Welcher Extrem-Radmarathon ist wohl der spektakulärste auf der Welt? Der Ötztaler Radmarathon, der Mallorca 312, der Stelvio Santini oder vielleicht die Marmotte Alps? Nein, der MARATONA DLES DOLOMITES gilt als der spektakulärste Radmarathon der Welt, geht es doch über die berühmten Pässe der Dolomiten.
Aus 27.300 Bewerbungen werden nach einer Startplatz-Verlosung 8.000 glückliche Starter. Beeindruckend und einzigartig: Sie kommen aus der ganzen Welt, 67 Nationen aus allen Kontinenten. Österreichs größtes Aktivsportmagazin SPORTaktiv war mit Geschäftsführer Alfred Brunner live dabei, hier sein Tagebucheintrag.
04.00h. Der Wecker läutet. So dynamisch wie diesmal spring ich selten aus dem Bett. Eine beeindruckende Motivation durchzieht Geist und Körper, inklusive einer schnellen Planking Session, um die Körperspannung schon früh morgens zu aktivieren. Da es zu früh für ein normales Frühstück im Hotel ist, gibt´s zwei leckere Powerpack-Energieriegel mit Taurin und Koffein.
05.00h. Ankunft beim Parkplatz in La Villa. Ich bin bei weitem nicht der Erste. Noch 90min bis zum Start. Der Wetterbericht verspricht einen Traumtag. Das hilft beim effizienten Befüllen der Trikottaschen. Ich packe neben Energieriegeln und Gels nur noch einen Reserveschlauch, eine Minipumpe und eine superleichte Windjacke ein.
05.45h. Kurzes Einrollen bis zum Startblock. Dank dem OK-Team darf ich im grünen Block – dem zweiten von vier Blöcken – starten. Dadurch erspare ich mir einen Stau. Im Block selbst komm ich mit Ronny aus der Nähe von Köln ins Gespräch, der das gleiche Rennrad wie ich fährt, ein Cannondale SuperSix Evo. Er startet schon das fünfte Mal und beschreibt mir die wichtigsten Streckenabschnitte im Detail. Überraschend ist Ronnys Aussage, dass er als Deutscher SPORTaktiv als Medienmarke online konsumiert; er schätzt die Vielfalt unserer Themen. Kurz vorm Start werden dann noch die Promis interviewt. Schon spannend gemeinsam mit Sportstars wie Tour de France Legende Miguel Indurain oder Olympiasieger Paulo Bettini am Start zu stehen. Auch die italienischen Wintersportstars Christoph Innerhofer und Dorothea Wierer zeigen sich sportlich aktiv. Zwei Helikopter kreisen über unseren Köpfen, ein Hinweis, dass es gleich los geht. Rai Due überträgt über sechs Stunden live. Alle Starter fühlen sich wie Helden, ein bisschen als wären wir beim Giro d’Italia.
06.30h. Der Start. Ohne Stress kommt das ewig lang gestreckte Feld ins Rollen. Drei Minuten nach den ersten Startern überquere ich bereits die Startlinie, damit wird die offizielle Zeitnehmung auch für mich gestartet. Nach der konsequenten Vorbereitung mit viel spezifischen Bergtraining mit geschätzten 30.000 Höhenmetern fühle ich mich bereit für den großen Tag. Die gute Form, das perfekte Wetter und die Einzigartigkeit des Maratona dles Dolomites mit 7 Legendenpässen bringt bereits auf der Startlinie erste Emotionen. Emotionen, den heutigen Tag so fit erleben zu dürfen.
06.40h. Nach zehn Minuten fahren wir durch Corvara, hunderte Zuseher bieten die Bühne für die Rennrad-Afficionados aus der ganzen Welt. Es geht auf den Passo Campolongo. Der Anstieg ist leicht, auf 5,9km werden lediglich 362hm absolviert, ein perfektes Einrollen. Die Kulisse ist beeindruckend, schier endlos zieht sich die Schlange der Radsportler. Nach der Passhöhe geht’s runter nach Arabba.
07.15h. Die Auffahrt zum legendären Passo Pordoi beginnt. Ein Pass voller Heldensagen, vor allem beim Giro. Dort im Mai gefahren gibt es meist noch Schnee als Kulisse. Bei uns aber herrschen beste Bedingungen. Auf 9,3km sind 647hm zu absolvieren. Die Beine fühlen sich gut an, der Respekt vor der langen Distanz aktiviert die Vernunft in mir und so nehme ich gefühlt 10 % raus. Ich komme mit Joackim aus Kalmar in Schweden ins Reden, der gefühlt alle Rennradklassiker kennt und dort schon mehrmals am Start war. Allein beim Maratona ist er das vierte Mal dabei. Spannend auch sein Tipp, dass die 315km lange Radrundfahrt Vätternrundan in Schweden mit fast 20.000 Teilnehmern der größte Radmarathon Europas ist. Seine Motivation beeindruckt, auch weil er mit Rucksack fährt. Dieser ist aber nicht am Rücken sondern am Bauch. Er wiegt mit 100kg rund 20kg zu viel und nimmt das mit Humor. Er weiß wahrlich zu genießen, am Rad und kulinarisch. Trotzdem kurbelt er mit einer beeindruckenden Frequenz ist wird mein Pordoi Freund. Kurz vorm Gipfel verabschieden wir uns. Es geht schon wieder runter.
08.20h. Pass Nummer drei führt auf den Passo Sella, auf 5,5km warten 436hm. Ein alter Bekannter taucht plötzlich auf. Joakim aus Schweden kurbelt wieder neben mir. Da ich vorher nicht angehalten habe, schreibe ich sein Aufholen einer unfassbaren Abfahrtsgeschwindigkeit zu, wahrscheinlich hilft ihm sein vorhin erwähnter Rucksack. Wir freuen uns über das Wiedersehen und verabschieden uns auch schon wieder. Er wünscht mir alles Gute, und ich ihm viel Energie. Der Sella Gebirgsstock dominiert die Landschaft, vereinzelt sieht man Alpinkletterer wie Ameisen in der Wand. Die Steilheit der Straße ist nach wie vor moderat, ich fühle mich im Flow. Der Blick Richtung Süden zeigt den beeindruckenden Marmolada-Gletscher. Wie wir später erfahren, gab es exakt am Renntag einen riesigen Gletscherbruch mit vielen Toten. Der Klimawandel zeigte wieder einmal seine brutale Seite. Die Abfahrt Nummer drei wird schneller, das Feld streckt sich.
09.00h. Pass Nummer vier ist das Grödnerjoch mit 5,8km und nur 250hm. Der Blick Richtung Westen zeigt berühmte Bergklassiker des Grödnertals. Wir fahren in dem Naturschauspiel erste Reihe fußfrei. Oben angekommen ist die berühmte „Sella Ronda“ quasi erledigt. Nun wartet eine superlange Abfahrt zurück nach Corvara. Es geht erstmals durch den Zielbogen. Die Starter der Kurzstrecke mit 55km biegen auf die linke Seite und sind bereits im Ziel, für den Rest gilt: Das Aufwärmprogramm ist beendet. Meine Durchgangszeit beträgt exakt 3 Stunden und 10 Minuten.
09.40h. Die einzige Wiederholung des Tages ist die Zweitbefahrung des Passo Campolongo. Die Erfahrung von vor drei Stunden hilft, die Kräfte richtig einzuteilen. Bei der Abfahrt nach Arabba überhole ich ein wunderschönes Nationaltrikot aus Kolumbien.
10.20h. Es geht nun von Arabba links talauswärts, meist leicht bergab, manchmal kupiert mit drei kleinen Gegenanstiegen. Es rollt gewaltig. Ich warte auf den Kolumbianer, die Startnummer verrät mit seinen Namen: Juan. Er passt gar nicht so recht ins Bild der meist kleinen und federleichten Bergflöhe aus Kolumbien wie Nairo Quintana, vielmehr ist er ein Rouleur der alten Schule und macht nun ordentlich Tempo. Aus unserem Zweiergespann wird innerhalb von zehn Minuten eine 20-Mann Gruppe, das einzige Mal am Tag fühle ich mich für einen kurzen Moment wie in einem Rennen. Juan erzählt mir, dass er gemeinsam mit seinem Freund extra aus Südamerika angereist ist. Auf meine Frage, warum er gerade hier an den Start geht, folgt seine Antwort auf den Punkt: „It is a dream!“. Bei einer Zwischensteigung nehme ich Tempo raus und verlasse die Gruppe, der Tag wird ja noch lang.
11.10h. Cut. Nun ist er da. Pass Nummer 6, der berühmt berüchtigte Passo Giau von der Westseite. Ein echter Schweinsberg. Aus dem Gewusel zuvor wird plötzlich Stille. Jeder weiß um die Schwierigkeit dieses 10km langen Berges mit 922hm und Rampen bis zu 15 % Steigung. Dazu kommen auch Temperaturen von über 30 Grad in der Sonne. Ich fühle mich wie in einer Messe. Jeder in sich gekehrt, jeder Sünden büßend. In Wahrheit geht es aber bei den meisten um freudiges Leiden, immerhin ist das Abenteuer ja freiwillig. Kurzfristiges Leiden erhöht den langfristigen Stolz. Am Gipfel wartet nicht nur eine wichtige Labestation, sondern die Gewissheit, das Gröbste geschafft zu haben. Die Steilheit fordert seine ersten Opfer, manche steigen ab, dehnen sich. Manche rasten einfach ein paar Augenblicke, bevor die individuelle Heldensaga weitergeht. Mir geht es nach wie vor gut. Bei Steigungen über 10 % habe ich traditionell Probleme, heute aber bringen mich die gut eingeteilten Kräfte langsam aber kontrolliert nach oben. Bei den hohen Temperaturen ist sehr viel Trinken angesagt, in Summe werden es sechs Flaschen mit energiespendenden Isodrink. Der Pass ist erreicht, der Scharfrichter geschlagen. Glücklich stärke ich mich bei der Labestation, und koste alles, was es so gibt: Orangespalten, Prosciutto-Panino, Nougatschnitte, Cola, Isodrink, Eistee und regionale Kuchen. Abwechslung tut nach sechs Stunden auch in der Nahrungsaufnahme gut. Der Abfahrtsspeed nach Pocol Richtung Cortina d’Ampezzo erreicht erstmals über 70 km/h. In Pocol geht’s dann nicht rechts Richtung Cortina, sondern links auf die vermeintlich letzte Herausforderung.
12.45h. Passo Falzarego, genauer der Passo Valparola auf 2.200 Meter Seehöhe ist die letzte Stufe am Weg in den Rennradhimmel. Vorher warten auf 11,5km noch 665hm. Kling wenig, da aber einige flache Passagen dabei sind, hat es der Rest erst wieder in sich, die steilsten Stufen erreichen auch hier 15 %. Ich überhole Günter aus Graz, mit dem ich schon am Beginn des Passo Giau Bekanntschaft gemacht habe. Er ist auch das erste Mal dabei und man spürt sein Glücklichsein. Am Passo Giau war er ein bissl stärker, am Passo Valparola habe ich die leicht besseren Beine. Wir wünschen uns alles Gute und begeben uns wieder in den individuellen Tunnel der Fokussierung. Am Falzarego sind wir Radler nicht allein, zahlreiche Kletterer lachen über unser 15 % Steigung. Sie befinden sich in der senkrechten Wand, manchmal sogar überhängend. Am Passo Falzarego geht es rechts einen guten Kilometer auf den Passo Valparola. Das Panorama öffnet sich Richtung Westen, man erkennt die Berge, die man bereits Stunden vorher bestaunt hat. Die Abfahrt nach San Kassian und weiter nach La Villa zeigt mit 75 km/h meinen Geschwindigkeitsrekord an diesem Tag. Es rollt fantastisch. Ich bereite mich aufs Finale vor.
14.20h. Die letzten 4km könnte man gemütlich nach Corvara rollen. Könnte? Nicht in Südtirol, nicht bei einem echten Klassiker! Eine letzte Challenge wartet mitten in La Villa mit der „Muir dl Giat“, der Mauer der Katze. Dieser 370m lange Anstieg mit bis zu 19 % Steigung bei großer Hitze fordert einige Opfer, indem sie vom Kurbelmodus auf den Schiebemodus umstellen müssen. Zahlreiche Zuschauer haben bewusst diesen Ort aufgesucht, weil es wahrlich viel zu sehen gibt. Würde mich nicht überraschen, wenn an der Stelle einige vom Rad fallen. Ich habe mich geistig auf diesen gemischten Genuss-Horror-Moment vorbereitet, bleib ruhig und lache kurz beim Anblick des Grauens. Eine Wand tut sich auf, und dies nur, um die Teilnehmer zu ärgern. Ich steh auf und switche in den Wiegetritt. Oben angekommen wartet ein Torbogen mit einer aufgeblasenen Grinsekatze. Ich gebe einen lauten Schrei der Freude unterm Torbogen von mir. Danach hat man es aber geschafft. Es geht noch 3km moderat steigend nach Corvara. Im Zielbogen geht es diesmal für alle links ins Ziel. Dort angekommen balle ich die Faust und freue mich über mein „perfekten Tag“ und bin einfach nur happy.
14.40h. Im Ziel! Ich empfinde große Freude über das souveräne Abspulen von 142km und 4.200hm über die sicher spektakulärste Radstrecke der Welt. Es gibt längere Radrennen, es gibt Rennen mit noch mehr Höhenmeter. Aber diese einzigartige Szenerie, das alpine Naturschauspiel, die perfekte Organisation und vor allem das gemeinsame Gefühl des Stolzes mit Radfreunden aus der ganzen Welt bleibt für mich ein Moment für die Ewigkeit. Danke Dolomiten. Danke Südtirol.
Highlights - Maratona dles Dolomites - Enel 2022
Mehr zum Maratona dles Dolomites: www.maratona.it