Airtime: Helikopter statt Gondel? Und das leistbar und mit italienischem Flair? SPORTaktiv auf Spurensuche im Tiefschnee des Freeride-Mekkas Livigno.
Kurz denke ich an Brasilien. Der aufstaubende Sand von Ipanema ist es aber nicht, der mir in den Sinn kommt, als der Helikopter über uns einschwebt und den Pulverschnee wie verrückt tanzen lässt. Ich sehe die Christusstatue von Rio de Janeiro vor mir. Francesco steht nämlich regungslos da, mit seitlich ausgestreckten Armen. Majestätisch. An diesen Zeichen orientiert sich der Hubschrauberpilot über ihm. Nur noch vier, fünf Meter ist er von ihm entfernt. Franceso beugt sein rechtes Bein, kniet nieder und der Helikopter landet in einem Meer aus Schneestaub so knapp vor seinem Gesicht, dass er den Rumpf küssen könnte. Es ist ohrenbetäubend laut.
Der Pilot dreht die Maschine ab. Vor dem ersten Flug gibt es eine Instruktion, hoch über Livigno. Francesco ist der Lead-Guide unseres Heliskiing-Abenteuers im Norden Italiens. Den Hinweis, sich dem Helikopter nur gebückt zu nähern, unterstreicht der Italiener mit ernstem Blick: „If you touch the rotor, no good.“ Was die wirbelnden Rotorblätter mit einem Skihelm bzw. dem Köpfchen darunter machen, malen wir uns gar nicht erst aus. Die Sicherheitshinweiseprägen wir uns umso besser ein. Unser Heli war übrigens zehn Minuten verspätet, weil er davor noch Freestyle-Star Jon Olsson auf einen Gipfel brachte. Den Schweden und seine Freundin werden wir am Ende des Tages im Tal auf einem Eisparcours beim Driften mit seinem Lamborghini sehen. „Skibox mit 800 PS“ betitelte ein Kollege einst seine Story über den schwedischen Ski- und Autofreak.
Vier Leute quetschen sich hinten auf die Bank. Dort ist es so eng, dass man kaum die Sicherheitsgurte ertastet, weil man schon draufsitzt. Vorne, links neben dem Piloten, sitzt der Guide. In unserem Fall ist das niemand Geringerer als Stephan Görgl. Der Ex-ÖSV-Rennfahrer trägt jetzt Rauschebart, veranstaltet Abenteuer wie dieses und hat ein paar Partner und Freunde nach Livigno eingeladen. Was das für die Abfahrt bedeutet, wenn uns ein Weltcupsieger anführt? Der Flug selbst ist herrlich und turbulenzfrei, weil das Wetter perfekt ist und den Blick auf die Traumkulisse zwischen Ortler und der Bernina-Gruppe freigibt. Der Heli landet auf knapp 3200 Metern und immer noch blickt man zu Riesen wie dem Piz Bernina (4049 Meter) auf. Unsere Landeplätze heißen u. a. Pizzo Filone und Corno di Capra. Deren Gipfel sind ziemlich schroff, die Flanken sehr steil.
Ein mulmiges Gefühl in der Magengegend macht sich beim Anfänger in der Gruppe breit. Die Lawinengefahr ist niedrig (Stufe zwei), dennoch haben wir Lawinenrucksack und Pieps dabei. „Ich fahre voraus und gebe Zeichen, dann kommt ihr mit Abstand nach“, sagt Görgl und zieht die erste Spur zwischen die Felsen. Eine Augenweide. Beim Anfänger vermischt sich viel Respekt mit ein bissl Angst. Die Knie sind weich wie Kaugummi. Dann fasst man Vertrauen selbst in spärlichste Geländeerfahrung und die Faszination Tiefschnee flutet das Hirn. Die bis zu 120 mm breiten Tiefschneeski sind fast wie Surfbretter und treiben im Schnee herrlich auf. In der Gruppe sind richtig gute Tiefschneefahrer, die ersten jauchzen. Ich suche meinen Weg nach unten. „Beine zusammen“, ruft mir Görgl zu. Ja, eh. Nach wenigen Schwüngen ringe ich nach Luft, die Höhenlage ist nicht ohne.
Spektakulär! Heliskiing im Norden Italiens ...
Sicherheit hat Vorrang
Unsere drei Gruppen fahren selten am selben Hang, so hat jede unverspurtes Tiefschneevergnügen. Und Sicherheit wird groß geschrieben: Die drei Guides stehen permanent in Funkkontakt und lotsen sich und die Gruppen gegenseitig nach unten. „Achtung! Nicht dort rechts! Da ist ein Felsvorsprung.“ Als die steilen Gipfelhänge vorbei sind, gleiten wir auf flacheren Flanken in ein Nebental hinunter. Grinsen, abklatschen und fertig machen für den nächsten Flug. Dazu werden Ski und Stöcke zu einem Bündel verpackt und an den Landeplatz im verdichteten Schnee gelegt. Wir knien uns dazu, geben dem Heli damit eine Orientierungshilfe und halten das Bündel fest, damit nichts davonfliegt. Der Guide richtet ein, küsst wieder fast das Fluggerät und auch wir können es berühren, so knapp setzt es mit den Kufen vor uns auf. Beim Ein- und Aussteigen entsteht Hektik, weil der Pilot nur wenige Sekunden am Boden sein will. Time is money, die nächste Fuhr wartet. Die Ski müssen aber seitlich in der Box verstaut werden und wir mit Rucksack und Helm durch die schmale Helitüre klettern. Sind wir nicht schnell genug oder wagt sich einer beim Selfie zu nahe an die Rotorblätter, versteht der Pilot keinen Spaß und schimpft wie ein Rohrspatz. Zu Recht, Sicherheit geht vor. An zwei Tagen machen wir in Summe sechs Flüge.
Vor der Haustür
In Österreich kann man Heliskiing nur an wenigen Orten erleben. Bekannte Destinationen gibt es in Kanada, Grönland, Russland und Asien. Von kostengünstigeren Varianten wie in Livigno wissen nur Eingeweihte (Erstflug ab 180 Euro pro Person, weitere ab 95 Euro, Guide inkludiert). Dabei liegt der Wintersportort quasi vor der Haustür und schon die spektakuläre Anreise aus Tirol über den einspurigen Munt-la-Schera-Tunnel ist jeden Abstecher wert. Die Verantwortung nimmt man ernst. Jeden Tag gibt es ein Lawinen-Bulletin und Infoabende zu Touren und Sicherheit, bei denen Guides anwesend sind und Tipps aus erster Hand geben. Im Sommer lockt Livigno als Mountainbike – und Wander-Eldorado. Wer auch ohne Sport leben kann, geht zollfrei shoppen oder genießt die italienische Küche. Dolce Vita und alpiner Tiefschnee? Da kann auch der Strand von Ipanema nicht mithalten.