückstellen, Vollgas aufpumpen, unten angekommen sind die Ventile 45 Grad nach vorne geneigt – Abrissgefahr. Ach ja, Reifen zerfetzt es uns laufend. Grafton-V-Brakes sind State of the Art. Federgabeln? Wir machen Eigenimporte der ersten Manitou-Gabeln (mit 4 cm Elastomerfederung!), aus Tirol hören wir von Freunden Ähnliches und die RockShox Mag 21 ist unbezahlbare Rocket-Science. Die legendäre Horst- Leitner-AMP-Parallelogrammgabel überlebt im Schnitt 3 bis 4 Wochen, dann explodiert der Mini-Dämpfer. Tune und Ringlé offerieren die ersten Ultraleicht-Titan-Schnellspanner, Answer den Hyperlite-Lenker. Yeti hat das ARC, eine unfassbare Skulptur aus Easton-Aluminium. Im Montafon wird ein erster „Singletrail“ offiziell freigegeben, ich aber für einen Artikel über „Biken im Montafon“ beinahe verklagt (der legendäre Tourismuschef interveniert).
Ich pendle beruflich zehn Jahre fürs Bike-Magazin zu Events und Produktpräsentationen in die USA. Party on! Unfassbar, was dort abgeht. 2004 bauen wir für die Innsbrucker Nordketten- Bahn den steilsten Trail Europas, den „Nordketten Singletrail“. Es gibt ihn heute noch und die DH-Jungs, die heute dort oben trainieren, gehören zu den richtig schnellen Fahrern. Wir gründen die Innsbrucker „Vertrider“, fahren steilste Alpentrails und die ersten Anfragen aus der Fahrradindustrie kommen, was man denn fürs Vertriden so für Bikes, Reifen, Bremsen, Geometrien usw. brauche. Unglaublich, dass wir die frühen Jahre der Bike-Technik überlebt haben. DIN-Normen? Rahmenprüfstände? Fehlanzeige. Wir haben 200 Seiten Presse-Coverage in einem Jahr, produzieren unsere eigenen Anarcho-Vertride-Videos. Es gibt legendäre Biker-Partys im Jimmy’z in Innsbruck. Die Szene hat einen Mega-Drive. Und so vergeht die Zeit wie im Flug!
Der Einschnitt
Natürlich kommt irgendwann ein „Hänger“. Den hatte ich 2010. Durch eine lange fehldiagnostizierte Innenohrerkrankung konnte ich drei Jahre nicht mehr biken. Kurze Biketrips waren ein Desaster. Dann die richtige Diagnose, aber die Reha dauerte noch 2 Jahre ohne Biken – ich kam nicht mehr ins Training rein, war frustriert und fertig. Joggen ging nicht, Wandern nur ein bisschen. Die Berge und die vielen Touren, aber auch die Fitness der Jahre zuvor schienen unerreichbar. Ich war raus aus der Branche, es tat einfach zu weh. Der Weg zurück war ein echter Zufall: Bei einem Besuch eines befreundeten Bergführers stolperte ich in dessen Spaßgarage über ein Flyer-Uproc-Enduro. Der Kennerblick sagte mir: 26“ hinten, 27,5“ vorne, RockShox-Fahrwerk mit 160 mm, Wow. Alpin sicher gut, „und was ist das für ein komischer Motor da drin?“ „Ein Bosch“, sagte der Freund, „400-Wh-Akku, den zweiten tuasch in den Rucksack.“ Und: „Probier’s gerne mal aus, i brauch’s die Woche ned. Des Rad isch gewaltig, aber pscht, isch halt ein E-Bike. Die Leut reden blöd, gewöhn dich dran.“ In der folgenden Woche fuhr ich so viel Höhenmeter wie die letzten Jahre nicht mehr und war wieder am Bike auf meinen geliebten Bergen unterwegs, ohne gleich blau im Gesicht zu werden. Unfassbar, was diese lange vermisste Lebensqualität mit einem macht. Und das alles wegen eines fröhlich lärmenden Bosch-Motors im Bike.
Ich testete für Cube, machte wieder Magazin-Tests, dann kamen Aufträge und Tests für KTM und die Gründung einer kleinen Beratungsfirma mit Lutz Scheffer (Leiter Design- und Entwicklungscenter Rotwild Bikes, Garmisch). Lutz ist der gleiche Bike-Fanat wie ich, wir denken E-MTB 24/7, testen, sind für unsere Kunden rund um Garmisch oder Innsbruck unterwegs und fasziniert von der neuen Sportart EMTB, die das klassische MTB neu denkt, ergänzt und weiterentwickelt. Ich manage für Simplon in Vorarlberg das E-MTB Factory-Team. Hier helfe ich mit meinem Team bei der Entwicklung mit. Viele unserer klassischen MTB-Touren haben wir mit dem E-MTB neu denken müssen, und sie auf neue Art und Weise kombiniert. Aus einer 1-Gipfel 1-Hütte-Tour und Anreise mit dem Auto werden jetzt 2-Täler-2-Überschreitungen und Anreise mit dem Bike, Abfahrt von der Haustür. So effizient und leistungsfähig sind die aktuellen Motoren und Batterien schon. Was uns völlig neue Möglichkeiten eröffnet. Speziell das Auto bleibt – in Kombination mit Zug – einfach stehen. Die Fahrtechnik ist natürlich ein weiteres Thema. Im Detail ändert sie sich bergab beim E-MTB nur wenig, aber bergauf ist alles neu und spannend: War für uns früher die Abfahrt das wichtigste, die Auffahrt auf einer Tour Mittel zum Zweck, so hat sich das komplett geändert.
Dank E-MTB sind Auffahrt und Abfahrt gleichermaßen interessant, die Abfahrten sogar teilweise gar nicht mehr soo wichtig, man kennt sie eh und hat sie schon hundertmal gemacht. Bergauf suchen wir uns passende, einsame Wege und trialen diese hoch, erweitern und erproben unsere Fahrtechnik und haben so Workouts, die es so beim klassischen MTB noch nicht oder nur sehr, sehr selten gab. Denn früher haben wir Wege, die wir heute hochtrialen, meist sofort hochgetragen. Trial-Stars wie Stefan Schlie haben sich viele Gedanken über E-MTB-Uphill-Fahrtechnik gemacht und es ist erstaunlich, was hier alles möglich wird. Aber natürlich ist das etwas für Alpinspezialisten. Der Großteil genießt seine Feierabend- oder Wochenendrunde zur Einkehr auf Hütten und Almen und das ist super so. Doch „Uphillflow“ definiert einen Teilaspekt des MTB-Sports neu. Spannend ist natürlich die Akku-Planung: „Wie auf dem Mount Everest die Sauerstoffflaschen“, wie ein Kollege einmal ironisch bemerkte, haben wir uns ein Gefühl für die Höhenmeter-Reichweite unserer Bikes und der verwendeten Motoren erarbeiten müssen. Je nach Unterstützungsstufe „verheizen“ manche Motoren regelrecht Akkus, machen schon nach 700 bis 800 Höhenmetern schlapp, andere sind supereffizient und thermisch belastbar, halten 1300 bis 1500 hm pro Akku (abhängig vom Fahrergewicht und der gewählten Unterstützungsstufe). Das ist dann eine ganz andere Planung.
Bergauf suchen wir einsame Wege und trailen diese hoch. Erstaunlich, was alles möglich ist.
Große Reichweiten
Besonders angetan bin ich vom aktuellen Bosch-Dual-Battery-System, wo der aktuelle 625-Wh-Akku mit einem optionalen klassischen 500-Wh-Akku kombiniert wird, für 1125 Wh. Alter Schwede, damit lässt sich auf großen Alpintouren, Transalp-Routen oder weiten Runden richtig etwas anfangen und der Rucksack ist wieder leicht. Dazu noch ein kleines Reiseladegerät und der Biketag kann im Hochsommer auch mal auf 8 Stunden, 50 km und 5000 hm ausgedehnt werden. Damit kommt auch eine Super-Fitness, und ein klarer Kopf. Ausbrennen und überanstrengen war gestern, müde wird man trotzdem, das E-MTB ermöglicht eine präzise Trainingssteuerung und entwickelt sich nebenbei zum Multitool im Reha-Bereich. Ich finde aber auch spannend, in welche Richtungen sich das E-MTB aktuell entwickelt. Die feinen E-All-Mountain- und E-Enduro-Bikes werden ergänzt durch sehr leichte, minimal motorisierte Bikes mit kleinen Batterien. So findet jeder zu seinem E-MTB-Stil und Glück. Lässig!
Für all das bin ich dem E-MTB unendlich dankbar. Ich habe noch 30 Jahre zum Biken, dann bin ich 80 Jahre alt. Bis dahin werde ich maximal viele Touren fahren und so viel es geht in den Bergen unterwegs sein. Es gibt noch so unendlich viele neue Touren zu erfahren. Dann wird es aus meiner Sicht keine Unterscheidung MTB/E-MTB mehr geben, alle Bikes haben wohl um die 16-17 kg, einen superleichten, effizienten, sehr dynamischen, im Bedarfsfall leistungsstarken, aber auch samtweich zu fahrenden Motor und noch einmal deutlich mehr Reichweite. Da werden wir alten Knacker noch lange fröhlich weiterfahren, Sonnenuntergänge auf unseren geliebten Hütten genießen und zurückschauen auf ein Bikeleben, wie es aufregender und schöner nicht hätte sein können. Hätten wir bloß diese geilen Bikes schon in den 80er-Jahren gehabt! Ihr habt ja alle keine Ahnung, was für ein Glück ihr mit modernen E-MTBs habt!
;-) Gern geschehen. Ride on!
Christoph Malin
ist in seiner Freizeit und beruflich viel in Sachen (E-)MTB unterwegs: Journalismus, Tourismus, Umsetzung von MTB-Projekten, Tests für die Fahrradindustrie, Mitbegründer der MTB-Ausbildung beim Alpenverein, E-Bike-Entwicklung.