Wie die Südtiroler Weltklasse-Höhenbergsteigerin und Deuter-Athletin Tamara Lunger nach einer traumatischen Erfahrung am K2 zurück ins Leben und – „draußen“ – neue Prioritäten fand.

Christof Domenig
Christof Domenig

Höher, schneller, weiter, der Fokus ganz auf Leistung: Das war von Kindheit an der Zugang Tamara Lungers zum Leben und zum Sport. Lunger wurde nicht nur erfolgreiche Wettkampf-Skibergsteigerin, sondern später als Höhenbergsteigerin bekannt. 2010 stand sie, 23-jährig, als bis dahin jüngste Frau auf dem Gipfel des Lhotse (8516 m). 2014 gelang es ihr, den K2 (8611 m), der als schwierigster 8000er gilt, als zweite italienische Frau ohne Sauerstoff und Hochträger zu besteigen. Im Jänner und Februar 2021 war sie wieder am K2, um sich mit einem Seilpartner an einer Winterbesteigung zu versuchen. Einem Team um den Nepalesen Nirmal Purja gelang dies auch erstmalig – fünf Bergsteiger, darunter sehr enge Freunde Lungers, verloren in diesen Tagen am K2 gleichzeitig ihr Leben.

Was findest du 2024 in den Bergen und in der Natur?
Bestimmt etwas anderes, als ich es vor dem K2 im Winter gesehen habe. Ich war früher ziemlich fokussiert auf die Leistung, die Zeit, das Höher-Schneller-Weiter. Danach hat mir die Natur eher geholfen, mich von den Ereignissen am K2 zu erholen. Ich habe das Wort Training nicht mehr hören können und es meine „Quality Connection Time“ genannt. Ich bin mit einem ganz anderen Mindset rausgegangen, zum Laufen, Berggehen. Ich habe alles anders wahrgenommen: Den Geruch, die Vögel, den Wind. Es ist nun alles viel bewusster und hat für mich eine ganz andere Qualität. Es fühlt sich stimmiger an und ich fühle mich sehr viel mehr verbunden mit mir und der Natur.

War der Zugang „Höher-Schneller-Weiter“ von Kindheit an in dir?
Meine Mama hat gesagt, ich war immer schon so, dass alles auf dem harten Weg gehen musste. Als ich 14 war, habe ich meine erste Skitour gemacht, da bin ich das erste Mal wirklich Ski gefahren, habe es zuvor nicht gelernt. Ich bin rauf und es ist so schwierig gewesen, das neue Sportgerät und das Spuren, und ich habe gesagt: Ich will selber spuren, sonst ist es zu leicht. Also: Ich war immer auf der Suche nach dem „bisschen mehr“.

Hattest du beim Höhenbergsteigen auch diesen Zugang zur Leistung: Etwas zu erreichen, was andere vorher nicht gemacht haben?
Ich habe nicht bewusst nach Rekorden gesucht. Auf dem Lhotse hat mir mein Seilpartner Simone Moro gesagt: „Wenn du den Gipfel erreichst, wirst du die jüngste Frau sein, die oben war“. Das war mir egal – es ging mir darum, dort zu sein. Aber ich habe am Berg schon meine Wettkampfbereitschaft gesehen. Wenn ich jemanden vor mir gesehen habe, habe ich mir gesagt: den muss ich jetzt einholen.

Durch das Erlebnis am K2 hat sich dieser leistungsorientierte Zugang zur Natur geändert?
Wir haben alle zwei Pole: Den weiblichen und den männlichen Pol. Ich hab das Weibliche, Emotionale, Tiefgründige immer als etwas Negatives angesehen, weil ich das Gefühl hatte, dass es mich an meiner Leistung hindert.

Nach der Expedition am K2 in diesem Winter bin ich so tief gefallen wie noch nie in meinem Leben – und irgendwie ist das der Auslöser gewesen, dass ich mir gewisse Fragen stellen musste: Was sind deine Werte, wer bist du wirklich, was willst du wirklich? Ist das Schneller-Höher-Weiter überhaupt dein Ding? Dadurch hab ich der Intuition und dem weiblichen Teil in mir sehr viel mehr Platz gelassen.

Ich habe in dieser Zeit auch ein Archetypen-Coaching gemacht und der Coach hat zu mir gesagt: Tamara, ich habe selten einen Menschen gesehen mit so viel Weiblichkeit, Tiefgründigkeit, Empathie. – Und ich: Was, ich? – Dann sagt er: Du wirst sehen, du musst das jetzt akzeptieren. Das gehört sicher zum Schwierigsten, wenn man sich sein ganzes Leben lang nur über die Leistung definiert hat.

Wie ist dir diese Akzeptanz schließlich gelungen?
Durch dieses Wissen und mit Verlauf der Zeit habe ich mich immer mehr mit diesem Tal in mir angefreundet, es hat sich zunehmend besser angefühlt, ist stimmiger geworden. Das ist eine spannende Reise gewesen, was ich mir so nicht erwartet hätte. Wenn man als junger Mensch eine gewisse Vorstellung hat: Das ist mein Weg, da will ich hin, dann entscheidet man sich so und will das so machen. Natürlich ist es einfacher, auf diesem Weg zu bleiben, als etwas Neues zu probieren. Wenn das Ganze nicht passiert wäre, hätte ich nicht den Mut gehabt, aus dem ganzen Kreislauf auszusteigen. Man ist auch gefangen in dem Denken, dass es nur diese eine Möglichkeit gibt. Damit verbaut man sich jedoch andere mögliche Wege, und Wachstumsmöglichkeiten.

Auf dem Prozess und auf dem Weg zurück aus dem Tief: Wie haben dir da die Natur und die Berge wiederum geholfen?
Ich würde sagen, die Natur hat mir geholfen. Die Berge haben mir Angst gemacht, nicht nur ein bisschen – ich hab überall den Tod gesehen. Bei den Skitouren die Lawinen, auf den Gletschern die Gletscherspalten, beim Paragleiten kann ich abstürzen, beim Radfahren kann ich mir den Kopf aufschlagen. Auch die banalsten Dinge. Das sind Gedanken, die ich früher nie in meinem Leben hatte – und ich habe verstanden, was das in mir alles verändert, was das Trauma in mir ausgelöst hat. Geholfen hat mir letztlich das normale, einfache Draußensein in der Schöpfung, würde ich sagen.

Du bezeichnest dich als „Soul Mountaineer“. Was ist damit gemeint?
Ein Journalist hat mich so genannt und das hat mir sehr gut gefallen, weil es mich sehr gut widerspiegelt. „Soul“ als der weibliche Teil, das Tiefgründige, Emotionale; "Mountaineer" ist das Physische, das Kräftige, das Schneller-Höher-Weiter. Es geht um eine Balance zwischen beidem. Man muss beides leben, um im Innen und Außen ausgeglichen zu sein und zu leben.

Du hältst Vorträge, sagst dazu: „Ich hab meine Bergsteigergeschichte, aber jeder hat seinen eigenen Berg.“
Mir gefällt es gut, Motivationsvorträge zu halten, weil es nicht nur um meine Geschichte geht. Weil ich glaube, jeder hat seine Berge zu besteigen – in der Familie, bei der Arbeit, in sonstigen Bereichen des Lebens. Schwierigkeiten entstehen durch Einstellungen, durch Denkweisen, durch Erfahrungen, die man gemacht hat. Jeder ist einzigartig: Was für den einen überhaupt nichts ist, ist für den anderen schon ein Limit. Deswegen hat jeder irgendwo schwierige Aufstiege zu meistern. Schwierigkeiten sind, so denke ich, etwas Gutes: Dass man daran wächst, davon lernt.

Auch im Freizeitsport gibt es bekanntlich das Phänomen, dass viele sich eher über Leistung definieren, als den Genuss in der Natur zu suchen. Was wäre hier deine Botschaft?
Unlängst bin ich in Bozen, also in der Stadt, in ein Fitnessstudio gegangen – einmal und nie wieder! Bei der Arbeit ist man schon gestresst und dann geht man in so einen Tempel und spielt das gleiche Spiel weiter. Anstatt zu sagen: Handy ausschalten, raus in die Natur. Das ist schon auch etwas, das ich mitteilen möchte: Zurück zur Natur. Manchmal ist es besser, einen Schritt zurück als zwei nach vorne zu machen. Lieber die Einfachheit suchen. Es ist auch so mit den Sozialen Medien: Dort wird angepriesen, wie der Körper ausschauen soll, wie erfolgreich man sein soll. Wenn man da nicht mithalten kann, ist man ein Verlierer. Das ist für viele Menschen schwierig. 

Mir ist es auch nach dem K2 so ergangen: Ich habe gemerkt, dass mich die Gesellschaft hauptsächlich als Bergsteigerin sieht. Nicht: „Wie geht es dir?“ Sondern: „Was ist der nächste Berg?“ Das hat mir auch zu verstehen gegeben, dass ich selbst den Fehler gemacht habe, mich selbst nur über die Leistung zu definieren.

Wie schaut heute für dich ein Tag in der Natur aus?
Ich versuche, je nach Lust und Laune, den Tag zu gestalten. Manchmal habe ich Lust, Gas zu geben – und als Belohnung setze ich mich dann oben hin, genieße die Sonne, lasse die Zeit vergehen. Manchmal habe ich wieder Lust, die Gesellschaft anderer zu genießen. Ich versuche, meiner Intuition zu folgen. Ohne einen Trainingsplan zu haben. Ehrlich nach innen zu schauen: Was ist heute das Richtige für mich. Manchmal sagt mein Körper mir: Wenn du ganz ehrlich bist, machst du heute nur Yoga. Eine Stretching-Einheit, etwas für die Seele. Das wäre für mich früher nie in Frage gekommen. Ich war wie mein eigener Sklave.

Hast du für 2024 Ziele gesetzt? Oder lässt du alles auf dich zukommen?
Ich habe mir ein paar Ziele gesetzt, obwohl ich so eine leere Zeit hinter mir habe. Weil ich verstanden habe, dass es mich immer nur mit Zielen gegeben hat. Dass ich ein Ziel brauche, für das ich aufstehe, woran ich mich wieder erfreuen kann und an das ich mich irgendwo verschenken kann. 

Deshalb habe ich angefangen mit Hike & Fly-Rennen. Das Fliegen hat mir fast am meisten Angst gemacht in meiner „Angst und Panik zu sterben“-Phase. Ich habe mich gezwungen zu fliegen, indem ich mich zu Paragleitrennen angemeldet habe – zeitgleich habe ich eine Traumatherapie gemacht und das hat sehr gut funktioniert. Ich bin immer mehr geflogen, und habe so eine Reise erlebt wie ein kleines Kind.

Einer meiner Leitsätze lautet: Ein großer und weiser Mensch ist derjenige, der sein Kinderherz nie verliert. Die Welt mit den Kinderaugen zu sehen, ist nach wie vor etwas, was ich nicht hergeben will.  Während der Panik-Phase ist es mir so vorgekommen, als habe mir jemand das innere Kind gestohlen. Ein Kind hat keine Angst – es ist einfach da und probiert Dinge aus und schaut sich etwas an und entscheidet: Ist es gut oder schlecht für mich. Und bei mir waren überall Vorurteile – alles war Schlecht. Somit habe ich wiederum eine neue Phase erlebt und gelernt, eine neue Art von Abenteuer zu erleben. Es geht im Hike & Fly nicht nur um den physischen Teil, das Gehen, das Schnellsein. Sondern auch um das Fliegerische, bei dem du viel Gefühl und Intuition brauchst. Deswegen ist es genau eine Widerspiegelung von Soul Mountaineering.

An welchem Punkt siehst du dich zurzeit auf deinem Weg zurück ins Leben?
Ich glaube, das Leben ist in ständiger Veränderung. Durch den Werdegang, zu dem ich gezwungen wurde, bin ich sehr viel stärker geworden. Wäre ich nicht gezwungen gewesen, diese Reise anzutreten, hätte ich nie den Mut oder die Kraft dazu gehabt. Durch die Arbeit an mir selbst, weil ich auch entschieden habe: Ich muss und darf das Positive an mir selber suchen. Es ist schwierig, aber irgendwann musst du auch sagen: Stopp – jetzt habe ich getrauert, jetzt muss ich den nächsten Schritt machen, ich darf das Positive sehen. Wenn man den Mut hat die Entscheidung zu treffen: Ich suche mir bewusst die positiven Dinge aus und versuche an der gesamten Situation zu wachsen: Dann kann jedes Scheitern und jede Niederlage eine große Chance sein. 

Ich bin dankbar, dass ich die Leute (von der Winterexpedition am K2, Anm.) kennengelernt habe, für die intensive Zeit, dafür, was sie mir mitgegeben haben. Wenn ich jetzt in Situationen bin, wo ich mich unwohl fühle, dann denke ich: Was würden sie jetzt zu mir sagen. Und auch das Verhältnis, das ich jetzt mit deren Familien habe, ist extrem schön. Das ist etwas ganz Spezielles und Wertvolles.

Tamara Lunger: Der Ruf des K2.

Buchtipp 

Tamara Lunger: Der Ruf des K2.
In Tagebuchform zeichnet Tamara Lunger die Winterexpedition auf dem K2 nach – und lässt durchblicken, wie sie die Ereignisse dazu brachten, sich erstmals tiefgehend mit sich selbst auseinanderzusetzen. 

Athesia Tappeiner Verlag 2023, € 25,90

„Soul Mountaineer“: Wie Höhenbergsteigerin Tamara Lunger zurück ins Leben fand
Tamara Lunger

Geb. am 06.06.1986 in Bozen, gilt als eine der stärksten Höhenbergsteigerinnen. Mit 23 Jahren stand sie als bis dahin jüngste Frau auf dem Gipfel des Lhotse, 2014 auf dem K2. 2016 kehrte sie beim Versuch einer Winterbesteigung des Nanga Parbat bloß 70 m unter dem Gipfel um. Im Jänner/Februar 2021 war sie am K2: Beim Versuch der erstmaligen Winterbesteigung kamen fünf Bergsteiger ums Leben, was Lungers Leben und ihre Einstellung tiefgreifend veränderte.

WEB: tamaralunger.com