Trailrunning hat nicht zwingend mit hohen Bergen und langen Distanzen zu tun. Dafür sehr viel mit Wahrnehmung und Spüren. So gelingt jedem der Einstieg.
Wie viele kam Gerhard Schiemer über den Straßenlauf zum Laufen im Gelände. Ursprünglich 10-km-Wettkämpfer, verlegte er sein Training mehr und mehr in die Wälder. Über „kurze, knackige“ Bergläufe fand er zu den genretypischen Ultratrail-Distanzen – in einer Zeit, als es erst einen Bruchteil der heutigen Events gab. Mit seinen Erfolgen schaffte es der Niederösterreicher ins Nationalteam und zur WM-Teilnahme 2015 in der jungen Sportart Trailrunning. Einerseits war es die entspannte Szene bei den Berg- und Trailläufen, die ihn anzog. Andererseits ist Trailrunning für Schiemer viel mehr als bloß Laufen auf naturbelassenem Untergrund und in einer erstaunlich lockeren Wettkampfatmosphäre. Das vermittelt er auch in Kursen, in denen er die Trailrunning-Basics Einsteigern näherbringt.
Erfahre dich selbst
Wofür steht also Trailrunning? Starten wir bei einem häufigen Missverständnis: Trailrunning braucht weder Berge vor der Haustür noch ultralange Distanzen. Sehr viel hat Trailrunning dafür mit „Wahrnehmung“ zu tun, meint Schiemer. „Mit dem Wahrnehmen von unendlich vielen Kleinigkeiten“, die sich in der Natur genauso wie in einem selber finden. „Eindrücke wechseln ständig und die Aufmerksamkeit wird permanent beansprucht. Wo trete ich hin? Wie fühlt es sich an, wenn ich nicht sicher bin, ob ein Stein unter mir rutscht oder nicht?“
Die Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen gehe in stressigen Zeiten oft verloren, sagt Schiemer – beim Traillaufen könne man diese wieder finden, und Vertrauen zu sich selbst schöpfen. Typisch: Die Lage im Raum, wo sich der eigene Körperschwerpunkt befindet – das ist ein zentrales Thema für den Sportwissenschafter.
Zum Wahrnehmen gehört auch die Blickführung. Im Normalfall wandert der Blick drei bis vier Meter am Trail voraus, scannt permanent die Strecke und den Untergrund, bleibt bei kniffligen Passagen kurz haften und schweift dann gleich wieder nach vorne. Zu all dem kommt auch das „Erkunden“, erklärt Gerhard Schiemer – das Spiel mit dem Ungewissen: „Nicht zu wissen, wo ein Wegerl hinführt, das ich grad entdeckt habe. Oder auch nicht, wie lange ich heute unterwegs sein werde.“ Beim Straßenlaufen stehen Distanz, Weg und Tempo meist ja schon beim Schuhebinden fest.
Auf die Ungewissheit einlassen
Beim Trailrunning solle man sich bewusst auf die Ungewissheit einlassen. Wenn man dann einmal etwas länger als geplant unterwegs ist, dann soll man ruhig auch einmal Durst spüren dürfen – auch wenn diesen Tipp Ernährungsmediziner vielleicht nicht so gern hören werden: „Man muss nicht immer drei Trinkflaschen mithaben.“ Zumindest, solange man in Zivilisationsnähe läuft und sich nicht im alpinen Gelände befindet. „Dieses Spiel mit dem Ungewissen erzeugt viele kleine Kitzel, die in unserer gesättigten Gesellschaft sonst fehlen“, resümiert Schiemer – ein Grund mehr, warum Trailrunning so gut in unsere Zeit passt.
Wege und Ausrüstung
Unsere Zeit? Ist bekanntlich auch eine, in der viele in Städten leben. Um sich vom Läufer zum Trailrunner weiterzuentwicklen, muss man sich auch als Städter nicht ins Auto setzen und auf dem Weg in die Natur CO₂ und Stickoxide in die Luft blasen. Größere Parks wie jene in Wien eignen sich mit ihren vielen kleinen Verbindungswegen blendend zum Traillaufen. In praktisch jeder österreichischen Stadt gibt es grüne Oasen, Wälder, Hügel und Naturwege in Laufweite. Mehr braucht es nicht, um die eigene Wahrnehmung auf diesen Wegen wirken zu lassen.
Eins hilft aber unbedingt: „Schuhe mit wenig Material unter den Sohlen.“ Trailrunningschuhe sind in der Regel mit weniger Dämpfung ausgestattet – und das ist auch gut so. Einerseits, weil ein Naturuntergrund selbst dämpft, und andererseits, weil stark gedämpfte Schuhe höher ausfallen und durch den Kipphebel die Gefahr des Überknöchelns im Gelände steigt. Wenig Dämpfung passt aber auch, weil man „spitze Steine ruhig durch die Schuhe durchspüren darf“, sagt Schiemer. Der bei seinen Trailrunning-Kursen auch Barfußübungen einbaut, um die Teilnehmer Bekanntschaft mit dem meist unterentwickelten Tastsinn der Fußsohlen schließen zu lassen.
Training und Technik
Ist die Lust geweckt, sind die ersten Runden absolviert, dann lohnt sich ein Blick auf die Lauftechnik. Eines von Gerhard Schiemers Lieblingsthemen haben wir schon erwähnt: „Die Lage im Raum, das Finden des Körperschwerpunkts.“ Der Schwerpunkt entscheidet bergauf darüber, ob man wegrutscht oder nicht. Und hilft bergab, die Gelenksbelastung zu senken (siehe auch bei den Lauftechnik-Tipps). Von einem traditionellen Berglauf mit Ziel am Gipfel unterscheiden sich Trailruns auch darin, dass bergauf und bergab gelaufen wird. Für Schiemer gehören die „Negativ-Höhenmeter“ unbedingt dazu. Trailwettkämpfe würden auch nicht bergauf, sondern in Abwärts- und Flachpassagen entschieden.
Dass Bergablaufen die Gelenke malträtiert, kann Schiemer so pauschal überhaupt nicht unterschreiben: Es sei eine Frage der Technik und des Trainingszustands. Konkret sollen Trailrunner lernen, in kleinen Schritten auf dem Fußballen bergab zu laufen. Ferseneinsatz ist zu vermeiden, „denn damit schaltet man die Muskulatur aus und belastet dann wirklich die Gelenke.“ Wie beim Skifahren sei es letztlich auch eine Übungs- und Mutfrage: der Oberkörper soll vorne bleiben; wer zaudert, lehnt sich dagegen zurück und landet automatisch auf der Ferse. Sich die Technik von einem Profi einmal zeigen zu lassen, Step by Step dazuzulernen, ein Gefühl für den Untergrund, die Technik und den eigenen Körper entwickeln: Das ist wie in vielen anderen Sportarten notwendig.
Ins alpine Gelände
Nach einiger Zeit des Aufbaus landet man als Trailrunner dann sehr wahrscheinlich doch in den Bergen. Dann werden Themen wie in jeder Bergsportart wichtig: Tourenplanung, Orientierung, Sicherheitsausrüstung. Da kommen dann auch die langen Distanzen ins Spiel. Spätestens wenn Events locken und man feststellt, dass „Small“-Bewerbe bei Trailevents oft über 20 Kilometer lang sind – ordentliche Höhenmeteranteile verstehen sich von selbst. Auch das muss laut dem Sportwissenschafter nicht abschrecken. Aus physiologischer Sicht relativieren sich die langen bis ultralangen Distanzen im Trailrunning zumindest ein wenig. Schiemer erklärt: „Auf Asphalt werden die ständig gleichen Muskel- und Bindegewebsgruppen belastet. Im Gelände verteilt sich die Belastung viel besser. Ein 25-km-Traillauf mit vielen Höhenmetern ist für den Körper sicher leichter zu verkraften als ein gewöhnlicher Halbmarathon.“
Ultratrailrunner, die dreistellige Distanzen mit Tausenden Höhenmetern meistern, haben natürlich dennoch jahrelange Aufbauarbeit in den Beinen. Doch eines unterscheidet sie nicht von Einsteigern: die Lust an der Wahrnehmung, am Entdecken von Neuem, am Ungewissen. Weil das einfach in der DNA der Sportart liegt.