Ist man mit 41 schon eine Legende? Bergläuferin Andrea Mayr will weiter die Biologie austricksen und als Vollzeit-Ärztin die Weltelite der Vollzeitprofis narren. Olympia 2026 als Seniorenspiele? Nicht ausgeschlossen. Ein Interview über Freude, Erdung und Hormone.
Mit Sicherheit ist Andrea Mayr eine von Österreichs besten Sportlerinnen. Sie hält den österreichischen Rekord im Marathon (2:30:32 Stunden, ex aequo mit Eva Wutti), im Halbmarathon (1:11:34 Stunden), über 10 km (33:12 min), über 3000 Meter Hindernis und Dutzende Streckenrekorde bei Bergläufen, wo sie stets die besten Männer in Bedrängnis bringt – und die allermeisten auch hinter sich lässt. Heuer im Juni schaffte Mayr den zehnten Berglauf-Staatsmeistertitel in Folge, den insgesamt 14. Bergtitel. Auch international ist sie kaum zu biegen, sechsfache Berglaufweltmeisterin, dreifache Europameisterin. Doch sie kann nicht nur laufen. Die Oberösterreicherin ist Weltmeisterin im Skibergsteigen, Vizeweltmeisterin im Duathlon, Siegerin bei Treppenläufen in Taiwan und New York und dreifache Staatsmeisterin im Bergzeitfahren der Radsportler. Wikipedia listet sie als 45-fache Staatsmeisterin, so genau weiß das aber niemand. Ihre Kollegin, die Tiroler Bergläuferin Patrizia Rausch, brachte es einmal so auf den Punkt: „Andrea kann alles, außer Knöpfe annähen und ruhig sitzen.“
Mit Sicherheit ist Mayr auch eine der außergewöhnlichsten Sportlerinnen dieses Landes, immer für Zitate gut, die aufhorchen lassen. Sie sieht sich nämlich in erster Linie als Ärztin. Schon nach Olympia 2012 meinte sie, sie werde dann ja Vollzeit arbeiten und nicht mehr so schnell bleiben. Irrtum. Wenn Profis frisch aus dem Traininglager zu einem Wettkampf anreisen, kommt die Chirurgin unter Umständen direkt aus dem OP zum Bewerb. „Das erdet“, wie sie uns erklärt. Auf die Frage eines Journalisten, wovor sie am meisten Angst hat, antwortete sei einmal: „Ich habe Angst vor einem völlig normalen Alltag.“ Die vielfache Weltmeisterin trainiert ohne Puls und GPS, ohne Coach, ohne Trainingsplan. Auf Medienarbeit im herkömmlichen Sinn legt die 41-Jährige kaum Wert. Website? Social Media? Fehlanzeige. Wozu auch? Für SPORTaktiv hat sich die Ärztin etwas Zeit genommen. Nach einem 24-Stunden-Dienst im Krankenhaus und einem anschließenden Berglauf übrigens.
Sie haben in einem Interview gesagt, sie wollen der Biologie so lange wie möglich ein Schnippchen schlagen und sind erstaunt und erfreut, wie gut das geht. Da waren sie 39. Im Herbst werden Sie – mit Verlaub – 42 ...? Wie lange geht das so weiter?
Ich denke, es geht schon ständig bergab (lacht). Aber wenn man mit 41 noch Staatsmeisterin im Berglauf wird, ist das auf diesem Niveau noch weit weg von katastrophal.
Welche Eklärungen gibt es – neben einem offenbar besonders leistungsfähigen Körper – dafür?
Ich habe echten Spaß am Sport und anders als bei vielen ist das bei mir keine Floskel. Andere mögen irgendwelche Postings auf Instagram machen, wie viel Spaß ihnen das Training gerade wieder gemacht hat, bei mir ist das echte Freude. Während andere Medienarbeit machen und Journalisten anrufen, gehe ich noch zum Gipfel oder zum Kreuz und genieße die Aussicht und wie herrlich ich es habe. Ich hab mir das noch nie überlegen müssen, warum ich so erfolgreich bin. Ich mache das aus Spaß. Ich habe keinen Sponsor mehr, bekomme null Förderung, ich bin niemandem etwas schuldig, ich habe ja meinen Job. Ich muss meinen Namen nicht in der Zeitung oder in Magazinen lesen. Ganz ehrlich, das brauche ich alles nicht.
Sport mit purer Leidenschaft. Ist es bei den Profisportlern also oft zu sehr „Beruf“?
Ganz sicher. Der Sport ist nicht mein Beruf, ich bin Ärztin. Also mache ich den Sport aus echter Überzeugung und mit Freude, das macht den entscheidenden Unterschied. Ich habe mittlerweile keinen Trainer mehr, habe keinen Trainingsplan, ich sportle völlig nach Lust und Laune. Wenn ich weglaufe, weiß ich noch nicht, ob es mir nach 3 km nicht mehr taugt oder ob ich drei Stunden wie verrückt durch die Gegend renne. Das war früher mit fixen Plänen und Trainern schwierig, weil ich vorher nicht abschätzen kann, wie fit und motiviert ich noch bin, wenn ich aus dem Dienst im Krankenhaus komme. Der Trainer natürlich auch nicht. Und dann standen harte Intervalle am Plan, das geht nicht. Außerdem bin ich in der glücklichen Lage, mit 41 selbst zu wissen, was mir guttut.
Ich mache das aus Spaß. Ich habe keinen Sponsor mehr, bekomme null Förderung, ich bin niemandem etwas schuldig. Ich muss meinen Namen nicht in der Zeitung oder in Magazinen lesen.
Was tut Ihnen gut?
Wenn ich den Hund bei meiner Mama gleich in der Nähe abhole und hier einfach auf den Berg renne. Oder die ,Laufausflüge‘, so nennen wir es, mit meinem Mann. Wir können stundenlang am Berg herumrennen. Oder Bergtouren mit der Mama. Nenne ich das Training? Nein, das ist Spaß und Freude. Ich habe keine Ahnung, wie viele Stunden ich pro Woche „trainiere“. Früher bin ich mit dem Rennrad in der Früh die 22 km in die Arbeit gefahren, jetzt wohne ich nur noch einen Kilometer vom Spital entfernt. Und trotzdem schnappe ich in der Früh das Radl, fahre noch auf den Gmundnerberg, dann direkt in die Klinik, dusche und gehe in den Dienst.
Und im Winter?
Auch der Winter hat jetzt eine neue Qualität. Früher hab ich mich geärgert, wenn ich wegen Schnee, Eis und Kälte nicht trainieren konnte. Aber jetzt, wo ich das Skitourengehen entdeckt habe, schnappe ich die Ski und mache nach dem Dienst gleich noch eine Tour. Heuer habe ich am 28. April noch meine letzte Skitour gemacht. Nicht auf einem Hochplateau irgendwo in Tirol – in Oberösterreich! In Obertraun, am Krippenstein, 1600 Höhenmeter, und du kommst heim und es ist noch nicht einmal finster, herrlich.
Sie wurden bei Ihrer Premiere im Skibergsteigen 2017 völlig überraschend gleich Weltmeisterin im Vertical. Bleibt diese Sportart ein Thema?
Die WM nur, wenn ich in Form bin. Die anderen Bewerbe nicht, weil ich gar nicht so viel Urlaub nehmen kann, dass ich zu den Weltcups reisen könnte.
Sie haben Dutzende Staatsmeistertitel in vielen Sportarten, der Berglauf bleibt als größte Liebe im Fokus?
Im Berglauf habe ich sicher am meisten erreicht. Und auch wenn es schwieriger wird, ich bin immer noch extrem ehrgeizig.
Was treibt Sie nach 20 Jahren Spitzensport noch an? Pokale? Rekorde? Die pure Leistung an sich?
Pokale? Ernst gemeint???
… ja?
Pokale haben genau die fünf Sekunden einen Sinn, wenn du sie am Podest überreicht bekommst. Sonst null. Ich habe keinen einzigen herumstehen. Viel mehr Freude habe ich mit einem Geschenkkorb mit nachhaltig produzierten Lebensmitteln. Und während eines Rennens ist es schon sehr lässig, wenn du spürst, wie es rennt. Die Hormonausschüttung im Ziel ist ein Hammer. Ja, es sind wohl die Hormone (lacht).
Wie lange hält das an?
Oft stehe ich am nächsten Tag wieder im OP-Saal und meinen Kollegen ist es doch herzlich egal, ob ich am Vortag gerade Berglauf-Weltmeisterin geworden bin oder nicht. Und ich denk mir: Ach, lasst’s mich doch noch ein bissl schweben auf meiner Glückswolke. Und anders herum erinnere ich mich an ein Rennen, nach dem ich am nächsten Tag noch bitter enttäuscht in den Dienst gegangen bin. Aber auch das ist meinen Kollegen doch zu Recht egal – und meinen Patienten sowieso. Das erdet dich, das holt dich zurück aus einer künstlichen Welt.
Es ist der Welt doch wurscht, ob wir auf irgendwelchen Bergen herumrennen oder Skitouren machen. In Wahrheit ist das bedeutungslos.
Ist der Sport eine künstliche Welt?
Na klar, es ist der Welt doch wurscht, ob wir auf irgendwelchen Bergen herumrennen oder Skitouren machen. In Wahrheit ist das bedeutungslos. Doch irgendwie ergibt das immer eine künstliche Aufmerksamkeit. Gut, Sportarten wie Fußball sind immer im Fokus, aber von den Sportschützen bekommst du nur alle vier Jahre bei Olympia was mit.
Gutes Stichwort: Olympia. Nationalteamkollege Armin Höfl freut sich auf die Olympiapremiere des Skibergsteigens 2026 in Cortina. Da ist er mit 36 im besten Alter. Wenn Sie die Biologie weiter narren, geht sich das aus?
Da bin ich 47, das müssten olympische Seniorenspiele sein. Sagen wir so, am Plan habe ich das sicher nicht, aber sag niemals nie. Jeannie Longo hat im Radsport gezeigt, was möglich ist. Dass Skibergsteigen olympisch wird, ist wirklich super und Cortina und Italien wird ein würdiger Boden, dort leben sie den Bergsport wirklich, viel mehr als in Österreich. Und wenn es nicht ich bin, rate ich allen, sich den Namen Paul Verbnjak zu merken. Da hat Österreich ein Riesentalent. Außerdem ist nicht das Vertical olympisch, sondern das Individual – und dazu muss man auch bergabfahren können. Ich kann aber nicht gut genug Ski fahren (lacht).
Berg, Bahn, Straße, Cross, Stiegenlauf, Radsport, Duathlon, Skitouren – alles mit Titeln und Rekorden veredelt. Welche Sportart könnte Andrea Mayr noch reizen?
Oh, gereizt hat mich immer viel. Triathlon? Mit meiner Stärke im Laufen und Radfahren? Sehr interessant, leider schwimme ich auch viel zu schlecht, man kann es wohl nur als „baden“ bezeichnen. Aufs Kitzbüheler Horn gab es einmal einen Berg-Triathlon und die Frage war, wie viel Rückstand ich nach dem „Baden“ haben dürfte, um im Bergaufradeln und dem Berglauf oben noch zu siegen. Haben wir verworfen. Langlaufen ist auch ein wunderbarer Sport, das hat mich immer gereizt, Rudern übrigens auch. Für vieles bin ich jetzt zu alt.
Kurios, aber Sie halten immer noch den Rekord beim Stiegenlauf im Empire State Building in New York, den sie drei Mal in Folge und zuletzt 2006 mit Bestzeit gewonnen haben. 1576 Stufen und 320 Höhenmeter bis zur Aussichtsplattform im 86. Stockwerk in 11:23 Minuten. Sollte der Rekord fallen, kehren Sie nach New York zurück?
Ja, warum nicht? Das könnte ich mir sogar vorstellen. Auch in Taiwan gibt es mit dem „Taipeh 101“ so ein extremes Rennen über 91 Stockwerke, das ich vor 15 Jahren schon gewonnen habe. Vielleicht einmal im Urlaub. Apropos Urlaub: Ich muss immer lachen, wenn Sportler nach einer Großveranstaltung oder einem erreichten Ziel sagen, sie freuen sich jetzt auf den wohlverdienten Urlaub. Weil bei mir ist das genau umgekehrt. Ich freue mich auf den Urlaub, weil ich neben einer 48-Stunden-Woche als Ärztin eben nur mit Urlaubstagen auf Trainingslager oder zu Wettkämpfen fahren kann.
Gleich die Abschlussfrage an die Ärztin: Wie gesund ist diese Art von Spitzensport?
Mehrere Antworten: Erstens ist es viel unklüger und ungesünder, keinen Sport zu machen. Zweitens ist es immer eine Frage der Dosis. Und drittens immer eine Frage der Sportart. Beim Berglaufen ist das anders zu beurteilen als bei Kontaktsportarten. Kampfsportler, die wissen, jetzt tut es gleich weh – das kann ich mir gar nicht vorstellen. Oder kennen Sie einen Downhill-Biker, der noch nie mit einer Unfallchirurgie Kontakt hatte? Hochleistungssport an sich würde ich nicht als gesund bezeichnen, aber es gibt sicher schädlichere Dinge. Ich bin heute nach dem Dienst gerade eine Stunde am Berg oben gelaufen. Da sind derzeit viele Tagestouristen unterwegs und es ist faszinierend, wie viele Kinder noch in Kinderwagerln herumgeschoben werden. Am liebsten würde ich allen Eltern zurufen: Hallo? Die sind alt genug! Lasst’s die doch selber herumlaufen.