Die Fanggekarspitze ist kein Arlberger Klassiker. Sie ist kein schimmerndes Massiv wie die Rote Wand, keine Ikone wie die Valluga. Vielleicht wirkt sie gerade deshalb so anziehend auf den Local Freerider und Ortovox-Athleten Simon Wohlgenannt. Er hat sie lange beobachtet, lange studiert und sich langsam angenähert, bevor er seine Spur in ihre Flanke zeichnete.


Was ist der Kern des Freeridens? „Das Spiel mit den Elementen“, meint Simon. „Für mich spielt dabei auch Kreativität eine wichtige Rolle.“ Kreativität? „Ja, du suchst einen Hang, einen ästhetisch schönen Hang, in den du deine eigene Spur zeichnest. Verspielt, rhythmisch, im Einklang mit den Gegebenheiten.“ Aufspüren, hineinspüren, Spuren legen.

Simon Wohlgenannt ist Freeride Guide und staatlich geprüfter Skilehrer und Skiführer, seit kurzem Buchautor und ist ein geduldiger Mensch. Am Arlberg kennt er vieles. Sehr vieles. Aber die Nordrinne der 2.640 Meter hohen Fanggekarspitze hält sich bedeckt. „Es ist ein faszinierender Berg mit einer sehr coolen Flanke. Ich habe so oft rübergeschaut und mich gefragt, ob es über die exponierte Rampe oben einen Weg in die nordseitigen Rinnen gibt und man durchgehend abfahren könnte.“

Am Arlberg neue Spuren zu legen ist nicht einfach. Er ist alles andere als ein unbefahrenes Terrain. Die Wiege des Skifahrens, the Home of Ski Bums. „Aber wenn man es anders angeht, gibt es noch viel zu entdecken“, meint Simon. „Mir geht es nicht um die steilste, höchste, längste Abfahrt oder ums Höhenmetersammeln. Mich treibt viel mehr die Neugier das Erkunden und die Vorstellung, eine besondere Spur zu legen.“

Eine Spur, die vergänglich ist. Eine Spur, die bald neuer Schnee bedeckt, der Wind verbläst oder die Sonne zum Schmelzen bringt. In der Natur ist nichts für die Ewigkeit. In der Natur ist alles in Bewegung. Die Natur ist lebendig. Und am schönsten ist es, wenn man sich als Mensch in und mit ihr bewegt. Simon muss es wissen. Er hat Biologie studiert, „die Wissenschaft des Lebendigen“. Wer selbst noch lange lebendig sein möchte, sagt Simon, „und ein alter Freerider werden will, der muss auch Grenzen anerkennen können.“ Die persönlichen Grenzen, die Grenzen des Naturschutzes wie auch die naturgegebenen Grenzen.

„Für besondere Projekte muss man viel Wissen mitbringen und vor allem auch viel Geduld. Es können Jahre vergehen, bis der richtige Moment gekommen ist und die Verhältnisse stimmen. Die Fanggekarspitze geht vielleicht an fünf Tagen in der Saison.“ Im Hochwinter, erklärt der 39-Jährige, seien die Nordhänge eigentlich unfahrbar. „Es gibt so viele Schichtungen in der Schneedecke, dass es nur schwer abschätzbar ist, ob das hält.“ Die eigentliche Steilwandsaison kommt am Arlberg im März/April, wenn nach Wärmeperioden der Schnee durchgeschmolzen ist – „und wenn es dann nochmal 10 cm drauf geschneit hat, dann hat man Bombenverhältnisse.“

Doch einmal mehr gibt es 2023 eine „merkwürdige Saison“ mit einem April, der sich winterlicher präsentiert als der Winter. Statt 10 cm fallen 75 cm Neuschnee. Simon bespricht sich viel mit seinem Team, das er für das Projekt zusammengestellt hat: Freeride-Kollegin und Bergführeranwärterin Lena Koller, Filmer Fabian Spindler und Fotograf Max Draeger. Sie entscheiden, sich langsam an die Fanggekarspitze heranzutasten.

Langsam nicht nur, weil Simon mit dem Bike von der Haustür weg gen Arlberg startet, „um auch so einen neuen Weg zu gehen.“ Gemeinsam steigt die Crew auf und fährt zunächst „ein paar gemütliche Hänge um die Rüfispitze, um die Schneedecke einzuschätzen. Wir haben kontinuierlich die Hangsteilheit gesteigert und sind schließlich noch auf die Erlispitze, haben ein Schneeprofil erstellt und sind dann in einem unglaublichen Sonnenuntergang abgefahren.“

Als Basislager dient die Stuttgarter Hütte. Ohne Schlafsäcke ist die Nacht im Winterraum kalt – und kurz. Gestartet wird früh am Morgen. Und das in die Wolken hinein. Die Crew ist angespannt. „Es sah nicht gut aus, aber wir hatten Glück und kurz vor dem Gipfel der Fanggekarspitze kam die Sonne durch. So konnten wir sehen, dass es über die Rampe und eine kurze Steilstufe direkt in eine durchgehende Rinne geht – schmal und steil und spannend.“ Der Auftakt ist ein Traum. Der extrem steile Einstieg nah den Felswänden präsentiert feinsten Powder. Im zweiten Abschnitt jedoch wird es „zäch und technisch relativ schwierig“. Die Sonne hat schon zu viel Zeit auf den Schnee gebrannt – und jetzt brennen die Oberschenkel.

Vier Lines werden in die Flanke gezeichnet. Lange bleiben sie nicht sichtbar. Doch in das Gedächtnis der vier Freerider haben sie sich fix eingeschrieben. Unser Gehirn speichert speziell neue Erlebnisse mit hoher Priorität ab. Die Befahrung als Erfahrung, die bleibt. Die Suche nach neuen Wegen auch.