Was sich in den vergangenen Jahren am Rennradsektor getan hat? Lasst euch sagen, es blieb so gut wie keine Carbon-Faser auf der anderen … 

Lukas Schnitzer
Lukas Schnitzer

Ein Tanz auf zwei Rädern, eine Sinfonie aus Bewegung und Geschwindigkeit – weitaus mehr als nur Sport. Rennrad fahren ist für viele passionierte Jünger der zwar italienischstämmigen, aber international gültigen „passione bici“ vielmehr wahre Leidenschaft, eine Art des Lebens. Tatsächlich gibt es kaum Vergleichbares zum Gefühl der Freiheit, lautlos über glatten Asphalt zu gleiten, den Wind im Gesicht, die Sonne wärmend auf der Haut. Die Härte der Pässe und Anstiege, der langen Distanzen mag dich an deine Grenzen bringen, gleichzeitig fühlst du dich lebendiger denn je, wenn du dich dem Leiden stellst, die Strapazen überwindest. Wahrlich, eine Leidenschaft, die Leiden schafft. Ein way of life, den die „Velominati“ mit Regeln wie „free your mind and your legs will follow“, „tan lines should be cultivated and kept razor sharp“ oder „it never gets easier, you just go faster“ augenzwinkernd, aber doch treffend in ihrem Regelwerk umreißen. Für ein paar Schmunzler nachzulesen unter www.velominati.com

Was es für die große Leidenschaft – respektive fürs Ausleben dieser – bedarf, ist nicht viel: Helm und Brille, Hose mit Sitzpolster und Trikot, ein Paar Schuhe mit passenden Pedalen und natürlich ein Rad. Was es mit diesem einen Rad 2024 auf sich hat, was es von älteren Rennrädern unterscheidet und wieso sich ein Upgrade im Fuhrpark lohnt, darüber haben wir mit Alexander Steurer vom heimischen Hersteller Simplon, mit Benjamin Brochhagen von Radon und mit Julian Pfeiffer von BH Bikes gesprochen.

Heutige Rennräder zeichnen sich durch ihre vielseitigen Einsatzgebiete bei gleichzeitig starker Spezialisierung aus.

Julian Pfeiffer, BH Bikes

Der Stand der Technik
„Heutige Rennräder zeichnen sich durch ihre vielseitigen Einsatzgebiete bei gleichzeitig starker Spezialisierung aus“, eröffnet Julian Pfeiffer seine Sichtweise aufs Rennrad anno 2024. Ein Satz mit Widerspruch in sich, wie er einlenkt, gleichzeitig aber erklärt: „Das mag zwar widersprüchlich klingen, aber durch allerlei Verbesserungen in der Geometrie, Leichtbauweise und Bremsanlage sind heute selbst Aero-Rennräder extrem gute Kletterer und auch auf gröberen Straßen mit 30–32 mm breiten Reifen sicher und komfortabel unterwegs. Viele Roadbikes, auch wenn es auf den ersten Blick ,reine‘ Aero-Bikes oder Bergziegen sind, vereinen immer mehr der positiven Eigenschaften anderer Kategorien in sich, was moderne Rennräder extrem vielseitig macht.“

So gut wie alle Kletter-Spezialisten würden heute aerodynamische Vorteile, die ursprünglich für ihre Aero-Geschwister entwickelt wurden, nutzen, ohne dadurch an Klettereigenschaften einzubüßen oder im Gewicht große Kompromisse einzugehen. Gleichzeitig sieht Pfeiffer Aero-Rennräder dank hochwertigem Carbon und neuen Fertigungstechniken so leicht, dass sie sich auch in den Bergen nicht verstecken müssen. Vor einigen Jahren noch undenkbar, waren in diesem Jahr bei Paris–Roubaix ebenfalls mehr Aero-Rahmen zu sehen als je zuvor. Ein Fakt, den Julian Pfeiffer mit einer Anekdote vom jüngsten UCI Wörthersee Gravel Race eindrucksvoll untermauert: Der dortige Sieger war auf einem Aero-Rennrad mit 32 mm Bereifung unterwegs.Moderne Geometrien und große Reifenfreiheit machen moderne Rennräder also nicht nur auf der Straße überlegen, sie sorgen auch für Komfort und Reserven auf schlechten Wegen.

Und, ja, auch das Thema Nachhaltigkeit hat man in der Branche am Schirm. So gibt es etwa bei Simplon mit einem neuen Produktionspartner in Portugal das Bestreben, regional(er) zu produzieren. Das sogenannte „Nearshoring“ hatten die Vorarlberger schon vor Corona geplant, ihr komplexes Baukastensystem mit vielen Custom-­Optionen für den Kunden macht es für sie wichtig, Lieferketten auch geografisch zu verkürzen, so Alexander Steurer. Zwar ist die Rahmenproduktion in Europa etwas kostenintensiver, im Falle von Simplon aber auch mit Vorteilen in Qualität und Steifigkeit verbunden.

Trends und neue Standards
Was sich in den letzten Jahren vom Trend zum Standard entwickelt hat, ist der Einsatz von Disc-Bremsen. Während Scheibenbremsen mittlerweile in allen Preispunkten zum „Stand der Technik“, gehören, wie es Alexander Steurer ausdrückt, hat sich in jüngster Zeit „einiges im Bereich der Integration von Komponenten“ getan. So gut wie alle Hersteller verstecken mittlerweile Züge/Bremsleitungen vom Lenker über den Vorbau und durch den Steuersatz diskret im Rahmen, „die Wäscheleinen vor dem Lenker sind von gestern“, drückt es Alexander Steurer treffend aus.

Zusätzlich fügen sich immer mehr Sattelstützen und Vorbauten nahtlos in das Rahmendesign, gerne greifen Hersteller auch zu komplett integrierten Lenker-Vorbaueinheiten. „Die Integration von Zügen und Leitungen bietet viele Vorteile. Die Optik des Rades wird deutlich cleaner und störende Züge liegen geschützt im Inneren des Rahmens. Auch aerodynamisch hat die Integration Vorteile. Luftverwirbelungen durch Züge und Leitungen, besonders im Bereich des Steuerrohrs, gibt es nicht mehr. Ein Nachteil ist sicherlich die aufwendigere Anpassbarkeit des Cockpits“, fasst Benjamin Brochhagen die Vor- und Nachteile der Integration treffend zusammen.

Immer mehr hält auch die Elektronik Einzug ins Rennrad. Fahrradcomputer sind Standard und auch Powermeter werden immer günstiger und entsprechend weiter verbreitet. Aber auch elektronische Schaltgruppen sind längst nicht mehr den hochpreisigen Modellen vorbehalten. So gibt es mittlerweile auch Shimanos „Preis-Leistungs-­Gruppe“ 105 als elektronisch die Gänge wechselnde Di2-Version. Eine Entwicklung, die auch Onlineversender Radon untermauert, indem er seinen jüngst vorgestellten Rennrad-Allrounder Vaillant ausschließlich mit elektronischen ­Gruppen von SRAM und Shimano ausliefert.

Scheiben- statt Felgenbremsen ermöglichen es den Herstellern, ihren Rädern mehr Reifenfreiheit zu schenken. Galt 25 mm lange als breit, ist heute 28 mm der Standard. Wer auch gerne mal auf schlechten Straßen unterwegs ist, dem empfiehlt Alexander Steurer auch Breiten ab 30 mm. Wichtig war, dass auch Felgenhersteller den Trend mittrugen, denn breite Reifen brauchen auch breitere Felgen, um ihre Vorteile hinsichtlich Rollwiderstand, Sicherheit, teils Aerodynamik und durch das größere Volumen und den niedrigeren Druck schließlich auch Komfort ausspielen zu können. Auch Tubeless findet hier eine immer größer werdende Fangemeinde, die etwas aufwendigere Handhabung, so Steurer, macht es aber nicht für jeden zum optimalen System.

Dem Körper Platz geben
Galten früher „Heldenkurbeln“ mit 53/39 Zähnen als besonders maskulin, hat man sich heute teils selbst im Profisport darauf geeinigt, dass zu harte Übersetzungen weder für die Effizienz, noch die Gelenke ideal sind. Längst haben sich im Breitensport Compact- und Semi-­Compact-Kurbeln mit kleineren Kettenblättern sowie Kassetten mit größerer Bandbreite durchgesetzt. „Sportmedizin und Trainingswissenschaft empfehlen höhere und somit effizientere Trittfrequenzen, außerdem ist es für den Kopf gut, wenn man noch ein oder zwei Gänge Reserve am Berg hat“, schmunzelt Alexander Steurer.

Für Julian Pfeiffer ebenfalls gut zu erkennen: „Die Denkweise, je tiefer und gestreckter die Sitzposition, desto schneller, hat ausgedient“. Eine entspanntere und auf den Körper perfekt abgestimmte Sitzposition macht nicht langsamer, sondern lässt den Fahrer hohe Leistung über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten. Einerseits investieren immer mehr Fahrer in ein professionelles Bikefitting, um Problemen vorzubeugen und ihre Effizienz am Bike zu steigern. Andererseits erkennt der Insider aber auch den klaren Trend moderner Rennrädern hin zu deutlich moderateren Geometrien.

Lust bekommen auf ein neues Rennrad? Dann haben wir dir hier einige Modelle zur Inspiration zusammengetragen. Die Velominati berechnen die ideale Zahl an Fahrrädern im Fuhrpark ja ohnehin als „n+1“, wobei „n“ stets die Zahl der bereits vorhanden Untersätze beschreibt.