Skoliose, Bandscheibenvorfall, Wirbelgleiten: Im 3. Teil der SPORTaktiv-Kurzserie „Volksleiden Rückenschmerz" befassen wir uns mit der schlechtesten aller Diagnosen: Was ist, wenn der Schmerz doch nicht von einer harmlosen Verspannung kommt? Wenn also keine „hausgemachte" Fehlhaltung die Wirbelsäule verbiegt, sondern ein echter Schaden vorliegt?

Von Linda Freutel


Spätestens seit den letzten beiden SPORTaktiv-Ausgaben wissen wir, dass das ewige Kreuz mit dem Kreuz oft „hausgemacht", aber zum Glück auch harmloser ist, als wir glauben. Rückenschmerzen haben eben ihre Ursache in den überwiegenden Fällen in muskulären Verspannungen, die oft Folge mangelnder Bewegung sind. Wodurch sie andererseits mit dem richtigen Maß an Bewegung und einem gesunden, stressfreien Lebensstil auch wieder in den Griff zu bekommen sind. Diese These stimmt für viele, aber leider doch nicht alle Fälle. Denn eines ist in der ganzen Rückenschmerz-Problematik schon klar: Wenn es einmal wirklich „knack" macht, dann helfen weder Hausmittel noch Heimtrainer – im Falle von Verletzungen oder ernsthaften Schädigungen und Krankheiten muss in jedem Fall der Mediziner ans Werk.

Es ist vor allem der berühmt-berüchtigte Bandscheibenvorfall, der nicht mehr unter die Kategorie „Lappalie" fällt, und von dem viele Menschen betroffen sind. Oder sich jedenfalls betroffen fühlen. Denn auch bei diesem Thema will Univ.-Prof. Dr. Johann Langmayr, Salzburger Facharzt für Neurochirurgie und Wirbelsäulenchirurgie, nicht gleich den Teufel an die Wand malen: „Rückenschmerz-Patienten gehen oft irrtümlich von einem Bandscheibenvorfall aus. Dabei bereitet keineswegs jeder Bandscheibenvorfall gleich Beschwerden. Im Gegenteil, oft bemerkt man einen Vorfall gar nicht. Manche werden sogar erst als reine Zufallsbefunde entdeckt, die man ganz nebenbei, etwa auf einem CT-Bild, sieht."

WAS IST EINE BANDSCHEIBE?
Fangen wir aber erstmal ganz von vorne an und fragen uns, was Bandscheiben überhaupt sind. Vorstellen kann man sich diese Wirbelelemente wie kleine Kissen, die zwischen den knöchernen Wirbeln liegen. Sie fungieren sowohl als Abstandshalter sowie als Stoßdämpfer, die die Wirbelkörper bei den Bewegungen und Belastungen des Alltags schützen. Etwa ein Viertel der Gesamtlänge der Wirbelsäule besteht aus Bandscheiben. „Vom Aufbau her sind alle Bandscheiben identisch", erklärt Dr. Langmayr. „Außen bestehen sie aus einem derben, bindegewebigen Faserring und im Inneren aus einem Kern mit einer gallertartigen Masse. Dieser Kern enthält molekulare Verbindungen, die große Fähigkeiten zur Speicherung von Wasser besitzen. Bis zu 90 Prozent des Kerns sind wässriger Natur."

Wie groß die einzelnen Bandscheiben sind, hängt davon ab, an welchem Teil der Wirbelsäule sie sich befinden. Zwischen den Lendenwirbeln sind die Bandscheiben-Kissen am größten, weil sie hier den intensivsten Belastungen ausgesetzt sind. Im Bereich der Brust- und Halswirbel sind die Bandscheiben kleiner und im wenig belasteten, ersten Halswirbel sowie zwischen dem ersten und zweiten Halswirbel fehlen die Stoßdämpfer sogar komplett.

VOLL UNTER DRUCK
Um ihre Schutzfunktion zu erfüllen, müssen die Bandscheiben hohen Belastungen standhalten können. Studien von Professor Hans Joachim Wilke vom Institut für Unfallchirurgische Forschung und Biomechanik der Uni Ulm haben gezeigt, gegen welch enorme Kräfte diese kleinen Pufferkissen gewappnet sind. Wer beispielsweise eine volle Bierkiste „aus dem Kreuz heraus", also mit durchgestreckten Beinen und krummem Rücken), anhebt, mutet seinen Bandscheiben einen Druck von 23 bar zu. Nur zum Vergleich: In einem Autoreifen haben wir einen Druck von rund 2 bar. Selbst beim entspannten Stehen müssen die kleinen Puffer stolzen 5 bar trotzen. Am wenigsten Druck lastet im Liegen auf den Bandscheiben – hier ist es gerade mal 1 bar.

Ob Laufen, Heben, Hüpfen oder einfach nur Stehen: All das erzeugt den Druck auf die Wirbel, der auch die Bandscheiben zusammendrückt, wodurch diese – ähnlich wie ein Schwamm – Flüssigkeit abgeben. Darin enthalten sind neben Wasser auch wichtige Nährstoffe sowie Sauerstoff. Erst wenn dieser Druck wieder nachlässt, kann sich das Bandscheiben-Schwämmchen wieder vollsaugen und so die notwendigen Nährstoffe wieder in sich aufnehmen. „Für die Gesundheit der Bandscheiben ist Entspannung ein wichtiger Faktor, aber eben längst nicht der einzige", sagt Dr. Langmayr. Es ist der Wechsel aus Druck und Entlastung, der zählt. Auch hier greift der Schwämmchen-Vergleich: Es geht darum, das Bandscheiben-Schwämmchen immer wieder auszudrücken und dann wieder vollsaugen zu lassen, um neue Nährstoffe aufzunehmen. So können gleichzeitig auch Rückstände und verbrauchtes Material aus dem Gewebe gespült werden. Der permanente Druck, den wir unserer Wirbelsäule zumuten, klingt also nur im ersten Moment nach einer enormen Belastung. In Wahrheit ist er aber ein notwendiger Faktor für die Gesundheit und Erhaltung der Funktionalität der Bandscheiben.

DER VORFALL MIT DEM VORFALLDer klassische "Bandscheibenvorfall": Die Scheibe reißt ein, Flüssigkeit tritt aus. / Bild: iStock
Im Laufe der Zeit kommt es jedoch auf ganz natürliche Weise dazu, dass sowohl die Elastizität als auch das Speichervermögen der Bandscheiben nachlassen. In Folge dieses normalen Verschleißprozesses verlangsamt sich automatisch auch die geschilderte Nährstoffversorgung. Folge: Die Bandscheiben schrumpfen und werden in ihrer Struktur poröser. Im ungünstigsten Fall wird der Faserring rissig oder zerreißt sogar komplett (siehe Bild unten). „Nun kann locker gestricktes Bandscheibengewebe austreten", erklärt Dr. Langmayr, „und das nennt man dann einen klassischen Bandscheibenvorfall." „Ein Bandscheibenvorfall ist in jedem Fall eine gefährliche Verletzung, die in schlimmen Fällen zu schweren motorischen Ausfällen an Armen oder Beinen führen kann. In sehr seltenen Fällen kann es sogar zu Blasen- und Mastdarmlähmungen kommen", beschreibt es der Experte. „Die Symptome, die man spürt, sind jedoch immer eine Art Folgeschädigung. Den Bandscheibenvorfall als solches kann man nicht direkt spüren. Daher gibt es auch keine SOS-Maßnahmen gegen einen akuten Bandscheibenvorfall."

Der Vollständigkeit halber: Den weniger massiven Fall einer Schädigung nennt man „Bandscheibenvorwölbung" (siehe Bild unten). Dabei kommt es lediglich zu einer Überdehnung der äußeren Ringstruktur, wobei einzelne Fasern dieser Ringstruktur ebenfalls aufreißen können. Allerdings bleibt der Ring stets erhalten.

GLEICHES RISIKO FÜR ALLEDie "Bandscheibenvorwölbung": Flüssigkeit wird in der Bandscheibe nach außen gedrückt, der Ring reißt aber nicht ein. / Bild: iStock
Anders als oft vermutet sind Bandscheibenvorfälle oder -vorwölbungen also keine unmittelbaren Folgen von Unfällen oder falschen Bewegungen, sondern natürliche, verschleißbedingte Prozesse, die allerdings durch bestimmte Faktoren (z. B. Bewegungsmangel, Übergewicht, Rauchen etc.) begünstigt werden können. Aufgrund dieser Tatsache kann man auch – entgegen der gängigen Annahme – keine konkrete Risikogruppe ausmachen. Die Praxis zeigt sogar, dass ein Bandscheibenvorfall häufig nicht durch extreme Belastungen, sondern oft durch kleinste Minimaltraumen (z. B. beim Zähneputzen!) entsteht. Dr. Langmayr relativiert: „Natürlich sind berufsbedingte Einflüsse wie schweres oder unkontrolliertes Heben sowie massive Überbelastung durch sportliche Tätigkeiten erhöhte Risikofaktoren. Jedoch ist bei den meisten Bandscheibenvorfällen entweder eine Bindegewebserkrankung oder eine natürliche, altersbedingte Bindegewebsschwäche durchaus als ursächlich anzusehen."

Diese Erkenntnis erklärt somit auch, warum man sich vor einem Bandscheibenvorfall oder einer Degeneration der Bandscheibe im Wesentlichen nicht hundertprozentig schützen kann – das Risiko kann durch einen gesunden Lebensstil lediglich reduziert werden. Als Prävention empfiehlt der Mediziner das, was eingefleischte Hobbysportler schon längst geahnt haben: „Ein kontinuierliches, leichtes und kontrolliertes Muskeltraining ist sinnvoll, um die Rumpfmuskulatur soweit zu stabilisieren, dass sie die Wirbelsäule und damit indirekt die Bandscheibe in der Funktion unterstützt." Auch ein regelmäßiges Ausdauerprogramm hilft bei der Erhaltung der Stoffwechselaktivität und damit der Funktionalität des „Schwämmchen-Prinzips" der Bandscheibe. Sport ist und bleibt also die beste Medizin – präventiv ebenso wie regenerativ. Denn auch nach einem Vorfall unterstützt Kräftigung und Aktivierung der Stoffwechselaktivität durch gezieltes Training die natürliche Regeneration der beschädigten Bandscheibe.


OP – DAS LETZTE MITTEL

„Sogenannte symptomatische Bandscheibenvorfälle, die nur leichte Schmerzen verursachen und gelegentlich Taubheitsgefühle auslösen, werden primär einer konservativen Therapie zugeführt", sagt unser Wirbelsäulen-Experte. „Infusionen, Medikamente und physiotherapeutische Maßnahmen versprechen gute Erfolge. Eine Indikation zur Operation ist erst dann gegeben, wenn es zu motorischen Defiziten an der Muskulatur – wie Kraftverlust oder gar Lähmungserscheinungen – kommt. Bei einer Blasen- und/oder Darmlähmung muss logischerweise sofort operiert werden, diese Symptomatik ist aber sehr selten", so der Mediziner.

Bei einer Bandscheiben-Operation wird das ausgetretene Bandscheibengewebe entfernt, die eingeengte nervale Struktur erhält dadurch wieder genügend Platz und die Beschwerden werden behoben. In circa 90 Prozent der Fälle bietet sich eine endoskopische, also wenig invasive Behebung des Bandscheibenvorfalls an", erklärt der Mediziner und gibt anschließend noch eine beruhigende Botschaft mit auf den Weg: „Vor einem Bandscheibenvorfall muss heute niemand mehr Angst haben. Die Behandlungsmethoden waren nie so gut, risikoarm und schmerzfrei wie heute." Aber einmal abgesehen davon: Soweit wollen wir es ja gar nicht kommen lassen, oder? Kehren wir zum Schluss lieber dahin zurück, womit wir diese Serie begonnen haben: Wie sehr wir in Zukunft am „Kreuz mit dem Kreuz" zu tragen haben, das hat in den meisten Fällen doch jede(r) von uns selbst in der Hand.

Univ.-Prof. Dr. Johann Langmayr / Bild: KK
Der Experte

UNIV.-PROF. DR. JOHANN LANGMAYR ist Facharzt für Neurochirurgie. Nebst dem gesamten Spektrum der Neurochirurgie ist er spezialisiert auf Erkrankungen der Wirbelsäule (ca. 4.000 Operationen an der Wirbelsäule, 3.000 minimal-invasive Behandlungen, mehr als 15.000 klinisch untersuchte Wirbelsäulenpatienten). Sein Credo: „Niemand muss Angst haben vor einem Bandscheibenvorfall. Heute ist alles gut behandelbar."

Kontakt: LaFIT – Langmayr Fitness, Hellbrunnerstraße 20, Anif (S);
E-Mail: kontakt@lafit.at
Web: www.lafit.at



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