Es ist Zeit für den Materialcheck. Denn merke: Der Zustand deiner Ausrüstung ist das Spiegelbild deines Selbsterhaltungstriebes.
Von Herbert Ranggetiner
Mit einem Knall löste sich mein Seil nach einem Mantelriss in seine Bestandteile auf. Mit vollen Hosen und ohne schlauen Spruch auf den Lippen hing ich 30 Meter über festem Boden in der Felswand. Vor fast 20 Jahren war das, ich stürzte in einer Kletterroute, die ich nicht kannte, kurz vor dem Stand im weiten Bogen ins Seil. Die Expressschlingen waren fix in der Route montiert und ich bretterte in einen durchgeschliffenen Karabiner, den ich beim Klettern nicht bemerkte.
Die scharfe Kante kappte den Mantel und ich durfte mich noch über das verbliebene Innenleben (auch Seilkern genannt) erfreuen. Kurz danach startete ich – kreidebleich, aber unversehrt – meine erste Fehleranalyse zum Thema Materialcheck. Mein Seilpartner Franz sah die Sache damals recht pragmatisch und gelassen und brachte die Situation auf seine Art und Weise auf den Punkt: „Herbert, du bist einfach zu fett und stürzt zu wuchtig. Jammer nit herum – der Seilkern hält noch das zehnfache deines Gewichtes."
KEINE KOMPROMISSE BEI SEIL & CO.
Heute halte ich mich in Sachen Ausrüstung an jene Dinge, die ich weiß und ich vermeide immer Experimente in der Grauzone des „Vielleicht könnte das noch halten"-Universums. Sich selbst Kompetenz und Wissen vorzugaukeln, wo keines ist – das ist der Negativboomerang, der dir das Genick brechen kann.
Ich bin auch kein großer Freund eines stoischen „Sich-an-Tabellen-Richtlinien-Vorgaben-Haltens", wenn es ums Aussortieren von Seilen, Karabinern, Gurten oder anderen Ausrüstungsteilen geht. Wie viel muss ein Karabiner eingeschliffen, ein Gurt abgewetzt oder ein Schuh kaputt sein, um ihn auszutauschen? Ich meine: Leute, geht vor allem bei tragenden Teilen wie eben Gurt, Seil, Expressschlingen und Co. keine Kompromisse ein! Hast du kein gutes Gefühl mehr, dann sofort weg damit. Ab in die Mülltonne – und auch nicht als Zweitgurt bunkern, denn der Wohlfühlfaktor beim Klettern wäre sowieso weg und die Sicherheitsreserve willst du doch gar nicht ausreizen.
Eventuell kann man die beliebten Tabellen und Richtlinien ja als Anhaltspunke sehen, aber entscheidend ist immer die Eigenverantwortung. Ja, du hast eine Verantwortung dir selber gegenüber, denn es geht hier um deinen Allerwertesten! Der finanzielle Aspekt eines Neukaufes steht in keiner Relation zu dem, was einem bei Materialversagen bevorsteht. Denn eine zweite Chance gibt es im Klettern in den allermeisten Fällen nicht.
UNSICHERHEITSFAKTOR MENSCH
Ich arbeite übrigens nicht für die Kletterindustrie und interessiere mich auch nicht für deren Umsätze. An erster Stelle steht für mich das Individuum Mensch und seine Sicherheit. In puncto Qualität und Langlebigkeit der Ausrüstung ist der Standard heute sehr hoch – aber eben im Neu- und Optimalzustand gemessen. Eine Gebrauchsanweisung für Handling und Haltbarkeit in Bild, Text und zehn Sprachen macht die Verwendung der Ausrüstung zudem idiotensicher. Der nicht kalkulierbare Unsicherheitsfaktor heißt Mensch – denn der holt sich immer öfter sein Wissen aus dem Internet oder sonst wo her, ohne den Wahrheitsgehalt zu hinterfragen.
MATERIALCHECK IST PFLICHT
Mein Ratschlag: Lernt wieder, selbst zu entscheiden, was euch guttut und wobei ihr euch sicher fühlt – eben Eigenverantwortung. Und lasst keine Graubereiche bei Materialfragen zu. Ich war damals naiv und hatte einfach nur Glück. Oder es war ein Fingerzeig, dass ich genau in dieser Route in diesen Karabiner stürzen sollte. Ein Materialcheck sollte immer und überall ein fixer Bestandteil sein – und das hat nichts mit Weicheidenken zu tun. Ein wilder Hund zu sein ist leicht. Ziel sollte es aber sein, ein alter wilder Hund zu werden!
Der Kletterprofi | HERBERT RANGGETINER, 47, aus Mühlbach im Pinzgau (Sbg), ist Profikletterer und einer der besten Extremkletterer Europas. Mehr als 600 Lines europaweit wurden von ihm als Erstem durchstiegen. Im SPORTaktiv Magazin gibt Herbert nun regelmäßig einen Einblick in die faszinierende, für viele aber auch unbegreifliche Welt des Freikletterns. Dabei nimmt er sich in jeder Ausgabe eines bestimmten Themas an, erklärt Techniken und Abläufe – und lässt den Leser dabei auch an seiner ganz speziellen Lebensphilosophie teilhaben. |
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