Die Kulisse gehört zu den historisch wuchtigsten der Welt. Das macht den Jerusalem-Marathon zwar noch nicht zu einem der schönsten, aber mit Sicherheit zu einem der selektivsten Stadtmarathons. Dafür sorgen knapp 700 Höhenmeter.
Hätte man es wissen müssen? Hätte ein Blick in den Streckenplan genügt? Hätte man über die rund 700 Höhenmeter informiert sein können, die auf der Strecke lauerten, wenn man sich nur früh genug darum gekümmert hätte? Aber wozu sich mit winzigen Details aufhalten, wenn es an einen der großen geopolitischen Brennpunkte geht? Jerusalem: Die 900.000-Einwohner-Stadt ist Wiege von Weltreligionen – und ihr Brandherd. Sie ist machtbewusste Metropole des Nahen Ostens – und eines seiner instabilsten Zentren. Sie ist Sehnsuchtsort von Gläubigen aus allen Teilen der Erde – und Schauplatz von wilden Verwünschungen. Zumindest an diesem März-Vormittag. Der Grund? Es geht bergauf. Schon wieder. Hätte man sich diese topografische Überraschung nun ersparen können?
Ein deutliches: Naja. Zum einen war ein klares Streckenprofil vorab nicht zu bekommen. Zum anderen hätte man nur entweder die Bibel lesen (schon dort ist von sieben Hügeln die Rede, die zu Zeiten Jesu außerhalb der Stadtmauern lagen), von Kreuzworträtseln lernen (die Frage nach zumindest einem der Hügel ist Standard, meist Gareb, der Ölberg oder Golgota) oder einfach bei der Stadtführung am Tag vor dem Rennen aufpassen müssen. So aber ist es für einige der 4600 Läufer, die an diesem März-Freitag im Jahr 1 v. C. (vor Corona) an den Start gehen, ein Blindflug. Ein Marathon an einem Freitag? Noch so eine Besonderheit. Aber es gelten die jüdischen Alltagsregeln: Freitagabend beginnt der Sabbat, vergleichbar mit „unserem“ Sonntag. Da wird für 24 Stunden das öffentliche Leben heruntergefahren, nicht gearbeitet, darf kein Feuer oder Licht oder Wärme gemacht, dürfen also auch keine elektrischen Geräte bedient werden. Marathonstart daher Freitagfrüh. Um sieben Uhr in der Früh. Der Tag schläft noch. Aber im Sacher-Garden, einer großzügigen Parkanlage mitten im Regierungsviertel herrscht schon Betriebsamkeit.
Die Ausblicke auf die Altstadt und die Goldene Kuppel des islamischen Felsendoms sind einzigartig.
Die Knesset, das israelische Parlament, und das stattliche Gebäude des Gerichtshofs liegen in unmittelbarer Nähe. Gleich zu Beginn bekommt man einen Vorgeschmack auf das, was noch kommt: Hügel. Jener auf der Schleife rund um den Giv’at Ram-Campus der Hebräischen Universität und der Nationalbibliothek ist noch milde. Als Belohnung wartet eine schöne Aussicht auf die vom renommierten Architekten Santiago Calatrava gebaute Hängebrücke der Straßenbahn, wegen ihres Designs „Weiße Harfe“ genannt, und eine rasante Bergab-Passage Richtung New Gate. Bis vor 50 Jahren verlief hier die Grenze zwischen Jordanien und Israel. Die hier gutgemachte Zeit „frisst“ aber schon der nächste Anstieg. Linkerhand zunächst das Rathaus und dann ein Wohnviertel orthodoxer und ultraorthodoxer Juden. Sie schlendern desinteressiert am Sportgehechel draußen auf der breiten Allee auf den Gehsteigen dahin. Leicht zu erkennen an ihren dunklen, knielangen Mänteln samt weißen Hemden, mit großen, schwarzen Hüten und sich unter der breiten Krempe herausdrechselnden Locken.
Es geht Richtung Norden, hinaus zum nächsten Uni-Campus: jenem der Hebrew University am Mount Scopus. Mount? Berg? Heißt nicht nur so, fühlt sich auch so an. Man will nicht klagen, aber einen echten Laufrhythmus zu finden, ist fast unmöglich. Motivation von Zuschauern zu tanken, ist in diesem Abschnitt der Strecke unmöglich. Es gibt nämlich so gut wie keine. Das liegt auch daran, dass die hier lebenden Palästinenser kaum Interesse am Lauf haben, bei der Premiere aus politischen Gründen sogar zu einem Boykott der Veranstaltung aufgerufen hatten. Zudem ist der Lauftag ein Freitag, der arbeitsfreie Tag der arabischen Bevölkerung. Da haben sie Besseres zu tun. Nur jede Menge Läufer begegnen einem entlang des breiten, als Pendelstrecke geführten Boulevards rauf zur Universität.
Hinauf schnaufen sie, hinunter lächeln sie. Verständlich: Die Ausblicke auf die Altstadt und die in der Morgensonne funkelnde, stadtbildprägende goldene Kuppel des islamischen Felsendoms sind einzigartig. Und noch etwas sieht man hier deutlich: die enormen Sicherheitsvorkehrungen. Wie viel Personal Polizei, Militär und Sicherheitsdienste für die Veranstaltung abgestellt haben, verraten die Organisatoren nicht. Es dürften mehr sein, als man mit freiem Auge erkennen kann. Die, die man sieht, tragen dunkle Uniformen, martialische Sturmgewehre, schusssichere Westen – und ein Lächeln im Gesicht. Ein Foto? „Sure! Where are you from?“ Die Antwort erstaunt ihn. Als Österreicher scheint man unter den 40.000 Teilnehmern aus 80 Nationen, die an diesem Laufwochenende (Kinderlauf, 5k, 10k, Halbmarathon, Marathon) mitmachen, noch immer als Exot. Kein Wunder, sind ja auch nur 17 Landsleute am Start.
3000 Jahre Geschichte auf engstem Raum. Nur dass sich dieser Raum halt nie eben zeigt.
Nach dem Ausblick folgt der Einblick. Es geht – runter – Richtung Altstadt. Und das einzige Mal hinter die geschichtsträchtige Stadtmauer. Vorbei am muslimischen und christlichen Viertel, dem Davidsturm und der modernen Shoppingmall samt Hotel biegt man durch das Jaffa-Gate – hinauf – in eine verwinkelte Gassen-Schikane im armenischen Viertel. Danach durchs Zion Gate wieder raus und wieder runter. Vorbei an König Davids Grabmal und dem Saal, wo das letzte Abendmahl stattgefunden haben soll. Dahinter, auf dem römisch-katholischen Franziskanerfriedhof am Berg Zion, liegt das Grab von Oskar Schindler – filmbekannter Menschenretter im Zweiten Weltkrieg. 3000 Jahre Geschichte auf engstem Raum. Nur dass sich dieser Raum halt nie eben zeigt. Man läuft hinunter, nur um unten mit einem Clown auf Stelzen und eifrig trillerpfeifenden und singenden Mädchen abzuklatschen und am Gegenhang wieder raufzulaufen. Keine Bestzeit jagen, sondern die Strecke mit den Augen genießen, hatte der Bürgermeister am Vortag geraten. Er kennt seine Stadt. Der Jerusalem-Marathon genießt nicht umsonst den Ruf eines der weltweit schwierigsten Citymarathons. Nach 30 Kilometer wissen die Beine, warum. Dabei wartet die wahre Prüfung noch.
Wieder zeigt der Höhenmesser nach oben. Entlang einer aufgelassenen Eisenbahnstrecke – heute ein lauschiger Spazierweg – schnauft man Richtung „First Station“, des alten Bahnhofsgebäudes, das heute ein Museum beheimatet. Irgendwo zwischen Kilometer 35 und 38, nach mühsamen Raus-und-wieder-rein-Passagen mit engen Wendepunkten und kleineren Kuppen, zeigt Jerusalems Hügellandschaft dann noch einmal, was sie kann. Und sie kann viel! An ein Laufen ist jetzt nicht mehr zu denken. Auch die folgende Downhill-Sektion bringt allerdings noch keine Erlösung. Bevor es zurück in den Sacher-Park und Richtung Zielgerade geht, fällt die Strecke immer wieder kurz ab, um nach der nächsten Kurve wieder knackig nach oben zu führen. Bestes Terrain für Intervalltraining, aber nicht am Ende eines Marathons. Aber dann! Nach knapp unter dreieinhalb Stunden eine letzte Unterführung. Der blaue Teppich der Zielgerade. Eine geballte Faust. Ein erleichtertes Lachen.