Winter-Kehraus. SPORTaktiv war live dabei bei einem der größten Langlaufabenteuer unserer Zeit. Er-Fahrungen beim 46. Engadin Skimarathon.

Am Ende hat sich doch alles gelohnt. Die öden Laufeinheiten im Nebel, das harte Trizepstraining, die endlosen Grundlagenausdauerläufe, die Schinderei auf der Kunstschneeloipe.
Alles ist vergessen in der letzten Linkskurve im knöcheltiefen Sulz. 100 Meter noch und dann endlich in den Schnee sinken. Erschöpft, erleichtert, erfüllt. Auf der Tribüne jubeln die Freunde. Das spannt die Muskeln ein letztes Mal. Hü-hüpf, linkes Bein nach vor, rechtes Knie auf den Boden – ein Telemark auf der Ziellinie. 42,195 Kilometer in 3 Stunden 44 Minuten zeigt die Pulsuhr – und der Körper schaltet von Schmerz auf Glück.
Irgendwann im Oktober 2013: Langlaufschuhe sind gerade im Angebot und im Keller steht ein Rennski, den ein Nachbar nicht brauchen kann und günstig hergibt. Schnäppchenjagd und Abenteuerlust verbinden sich blitzschnell und erzeugen sofort ein Bild im Kopf: 13.000 Langläufer stehen im Schatten der Engadiner Berge, warten auf die ersten Sonnenstrahlen, die über den Malojapass kriechen, aus den Lautsprechern tönt „Conquest of Paradise“.
Ja, das wär’s: Mit einer neuen Ausrüstung noch einmal zum Engadiner Skimarathon, in die Gegend um den Nobelskiort St. Moritz. 2006, beim ersten Versuch hatte die Qual fast sechs Stunden gedauert – eine persönliche Niederlage, die es auszulöschen gilt. Und damit stand im Oktober der Entschluss fest: Trainieren, bis die
Schwarte kracht. Hieß: Vor der Arbeit zwei Stunden Traben im niedrigen Pulsbereich für die Ausdauer. Zwischendurch schnelle Einheiten über Stock und Stein. Bei Regen und im Nebel, oft genug im Dunkeln. Und natürlich: die Fahrten zum Schnee. Skating-Techniktraining auf einem schmalen Kunstschneeband auf einem winterbraunen Hügel unter Flutlicht – Glückshormone Fehlanzeige. Eher quälen für den Ernstfall, und immer die bange Frage im Hinterkopf: Wird das reichen? Wird sich das alles lohnen am zweiten Sonntag im März?

EIN PLATZ IN DER MEUTE
9. März 2014. „Machets guet“ hat der Stadionsprecher am Start des Engadiner Skimarathons in Maloja noch gesagt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Klack, klack machen die Bindungen, die Handschlaufen der Stöcke sitzen fest. „Machets guet“ – los geht’s.
42,195 Kilometer durch das Oberengadin von Maloja nach S-chanf. Die ersten Schritte sind die wichtigsten. Da zeigt sich die Tagesform, da zeigt sich, ob wir am Vortag in stundenlanger Tüftelei die richtige Wachsmischung auf den schmalen Graphitbelag gebügelt, abgezogen und ausgebürstet haben. Und da kommt es darauf an, seinen Platz in der Meute zu finden, mit genügend Abstand nach links, rechts, vorne und hinten, um keinen Stockbruch zu riskieren.
Knapp 13.000 Langläuferinnen und -läufer nehmen die 46. Auflage des Volkslaufklassikers in Angriff. Und es geht trotzdem ohne Gedränge los. Fast lautlos zieht der kilometerlange Wurm über den Silser See, kein Wort ist zu hören. Trotzdem: eingebettet in Tausende andere, die alle den selben Weg, das selbe Ziel haben – da fühle ich Geborgenheit.
Nach drei, vier Kilometern schüttet der Körper das erste Mal Glückshormone aus. Der Ski gleitet gut dahin, die Muskeln sind warm, das Feld aufgelockert. Jetzt weitet sich der Blick auf die imposante Bergwelt jenseits der Baumgrenze ringsum, das Knirschen der Ski auf dem harten Schnee wird zur Musik in den Ohren – Lauftrance. Keine Rolle spielt es da, wie weit es noch bis ins Ziel ist. Doppelstockschub, abstoßen vom rechten Ski, gleiten, abstoßen vom linken Ski, gleiten, Doppelstockschub. Ich hab echt gut trainiert.
Vor St. Moritz dann aber der erste Härtetest: der Anstieg hinauf zur alten Olympiaschanze. Sechsspurig klettern die Schlangen nach oben. Immer wieder rutscht einer aus, kegelt zwei, drei andere auf dem harten Untergrund mit nach unten. Rechts der Mitte erwische ich eine gute Spur, die unfallfrei nach oben kommt. Zum ersten Mal brennt es in der Lunge, in den Armen und Beinen. Jetzt aber machen sich die Laufrunden durch Bruchharsch und Gatsch bei Regen bezahlt – das Suchen damals nach dem richtigen Tritt ist nun Gold wert. Denn hier gleicht kein Schritt dem anderen. Wer nicht stürzen oder zusammenstoßen will, muss jetzt schnell reagieren.

DIE ANTWORT AUFS „WARUM“
Nach der Durchfahrt durch St. Moritz stehen Männer, Frauen und Kinder an der Strecke, mit Orangenspalten, Bananen, getrockneten Marillen und Schokolade. Sie klatschen und rufen „hopp, hopp“. Manche laufen ein Stück mit, wenn sich einer besonders plagt. Logisch, auch Kuhglocken haben sie mitgebracht. Klischee kann auch Spaß machen.
„Iss überall und trink überall“, hallt in den Ohren der Ratschlag eines Freundes nach, der schon 40 Minuten weiter vorne ist. Denn jetzt geht es fünf Kilometer stetig bergauf durch den Wald. Also schnappe ich im Vorbeifahren mit dem Mund nach Bananenstücken und Marillen. Nahrung für den Bauch – und für die Seele. Denn zwei, drei Bissen heben die Stimmung deutlich. Auch das ist das Schöne an dieser Herausforderung: Sich selbst zu spüren, auf das Wesentliche zu besinnen: Essen, trinken, ein nettes Wort und schon dreht das Gehirn den Endorphin-Hahn voll auf. Vor drei Wochen noch, beim letzten harten Berglauf, ist mir das Wasser in die Laufschuhe geronnen, war jeder Schritt ein Tritt ins Ungewisse auf dem mal rutschigen, mal harten Waldboden. Warum? Warum? Hämmerte es damals in den Schläfen. Jetzt zuckt die Antwort wie ein Blitz durchs Gehirn: Darum! Darum!
Nach der Abfahrt und weiteren vier Bechern warmen isotonischen Getränks geht es auf die zweite Hälfte. Eigentlich noch annähernd frisch in Körper und Geist – aber das Kilometerschild „22,5“ ist wie ein Genickschlag: Das Ganze noch einmal! Zum Glück geht es wieder relativ flach dahin und der vorhergesagte Gegenwind schafft es nur in die Kategorie Lüfterl. Ein Blick in die Landschaft sorgt wieder für Ablenkung: Überall liegt noch meterdick der Schnee, der jetzt aber in der Mittagssonne, bei 7 Plusgraden, von den Dächern rinnt. Dafür ist die Piste erstaunlich griffig und fest.
Zwölf Kilometer noch. Das Feld hat sich weit auseinandergezogen. Und jetzt beginnt auch langsam alles zu schmerzen. Die Knöchel, der Rist, die Schulterblätter, die Oberschenkel. „Gleich haben wir es“, sage ich aufmunternd zu einem jungen Schweizer zwischen zwei Zügen am Iso-Gel. „Ich weiß, aber jetzt kommen erst die Golan Höhen.“

MENTALER TRAUBENZUCKER
Golan Höhen. So nennen die Einheimischen die letzten 7 km der Strecke. Bergauf, bergab. Zweimal, dreimal – nach dem fünften Mal gebe ich das Zählen auf. Der Puls rast in den Drehzahlbegrenzer, zum ersten Mal stelle ich den Vortrieb ein. Durchschnaufen, zwischen die Carbonstöcke gebeugt. „Hoppauf Klaus“ höre ich es da. Die personalisierte Startnummer ist schon ein Segen: Die direkte Ansprache der Zuschauer vom Streckenrand mobilisiert meine letzten Kräfte. Mentaler Traubenzucker sozusagen. Und dann endlich: Das rote Schild. 1 Kilometer bis ins Ziel – die Musik und die Lautsprecher-Durchsagen sind schon zu hören. Eine Linkskurve bergab, 100 Meter gerade aus, eine scharfe Rechtskurve und dann in weitem Bogen auf die Zielgerade. „Braaaaavooo“ rufen meine Freunde vom oberen Rand der Tribüne und winken mit ihren Stöcken. Gänsehaut-Feeling.
Am Ende ist alles gut. 3 Stunden 44 Minuten und 2 Sekunden zeigt die Uhr. Tränen mischen sich mit dem Schnee im Gesicht und tropfen auf die Finisher-Medaille mit dem stilisierten Bartgeier. Ein Kind kommt und drückt einen Stempel auf meine Startnummer: „Ziel erreicht.“

46. ENGADIN SKIMARATHON
Start: Maloja, auf 1.820 m
Ziel: S-chanf auf 1.670 m
Distanz: 42 km, 13.000 Teilnehmer
Sieger Herren: Anders Gloeersen (Nor) 1.35,05; Damen: Riita Liisa Roponen (Fin) 1.38,39; Klaus Molidor (SPORTaktiv, Bild links) lief in 3.44,02 auf Platz 7.492.

ZUM VORPLANEN:
Der 47. Engadin Skimarathon findet am 8. März 2015 statt. Teilnehmen dürfen Damen und Herren ab Jahrgang 1988 und älter, eine Lizenz ist nicht erforderlich, gelaufen
werden kann in klassischer und freier Technik. Weitere Infos und bereits Anmeldung: www.engadin-skimarathon.ch