Marcel Hirscher kehrt nach seinem Rücktritt vom alpinen Rennsport „normalen“ Pisten lieber den Rücken. Seine Freude auf zwei Brettern findet er abseits von Liften und Kunstschneepisten. Wie sicher er dabei unterwegs ist, wie der achtfache Weltcup-Gesamtsieger die Corona-Zeit überstanden hat – und warum er als Führer einer Gruppe eine glatte Fehlbesetzung wäre.
Interview: Michael Schuen
Der Rücktritt als achtfacher Gesamt-Weltcupsieger, Doppel-Olympiasieger und erfolgreichster Österreicher im alpinen Skisport ist etwas mehr als ein Jahr her. Interessehalber: Bist du seit dem Karriereende eigentlich schon einmal „normal“ Ski fahren gewesen?
Ein einziges Mal habe ich es probiert. Und ganz ehrlich: Da hatte ich einen Vollvisierhelm auf. So ist es wenigstens halbwegs gegangen. Ich bin mir aber fast so vorgekommen wie der prominente Autofahrer der Sendung „TopGear“ aus England, der hat auch immer einen Vollvisierhelm aufgehabt, um nicht erkannt zu werden.
Wäre der Helm nicht dabei, der Auflauf wäre vermutlich nach wie vor groß, oder?
Ja, das ist so. Die Leute schauen eh trotzdem, auch mit Helm. Der Vorteil ist, dass sie dann aber nur mutmaßen können. Und wenn ich einmal fahre, dann ist es eh vorbei, da kommt dann keiner mit.
Ist das ein Grund, warum du das Skitourengehen für dich entdeckt hast?
Mit Sicherheit. Zwischen Gams und Schneevogel ist es ziemlich egal, wer du bist oder ob du einen Vollvisierhelm aufhast. Da zählt die Natur.
Auch im Skitourensport gibt es beim Material nach oben keine Grenzen, es kann auch ein „Materialsport de luxe“ sein. Du warst immer ein Fanatiker, was das Material angeht – gilt das auch beim Tourengehen?
Ich hätte das gar nicht so gesehen mit dem „de luxe“. Klar, wenn man es teurer haben will, dann kann man schon ein Vermögen ausgeben. Aber ich finde, dass es auch genug Equipment zu einem vertretbaren Preis gibt. Es geht ja beim Tourengehen in erster Linie um die Sache an sich: das Naturerlebnis. Da braucht man nicht viel dazu. Obwohl ich zugeben muss: Als ehemaliger Profi habe ich schon den Anspruch, dass das Material das bestmögliche ist.
Stehst du selbst im Skikeller und legst Hand an, wenn es um die Vorbereitung geht?
Na ja, Servicemann habe ich ja keinen mehr. Und ich weiß nach meiner Karriere durchaus, wie man den Ski selbst herrichtet. Kanten schleifen, wachseln, abziehen, die Felle herrichten. Man merkt ja auch relativ schnell, wenn es spezielle Bedingungen gibt, ob es eisig wird, ob es Nassschnee gibt. Und dann macht man es halt.
Was uns zurück zur Frage führt: Hat Marcel Hirscher auf Tour nur das Beste vom Besten oder reicht bei deinem Gefühl auch die „Durchschnittsware“ für Normalsterbliche?
Als ich begonnen habe, habe ich darüber hinweggesehen, was unter den Füßen ist. Wie gesagt: Man kommt rauf und runter, das ist wichtig. Mittlerweile, nach den ersten paar Touren, habe ich dann schon gedacht: Wär doch cool, wenn ich hier auch performen könnte. Aber ich bin ein Nischenkonsument.
Wie darf man das verstehen?
Im Normalfall gibt es die mit den 65 mm breiten Skiern, das ist die Racingabteilung mit Rennanzügen, Langlaufstecken und so. Und dann gibt es die Freeride-Partie mit 120 mm breiten Skiern, mit Freeride-Hosen, die sind komplett aufs Freeriden aus, vor allem in den USA ist die Partie wichtig. Und ich? Ich bin mittendrin. Das ist eine Nische, von der ich glaube, dass man noch Luft nach oben hat, das ist hierzulande noch nicht so verbreitet.
Dem entnehme ich: Der Wettkämpfer Marcel Hirscher hirscht den Berg nicht hinauf, um am schnellsten oben zu sein? Ein Skibergsteiger – oder, wie man heute sagt: ein Wettkämpfer im „Mountaineering“ – wird aus dir nicht mehr?
Nein, das interessiert mich nicht. Aber: Natürlich gehen wir zügig rauf. Der Unterschied aber ist: Ich gehe hinauf, um runterzufahren. Und nicht, um am schnellsten oben zu sein.
Ein großes Thema beim Skitourengehen ist die Sicherheit. Wie hält es Marcel Hirscher damit: Sind Schaufel, Sonde, Lawinenpieps immer dabei?
Selbstverständlich! Sobald ich auch nur einen Meter rausgehe aus dem gesicherten Gelände, ist das immer mitzuführen. Und daran halte ich mich auch – die paar Kilo müssen immer mit, sonst sollte man es besser bleiben lassen. Das geht sich auch aus. Für jeden.
Wie steht es mit Fachwissen auf diesem Gebiet? Ist der König der Pisten auch ein „Schneeflüsterer“? Kennst du dich aus, was Schneebeschaffenheit, Steilheit usw. betrifft?
Null. So ehrlich muss ich sein. Aber ich habe immer Personal mit, so ehrlich bin ich auch. Ich kenne mich bei gefrorenem Wasser auf einer Piste aus, bei Kunstschnee, wenn er pickelhart ist. Aber loser Schnee? Das ist nicht so mein Thema. Was ein Schneedeckenaufbau ist, welche Schichten gerade da sind – da unterstelle ich auch vielen selbsternannten Experten, dass sie eine Lawine vorher nicht wirklich erkennen. Denn das können nicht viele.
Also hast du auch noch keine schlechten Erfahrungen mit diesem Thema?
Nein, ich hatte zum Glück noch keine einzige brenzlige Situation. Und bei einer Lawine hat man nicht viele Möglichkeiten, es zu trainieren. Allzu oft probiert man das nicht, jedenfalls nicht freiwillig. Da gibt es deswegen keinen Kompromiss für mich! Ich bewege mich absolut im grünen Bereich, bin überkorrekt, wenn man so will. Damit zu spielen, das wäre es mir nicht wert, das ist keine Option. Und bisher scheint das gut zu gehen.
Im „Red Bulletin“ sprichst du davon, dass Skitourengehen fast eine Befreiung sei, wenn man sein Leben lang Stange auf Stange fährt. Sind Skitourengehen, das Suchen nach der „First Line“ für dich auch ein wenig mehr Individualität?
Sagen wir so: Die Abfahrt lässt ja schon mehr Individualität zu als der Slalom. Ob du da einen Meter weiter links oder rechts bist, macht nicht den Unterschied aus, du musst die schnellste Linie suchen, fühlen. Im Slalom ist es halt vorbei, wenn du einen Meter danebenstehst. Egal, ob du links oder rechts daneben fährst. Und beim Skitourengehen beginnt es schon beim Aufstieg, wo du dich fragst: Wo ist die sicherste Spur? Wo und wie werde ich abfahren? Es macht schon einen besonderen Reiz aus, das Gelände zu lesen, sich zu überlegen, wie man es nützt. Das ist ganz anders als das vorgegebene, eingeschliffene Muster von blau-rot, blau-rot. Aber nicht falsch verstehen: Auch das hat und hatte seinen Reiz. Einen anderen eben.
Irgendwann kommst du dann drauf, dass es die Hälfte [vom Gepäck, Anm.] auch tut, du konzentrierst dich aufs Wesentliche.
Was für ein Typ Tourengeher ist Marcel Hirscher eigentlich?
Am Anfang bin ich immer mit viel Übergepäck dahergekommen, da hab ich alles mitgehabt. Also wirklich alles. Trinkflaschen, Jause, Gewand, Skihelm, Handschuhe – alles eben. Irgendwann kommst du dann drauf, dass es die Hälfte auch tut, du konzentrierst dich aufs Wesentliche. Das waren meine Anfänge, das Wesentliche zu erkennen. Aber von einem erfahrenen Tourengeher oder gar Profi bin ich so weit weg … Ich bin ein Genusstourengeher.
Also gibt es bei einer Skitour nicht den ehrgeizigen Marcel Hirscher, der ohne Risiko, ohne Speed nicht kann?
Der Genuss ist bei einer Skitour nur dann da, wenn ich die Verantwortung mit einem Bergführer teilen kann, wenn ich ein gutes Gefühl habe. Einfach einmal so schnell irgendwo rauf – da kann der Spaß auch schnell vorbei sein. Und was das Abfahren betrifft: Auch da muss ich lernen. Bei der ersten Skitour hat es mich so auf die Goschen gehaut, das war brutal. Ich hab im Schatten etwas übersehen, da hat es mich überschlagen wie lange nicht mehr.
Kein Pardon bei der Abfahrt?
Da muss es schon Vollgas sein, je nach Verhältnissen. Ich kann mich noch gut erinnern: Bei der letzten Tour vor dem Lockdown – und da sind wir viele Höhenmeter und Stunden nach oben gegangen, hab ich mitgestoppt. Nach sechseinhalb Minuten war ich wieder unten. Da packt mich dann schon noch das Rennfieber, die Versuchung ist nach wie vor da.
Führst du auch Gruppen an? Und wenn ja, bist du ein guter Guide?
Führen? Ich leite nie eine Tour, dafür bin ich nicht ausgebildet, da vertraue ich Experten. Aber wenn es darum geht, zu spuren, die Arbeit zu machen, das mache ich gerne, da führe ich die Gruppe auch an. Aber ich wäre ein schrecklicher Guide! Dazu bin ich nach wie vor zu sehr Profisportler. Das liegt mir nicht, das Warten auf die anderen und das Aufpassen.
Du hast vom Lockdown gesprochen. Jeder weiß, dass du die Öffentlichkeit nicht liebst. So gesehen muss das erzwungene Daheimbleiben für dich ja sogar positiv gewesen sein, oder?
Ich tu mir extrem schwer, das zu bejahen. Es ist ein Wahnsinn, das angesichts der ganzen Situation in den Mund zu nehmen und ich bitte alle, das nicht falsch zu verstehen. Bei aller Ernsthaftigkeit bin ich mir aber sehr bewusst, dass ich kurioserweise einer der wenigen war, die Positives gesehen haben. Ganz persönlich, nur auf meine Bedürfnisse abgestimmt.
Was wäre das?
Ich war das erste Mal mit meinem Kleinen im Tiergarten. Ungestört. Das war ein absoluter Höhepunkt, das war ein Wahnsinn. Ich hatte das erste Mal das Gefühl, normal sein zu können.
Wie darf man sich das vorstellen: Bist du mit Familie auf Skitour? Mit dem jungen Mann auf dem Rücken unterwegs?
Nein, das mache ich nicht. Nicht in dem Gelände, in dem ich unterwegs bin. Und das nicht einmal, weil ich Respekt vor Lawinen habe. Sagen wir es so: Auch der beste Skifahrer der Welt kann einmal stürzen. Das wär dann aber fatal. Wir beschäftigen uns anders.
Auch angesichts der Krise: Der Zeitpunkt des Rücktritts war wirklich goldrichtig, denkst du dir das auch manchmal?
Anfänglich war es schlimm, den Weltcup nicht mehr zu haben, ich sage es ehrlich. Zäh. Aber heute? Es ist alles nur super! Keinen Tag länger würde ich fahren wollen.
Aber du verfolgst den Sport?
Ja, ich habe mir auch die Rennen angeschaut. Aber seit der Krise … Es ist ein Wahnsinn. Viele leiden unter der Krise, aber der Sport ist für mich mit Sicherheit einer der größten Verlierer. Man merkt, dass die Sinnhaftigkeit ohne Zuschauer in den Hintergrund rückt.
Verfolgst du den Sport nicht mehr?
Es hat keinen Reiz für mich. Ein Fußballspiel ohne Zuschauer? Eine Katastrophe. Und stell dir vor, ich hätte in Schladming, beim WM-Titel 2012, ohne Zuschauer fahren müssen, nur vor euch (Medien, Anm.) Bei allem Respekt vor den TV-Zuschauern und den Journalisten: Das wäre nicht einmal die Hälfte wert gewesen.
Und der Weltcup?
Wie gesagt, ich habe mir die Rennen natürlich angeschaut, es hat auch Spaß gemacht. Mir hat es nur leidgetan, wie sang- und klanglos manche Abschiede so passiert sind, da fällt mir etwa André Myhrer ein. Schade, wenn der nur eine Randnotiz wird, auch wenn das in Anbetracht der Umstände logisch ist.
Was übrigens logisch wäre, wenn man dir auf Social Media folgt: Ein baldiger Einstieg in die Enduroszene – oder ein Start beim Erzberg-Rodeo, sobald das wieder möglich ist. Im Training mit Dakar-Sieger Matthias Walkner schaut das gar nicht schlecht aus, oder?
Ja, mein neues Leben ist furchtbar (lacht). Motorradfahren haben wir einmal. Aber ich bin Anfänger, versuche, mich zu steigern, an Wagemut aufzuholen. Mit den Profis mitzufahren, das ist schon eine große Aufgabe. Ganz ehrlich: Im Moment kann ich es mir nicht vorstellen, bei der Dakar dabei zu sein. Da bleib ich lieber bei den Skitouren um die Jahreszeit, wo die gefahren wird. Diesen Jänner wohl im Speziellen.