Urgestein Alexander Huber und Youngster Philipp Reiter stehen für zwei Generationen und eine Passion: Im Gespräch mit SPORTaktiv nehmen sie uns mit hinaus – und zeigen uns ihre Perspektive auf die Faszination der Berge.

Axel Rabenstein
Axel Rabenstein

Alexander Huber wurde im Duo mit seinem Bruder Thomas als die „Huberbuam“ weltberühmt. Heute ist Alexander 55 Jahre alt und blickt auf ein Bergsteigerleben zurück, das Millionen von Menschen inspiriert hat. Philipp Reiter ist mit seinen 32 Jahren ein beachteter Newcomer, mehrfacher deutscher Meister im Skibergsteigen und erfolgreicher Trailläufer. Hoch hinaus ging’s für die beiden schon früh.

Philipp, wie bist du zum Bergliebhaber geworden?
Als Kinder haben wir mit meinen ­Eltern im Freien übernachtet, sind am Lagerfeuer gesessen, waren mit dem Mountainbike oder auf Klettersteigen unterwegs. Die Liebe zum Abenteuer wurde früh in mir geweckt. Heute sehe ich von der Terrasse auf meinen Hausberg, den Hochstaufen. Ich war da schon an die 300 Mal oben. Die Weite der Berge zieht mich einfach an. 

Was suchst du da oben?
Ich will raus aus der Komfortzone und rein ins Unbekannte. In der Natur komme ich mir selbst viel näher, fühle mich authentischer als in einer künstlichen Umgebung.

Skibergsteiger, Trailrunner, Kletterer – wie bezeichnest du dich selbst?
Begonnen hat es mit dem Skibergsteigen. Wir hatten eine Super- Trainingsgruppe, waren immer aktiv. Mit Anton Palzer, der heute als Radprofi für BORA-hansgrohe fährt, bin ich meine ersten 100 Kilometer geradelt, habe meine erste Watzmann-Überschreitung gemacht. Wettkämpfe bestritt ich vor allem, um die Welt zu entdecken. Ich bin ein 6-Tage-Rennen durch den Dschungel von Costa Rica gelaufen, in Südafrika über Stacheldrahtzäune gesprungen, in Tibet bis auf 4000 Meter hochgerannt. Der Sport hat mir diese Reisen ermöglicht. Deshalb hatte ich immer genug Motivation zu trainieren. Und heute würde ich mich wohl als einen Outdoor-Enthusiasten bezeichnen.


Alexander, warum hast du dein Leben den Bergen gewidmet?
Mein Vater war in der Welt der Berge zu Hause, und so war es auch ich. Die 4000er der Westalpen waren die ersten Berge, die mich fasziniert haben. Es war immer die Suche nach dem Abenteuer, das ich in den großen Bergen und der senkrechten Welt des Kletterns gesehen habe.

Hast du gefunden, was du gesucht hast?
Ja, sonst hätte ich es nicht weiterverfolgt. Bei mir war es wirklich ganz einfach: Ich liebe es, dort draußen zu sein. Gerne auch dort, wo es nicht die Massen hinzieht, sondern dort, wo ich mich alleine mit dem Berg auseinandersetzen kann.

Ist Bergsteigen dein Sport oder deine Lebensphilosophie?
Beides. Sport, weil wir uns fordern und an unsere physischen Grenzen gehen. Lebensphilosophie, weil beim Bergsteigen das Abenteuer essenziell ist. Wir setzen uns bewusst der wilden Natur aus, um uns in den damit verbundenen Gefahren zu ­bewähren.

Alexander Huber war der erste Mensch, der eine Route mit dem Schwierigkeitsgrad 11+ kletterte, er realisierte einige der schwersten Free Solos (ohne Sicherung) und machte auch im Extremalpinismus auf sich aufmerksam, z. B. mit der Erstbegehung der Westwand am Latok II (7108 Meter) in Pakistan. Philipp Reiter überquerte die Alpen per Skitour von Wien nach Nizza in 36 Tagen. Für das Projekt „5 Tage, 7 Summits“ bestieg er die höchsten Gipfel der sieben Alpenländer, eine Tour mit knapp 17.000 Höhenmetern. Worum geht’s dabei? Um Rekorde? Oder „nur“ ums pure Leben?

Philipp, sind Rekordtouren für einen selbst? Oder für die Aufmerksamkeit?
Ich habe schon solche Sachen gemacht, da gab es noch nicht einmal Facebook. Und ich mache es heute nicht anders als früher. Nur kann ich es größer spielen. Ein Smartphone ist ja ein Broadcast-Studio. Im Kern der Sache hat sich aber nichts verändert. Und das ist mir wichtig: Wir hatten immer unseren eigenen Antrieb. Als Teenies sind wir barfuß den Grünstein hochgelaufen. Keine Ahnung, warum! Dann wollten wir wissen, wie oft wir aufs Hocheck laufen können. Wir legten ein Lebensmitteldepot an und sind da an einem Tag dreimal hochmarschiert, mehr als 6000 Höhenmeter. Meine Eltern haben uns abends abgeholt, beim Essengehen bin ich mit dem Gesicht in der Pizza eingeschlafen, weil ich so fertig war.

Wie wählst du deine Projekte heute aus?
Auch bei mir gibt es eine Art Evolution. Den Watzmann hochrennen, das müsste ich derzeit nicht. In Rennen orientiert man sich häufig an gesteckten Fahnen und schaltet das Hirn aus. Inzwischen gefällt es mir, wenn eine Aktivität eine Botschaft hat. 2020 liefen wir entlang der historischen Linien des Ersten Weltkriegs in den Alpen in einer Staffel mit Italienern, Österreichern und Deutschen. Es gab Zeiten, zu denen wir nicht gemeinsam im Camper gelegen und Bier getrunken hätten. Das war ein schönes Erlebnis. Und blieb mir stärker in Erinnerung als ein rein sportlicher Wettkampf.

Ihr habt mehrfach versucht, auf Skiern die Pyrenäen vom Mittelmeer zum Atlantik zu überqueren. Leider war zu wenig Schnee. Wie erlebst du den Klimawandel?
Extrem. Wir haben die 700 Kilometer durch die Pyrenäen am Ende mit dem Bike absolviert, nur einige ausgewählte Gipfel mit Skiern bestiegen. Vielleicht ist diese Tour nie wieder komplett mit Skiern zu laufen, so wie es schon vor 60 Jahren gemacht wurde. Es war eine faszinierende Reise, von der auch gerade ein Film geschnitten wird. Wir haben Menschen getroffen, die sehr besorgt waren. Sie erzählten uns, dass in den Pyrenäen inzwischen Bedingungen herrschen, wie sie für das marokkanische Atlasgebirge typisch sind.


In deiner eigenen kleinen Welt kannst du Dinge entscheiden. Darauf konzentriere ich mich.

Alexander Huber

Alexander, welches Projekt steht ­gerade an?
Das ist glücklicherweise gar nicht mehr so wichtig. Wichtig ist, dass ich dort draußen Freude habe. In meinem Alter brauchst du nicht glauben, dass du noch irgendetwas sportlich Relevantes reißen kannst. Ich habe früher viele Highlights erlebt. Das Niveau habe ich heute nicht mehr. 

Kommen dir die Leistungen von ­damals surreal vor?
Nein, das ist alles noch sehr nah, sehr real und absolut nachvollziehbar. Bei einigen Sachen hätte ich auch noch nachtarocken können. Aber ich habe die Entscheidung getroffen, das nicht zu tun. Ich konnte schöne Projekte für mich realisieren und dafür bin ich dankbar.

Welche Touren waren die einprägsamsten?
Für mich ist es die Summe der Begehungen, ein Ranking möchte ich gar nicht abgeben. Aber es gibt eine Sammlung von Eckpfeilern. Beim Sportklettern sind das die Routen Weiße Rose und Open Air, das Erobern eines neuen Horizonts, des oberen elften Grads. Die Free Solos am Grand Capucin oder an der Direttissima der Großen Zinne. Der obere zehnte Grad Free Solo mit der Route Kommunist. Expeditionsmäßig wohl der Latok II, die gewaltige Westwand bis auf über 7000 Meter rauf, das war eine neue ­Dimension. Auch die Begehung Eternal Flame im Karakorum mit Kletterpassagen bis in den zehnten Grad auf 6000 Meter Höhe war einmalig. Und nicht zu vergessen: Die Huberbuam halten  nach wie vor den Speedrekord an der Zodiac am El Capitan.

Sind Rekorde in der heutigen Welt wichtiger als früher?
Ich denke, man hat immer versucht, das Maximum herauszuholen. Der Sport lebt von der Jagd nach Rekorden. Du musst der Schnellste oder der Erste sein. Nachdem Reinhold Messner und Peter Habeler ohne Flaschensauerstoff auf den Mount Everest gestiegen sind, waren sie weltberühmt. Der nächste Bergsteiger, der das gemacht hat, war Hans Engel. Kennst du den Hans Engel? 

Nein.
Siehst du …

Und wenn’s kein Rekord ist? Was macht das Bergsteigen für dich zum Erfolg?
Einen Berg über eine gewisse Linie hinaufzusteigen, hat für mich etwas von einem schöpferischen Akt. Man hat den Berg nicht verändert. Aber man hat für sich das Bild des Bergs verändert.

Was würdest du nicht mehr tun?
Die Latok II Westwand. Die hat ­Gefahren in sich getragen, die nicht vollends kontrollierbar waren. Ich denke, es war in der Zeit richtig, es zu machen. Aber heute würde ich es nicht mehr tun.

Weil?
Ich es schon gemacht habe. Das Risiko muss ich nicht mehr eingehen. Bei meinen Free Solos war’s das Gleiche: Ich habe einige Highlights gesetzt. Und dann damit aufgehört.


Wenn Alexander Huber und Philipp Reiter dort oben stehen, genießen sie den Blick. Und machen sich ihre Gedanken. Über das, was war – und das, was noch kommen wird.

Ein Smartphone ist ja ein Broadcast-­Studio. Im Kern der Sache hat sich aber nichts verändert.

Philipp Reiter

Philipp, was denkst du dir, wenn du von oben auf die Welt blickst?
Viele Menschen nehmen sich und ihr Leben sehr wichtig. Wenn man rauszoomt, sieht man die wahren Dimensionen, die Kräfteverhältnisse, wie klein der Mensch ist. Das erlebt man in verschiedenen Disziplinen. Wenn du bei minus 20 Grad in einem Schneesturm steckst. Oder bei brutalem Gegenwind auch mit dem besten Carbonrad nicht mehr vorankommst. In einer Welt, in der wir vermeintlich alles managen können, sind wir massiven Grenzen ausgesetzt. Wir können uns im T-Shirt nach draußen setzen. Unsere Wohlfühltemperatur umfasst aber nicht mehr als ein paar Grad, sonst ist es schon wieder zu kalt oder zu warm. Wo wir überhaupt wie leben können, ist extrem limitiert. Das Rauszoomen ist eine dankbare Möglichkeit, die Dinge besser einzuordnen.

Warum zieht es die Menschen mehr denn je nach draußen?
Vielleicht, weil sie mehr denn je drinnen sind? Ich würde nicht sagen, dass die Leute naturbewusster geworden sind. Es ist eine Art Lifestyle, sportlich zu sein. Vor 15 Jahren bin ich bei einer Skitour auf dem Gipfel angekommen und die Leute haben geklatscht! Weil ein junger Kerl diese lange Tour auf sich genommen hat! Das würde dir heute nicht mehr passieren. Körperliche Anstrengung ist angesagt, gerade in der jungen Zielgruppe. Und die zeigt das gerne über Social Media.

Wie verändern neue Technologien das Entdecken?
Abenteuer heißt, dass ich nicht genau weiß, was mich erwartet. Der Bergsport sollte eine Entdeckungsreise bleiben. Es ärgert mich, wenn ich in einem Blogeintrag die GPX-Daten einer 45 Grad steilen Abfahrt finde, die ich über die andere, flachere Bergseite erreichen kann. Das ist gefährlich! Wenn die Rinne eisig ist, machst du den Abgang. Deshalb sollte man den Hang von unten hochsteigen, um zu spüren, ob man umdrehen muss. Wir leben in einer Instant-Gesellschaft, man kann sich fast alles kaufen. Im achten Grad zu klettern, kann man sich aber auch für 10 Millionen nicht kaufen. Das ist das Schöne am Bergsteigen: Ich kann die Dinge nicht einfach überspringen. Dabei sollte es nach Möglichkeit auch bleiben.

Wirst du durch das Bergsteigen in 20 Jahren ein anderer Mensch sein?
Ich hoffe, dass mein Erfahrungsschatz wächst. Ansonsten werde ich wohl der bleiben, der ich bin. 

Und worum geht’s am Ende?
Um das Abenteuer. Mal mit anderen, mal alleine. Mal mit Botschaft, manchmal nicht. Wir haben die Möglichkeit, so viel zu erleben. Geschieht es zu schnell, hat man das Gefühl, gar nicht mehr zu wissen, was genau passiert ist. Wie früher bei einer Diskette, die wurde überschrieben, wenn sie voll war. Ich denke, in unserer beschleunigten Welt ist es wichtig, sich Zeit zu nehmen. Und sei es nur für einen lockeren Lauf bei Regen durch einen mystischen Wald, in dem die Nebelfetzen hängen.
 


Alexander, wie würdest du deinen Blick auf die Welt beschreiben?
Man kann sich Gedanken über die ganze Welt machen, was wir auf diesem Planeten hier insgesamt so veranstalten. Aber ich selbst kann das nicht grundlegend ändern. In deiner eigenen kleinen Welt kannst du Dinge entscheiden. Darauf konzentriere ich mich.

Sind die Berge überlaufen?
Berge wie der Mount Everest mit Sicherheit. Wer den besteigen möchte, soll das tun. Ich muss das nicht. Ich kann nachvollziehen, dass die Sherpas von den Bergen ihrer Heimat leben wollen. Die Berge werden verkauft, so wie wir es auch in den Alpen tun. Ich persönlich suche Berge, die keiner kennt. Die Latoks im Karakorum sind kaum präsent. Das liegt daran, dass keiner erzählt, wie geil es da oben ist. Weil nämlich kaum einer raufkommt.

Mal eine besonders skurrile Situation dort draußen erlebt?
2022 bezogen wir am Shivling unser Basislager zum Meru. Wir trafen auf eine bunte Truppe an Leuten, die ihre Expedition über eine Agentur gebucht hatten. Alle total gipfelferngesteuert. Mir wurde zugetragen, dass der indische Camp-Manager Probleme habe. Es war mehr als das: Der Mann lag im Endstadium von Hirn- und Lungenödem schwer somnolent in seinem Zelt. Ich habe ihn akut behandelt, Forte­cortin gespritzt und Nifedipin gegeben. Dann haben wir ihn runtergebracht, von 4300 auf etwa 3600 Meter, um das Überleben zu sichern, bis tatsächlich ein Hubschrauber kam. Oben im Basislager wurde das Schicksal des Mannes nicht weiter thematisiert. Schweizer, Holländer, Deutsche, Norweger – weiß der Kuckuck, woher die alle kamen. Sie zeigten sich in keiner Weise berührt. Das Leben eines Inders, der vor Ort engagiert wurde, war offensichtlich nicht viel wert. Diesen Bergsteigern muss ich leider sagen: Ihr habt da eine ganze Menge falsch verstanden.

Haben dich die Berge verändert?
Man verändert sich mit jedem Berg und mit jedem Tag am Berg. Manche hinterlassen große, andere kleinere Spuren. Jedes Erlebnis hinterlässt einen Eintrag in dir, aber das originäre Erlebnis beim ersten Mal ist immer das eindrücklichste. Deshalb strebe ich nicht danach, Dinge zu kopieren. Weil ich glaube, dass es die Strahlkraft des Originals verschleiern kann.

Worum geht’s am Ende?
Ich bin Momentsammler. Wenn ich voll engagiert am Berg unterwegs bin, denke ich nicht an das Gestern oder an das Morgen, sondern lebe im Jetzt. Du gehst vollkommen im Moment auf und das schafft eindrucksvolle Erinnerungen. Das sind dann die bunten Seiten im Buch meiner Erinnerungen und dieses Buch ist der wahre Wert, den wir vom Berg mit nach Hause bringen. Die Berge können wir nicht mitnehmen. Wir bezwingen keinen Berg, denn der Berg lässt sich nicht besiegen. 

Es ist dem Berg ja völlig egal, ob wir da raufsteigen oder nicht. Aber am Ende des Tages können wir mit einem schönen Erlebnis zurückkehren. Das ist es, warum wir dort draußen sind.