Klettern und Fliegen: Am Tiroler Achensee kann man beides kombinieren. Man braucht weder Seillängen-, noch Flugstunden-Erfahrung. Nur mit Fragen sollte man sich zurückhalten.
Von Klaus Höfler
Es ist eine der latenten dramaturgischen Schwächen des Alpinismus. Egal, ob bei Expeditionen auf die höchsten Gipfel des Globus, beim Wandern Richtung Almhütte, beim Kraxeln im Klettersteig oder beim Freesolo in irgendeiner senkrechten Nordwand: Der Höhepunkt – nämlich das Gipfelerlebnis – kommt nicht als „Grande Finale" daher, sondern bettet sich irgendwo in die Mitte des Abenteuers. Es hört am Berg nicht auf, wenn es am schönsten ist – nämlich ganz oben. Man muss auch wieder runter. Und egal, wo: Der Abstieg ist meist weniger spektakulär, weniger unterhaltsam, weniger elegant.
Meist ja. Aber nicht immer. Denn es gibt eine spektakulärere Variante für das Decrescendo an Höhenmetern, indem man beispielsweise aus dem Runtergehen ein Runterfliegen macht. „Hike & Fly" nennt sich dieser extravagante Duathlon mit den Zutaten: Rauf mit Bergschuhen und Klettersteigset, runter mit dem Paragleitschirm. Die einzigen Konstanten sind der Helm und der Rock'n'Roll der Endorphine.
DAS GRÜNE „TIROLER MEER"
Ausprobieren kann man diese glücksbringende Kombination beispielsweise am Achensee. Tirols größter Bergsee ist für sich schon eine landschaftliche Attraktion. Das sehnsuchtsvoll „Tiroler Meer" genannte, bis zu 133 Meter tiefe Gewässer besticht durch karibische Farbmischungen – wenn das Wasser auch nicht ganz die dortige Badewannentemperatur erreicht. Die umgebenden Gebirgsstöcke des Karwendels und Rofangebirges sind bewährte Wandergebiete mit einer Vielzahl an bewirtschafteten Alm(hütt)en. Am See kann man kitesurfen, segeln oder baden.
Und über dem See? Ein an guten Tagen mit bunten Paragleitschirmen vollbehangener Himmel verrät, dass hier Felsen, Almen, Wasser und die Lage an der Witterungskante zwischen Österreich und Deutschland eine besonders günstige Thermik entstehen lassen. Sie zu spüren, gehört zu den aufregenderen Augenblicken eines Outdoorlebens.
HINTER MIR BRÜLLT EINER ...
„Renn! Renn! Renn!" Die Anweisungen von Mike Küng lassen an Deutlichkeit nichts vermissen. Unablässig brüllt er mir ins Ohr, obwohl ich gerade einmal 30 Zentimeter vor ihm bin. Durch eine gefinkelte Sitzgurtekonstruktion für Tandemflüge sind wir zu einer Schicksalsgemeinschaft aneinandergekettet. Zusammen rennen wir, was das Zeug hält, die Böschung hinunter. Ich klammere mich an den Gurt, Mike streckt seine Arme, die an fast unsichtbaren Fäden am sich langsam aufplusternden Paragleitschirm hängen, links und rechts wie Flügel weg: Das Bild, das wir abliefern, muss an den behäbig wirkenden Startvorgang von Schwänen erinnern.
„Renn! Renn!" Mike schreit noch immer. Ich laufe noch immer – obwohl meine Füße längst den Kontakt zum Boden verloren haben. Aber das gehört im Sinne der Sicherheit zum Prozedere, wie auch die Suche nach Gegenwind als optimale Startbedingung. Nur zögernd will sich nach dem Zurechtrücken im Sitzgurt so etwas wie entspannte Gemütlichkeit beim Flugnovizen einstellen.
Und dann greift plötzlich auch noch die Thermik nach uns. Es fühlt sich an, als wären wir in einen unsichtbaren Lift gestiegen, der uns in den Himmel katapultiert. In engen Kurven schrauben wir uns nach oben. Die eben noch über den Almboden rennenden Schuhe baumeln mittlerweile schwerelos in der Luft. Es bleibt bei all dem Staunen gar keine Zeit, sich dem mulmigen Gefühl in der Magengegend zu widmen.
FLY MIT MIKE ...
Ein vorsichtiger Blick nach oben: Stramm spannt sich der Schirm in der Größe einer Kleinwohnung (40 Quadratmeter) wie ein Dach über uns. Dann und wann ein leichtes Ziehen an den Steuerungsseilen und schon biegt unser Gespann in die gewünschte Richtung ab. So zischen wir mit bis zu 40 km/h über Bergflanken und weiter über den See, den man von hier – tausend Meter über dem Wasser – in seiner ganzen Ausdehnung bewundern kann. Den Luftraum über dem See kennt Mike Küng besonders gut. Hier führt er als Pilot der offiziellen Prüfinstitution „European Academy of Parachute Rigging" (EAPR) häufig die Testflüge für neue Paragleitschirm-Modelle durch. Was das mit dem Wasser zu tun hat? „Im Zweifelsfall sind Notlandungen im Wasser statt am harten Landboden die bessere Wahl", scherzt er. Hätte man nur nicht gefragt ... Noch einmal drehen wir ab Richtung Bergwelt. Wie geschrumpft liegt unser Startplatz da unten. Mike zeigt auf Alternativen in der Umgebung, allesamt knapp über 2000 Meter hoch: Spieljoch, Hochiss, Unnutz und Guffert.
... UND HIKE MIT ANDREAS
Diese Startplätze für das Flugabenteuer sind allesamt über ausgesucht schöne Routen oder Klettersteige zu erreichen. „Wir wählen nicht die einfachsten Wege, aber die schönsten", wirbt Bergführer Andreas Nothdurfter. Er ist für den ersten Teil der ungewöhnlichen Duathlons zuständig, steht hinter dem Programmkapitel „Hike". Es geht über alte Almpfade, entlang ruppiger Schuttkegel und über ausgesetzte Traversen Richtung Klettersteig.
Je nach Können werden Touren ausgesucht, die einen fordern, aber nicht überfordern. Die Steige sind gut ausgebaut, auch wenn der Regen am Vortag den Fels teilweise rutschig gemacht hat. Die Aussichten rüber ins Karwendelgebirge, die Zillertaler und Stubaier Alpen oder ins Inntal sind schon von der Gipfelkreuz-Position aus grandios. Ein paar Stockwerke höher, am Schirm baumelnd, werden sie atemberaubend. Wie hoch er selbst schon mit einem Paragleitschirm geflogen ist, will ich vom Chefpiloten wissen. „Beim Höhenweltrekord bin ich aus 10.100 Meter mit dem Schirm aus einem Ballon abgesprungen", erzählt der seither mit dem Vornamen-Zusatz „Mad" Geschmückte. Auch dass er schon über den Ärmelkanal geflogen ist, weiß man wenig später. Hätte man nur nicht gefragt ...
UND DAS GEHT SICH AUS?
Mad Mike ist bereits wieder Richtung See abgebogen. Am Südende am Ortsrand von Maurach wird schon der Landeplatz sichtbar. Noch wirkt er ziemlich klein. Plötzlich ziehen mich die Fliehkräfte nach außen, die Sitzposition verändert sich von waagrecht in leicht gekippt, die Flugbahn von einer Geraden in eine enge Spirale Richtung unten. „Was machst du da?", will ich wissen. „Wingover", sagt Mad Mike. Dass er dreifacher Weltmeister im Akrobatikfliegen ist, verrät er mir erst nach der Landung. Hätte man nur nicht gefragt.
Der Boden kommt jetzt immer schneller immer näher. Ein Blick auf den Windsack neben der Wiese verrät dem Piloten die richtige Richtung für den Landeanflug. „Das geht sich aus?", äußere ich sanfte Zweifel am Gelingen einer sanften Landung. „Ich bin schon in einem fahrenden Ferrari-Cabrio gelandet", hat Mad Mike auch noch Zeit, mir diese Anekdote zukommen zu lassen. Hätte man nur nicht gefragt ... „Füße nach vorne strecken", kommen letzte Anweisungen. „Aufsetzen!" Ich spüre wieder Boden unter den Füßen. Hinter uns sinkt der Schirm erschöpft in die Wiese. Hat da irgendwer behauptet, der Weg vom Gipfel sei nur ein lästiger Abspann eines Bergabenteuers?
„HIKE & FLY" ACHENSEE | ... wird zu folgenden Terminen mit den beiden genannten Akteuren Mike Küng und Andreas Nothdurfter angeboten:
Voraussetzungen: Gute Kondition, Trittsicherheit, Schwindelfreiheit. Preis: € 399,– pro Person Anmeldung & Reservierung unter info@mikekueng.com |
Infos zur Region: www.achensee.info
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