Fünf Männer, fünf Tage, sechs Bundesländer und 730 Kilometer vom West­zipfel an den Ostzipfel des Landes. Das Laufprojekt „Lake 2 Lake“ beweist: Unvergessliche Abenteuer sind auch vor der Haustür möglich. SPORTaktiv war live dabei.

Klaus Molidor
Klaus Molidor


Unmöglich. Sich in normaler Lautstärke zu unterhalten ist unmöglich, so heftig schüttet es in der Pizzeria mitten in Bregenz. Hinter uns: eine Mikrowellen-Margherita als letztes Abendmahl vor dem Abenteuer, vor uns 730 Kilometer bis Mörbisch. Die Pandemie hat fünf Männer kreativ gemacht. Innerhalb der Grenzen (jener des Heimatlandes) wollen wir Grenzen überschreiten – unsere eigenen nämlich. Wenn Urlaub in Österreich das Gebot der Stunde ist, dann nehmen wir es wörtlich und laufen einmal komplett von West nach Ost. Mastermind des Wahnsinns ist wie so oft Klaus Höfler, der die Idee in die Runde wirft, der vier Lauf-Enthusiasten sofort anheimfallen: Joachim Hirtenfellner, Thomas Sommeregger, Clemens Ticar und der Schreiber dieser Zeilen. Dazu drei Gastläufer, die sich bereit erklärt haben, uns ein Stück zu begleiten.

Einen Tag vor dem Start geht mir das Projekt noch einmal sprichwörtlich durch den Kopf. „Entspannen Sie sich“, sagt der Herr im weißen Kittel. Faceshield und FFP-Maske dämpfen seine Stimme, während sich das Staberl mit dem Wattekopf weiter in die Nase schiebt und am Rachen zu kitzeln beginnt. Vor das Abenteuer hat die aktuelle Lage den Corona-Test gestellt. Denn zu fünft im Wohnmobil durch Österreich – das wird schwer mit Mindestabstand. Also stellte uns das Hygienicum in Graz die Abstriche zur Verfügung, damit wir für die Zeit, in der wir unter uns sind, safe sind.

„Was machen wir eigentlich, wenn es morgen auch so schüttet?“, fragt Clemens jetzt in der Pizzeria. Die Antwort kann er sofort aus den Gesichtern ablesen und bekommt sie zur Sicherheit blitzschnell und unisono auch akustisch geliefert: Laufen. Deswegen sind wir hier. Von der Seebühne in Bregenz bis zur Seebühne nach Mörbisch im Laufschritt und in fünf Tagen. 14 Stunden planen wir täglich für die rund 140 Kilometer langen Etappen des „Lake2Lake“-Projekts. Weil Österreich aber – Achtung Binsenweisheit – kein flaches Land ist, warten auch knapp 8000 Höhenmeter auf uns. Oder ungefähr einmal von Bregenz auf den Mount Everest.

Zuerst aber werfen wir im Regen noch einen letzten Blick auf das imposante Rigoletto-Bühnenbild in Bregenz und einen sorgenvollen Blick auf das Wetterradar. Immerhin ist der Starkregen beim Start ausgeblieben, als Joe die erste Etappe von Bregenz nach Dornbirn Richtung Hohenems in Angriff nimmt. Das Ländle hat an sich viele schöne Stellen, durch das Rheintal ostwärts dominieren aber Industriegebäude an Ortseinfahrten und Supermarktklötze auf der grünen Wiese. Denn natürlich haben wir die kürzeste Route gewählt und nicht die mit den landschaftlichen Höhepunkten. Darum: viel Bundesstraße, auf der am Samstag zum Glück wenig Verkehr ist. Klaus, Schlins, Nüziders, Bludenz. Irgendwie hat man das Gefühl, das Bundesland an den Ortsnamen zu erkennen. Jetzt Klösterle und rauf auf den Arlberg. Der Regen ist abgeklungen, es geht besser voran als geplant. War auch notwendig, denn ein für uns unvorhergesehenes Berg­rennen auf den Arlberg hätte unsere Planung beinahe gekillt. 10 Minuten später und die Straße wäre den ganzen Nachmittag gesperrt gewesen.

In Flirsch, wo man den drei skifahrenden Matt-Brüdern mit einer großen Tafel am Ortseingang huldigt, stärken wir uns erstmals mit dem, was unser täglicher kulinarischer Fixstern werden sollte: Fritattensuppe. Schon vor dem ersten Etappenziel in Imst stellt sich auf den Laufeinsätzen ein wunderbares Gefühl ein. Eines von Luxus, sich aufs Laufen konzentrieren zu können. Allein mit sich zu sein, in einer doch meistens schönen Landschaft. Einsamkeit verbunden mit den Sicherheit gebenden Segnungen der Zivilisation. „Warum macht ihr das?“, haben wir alle unzählige Male aus dem Umfeld gehört. Darum. Einen Schritt vor den anderen. Freiheit, Bewegung, aber auch Freundschaft, Zusammenhalt, einer für alle, alle für einen. Gemeinsam schaffen wir das. Noch so ein Satz aus der Pandemie-Normalität. Wir erfüllen ihn zum Leben. Laufen, navigieren, essen, Wohnmobil fahren. Es ist letztlich auch die Reduktion auf das Wesentlichste, die den Reiz ausmacht.

Tag 2 bringt mir eine traumhafte Etappe von Kematen bis unters Goldene Dachl nach Innsbruck und wieder einmal die Gewissheit, wie nahe die Dinge beieinanderliegen. Links vom bewaldeten Radweg fließt der milchig graue Inn, dahinter ragen schon die Berge der Nordkette auf. Rechts von mir donnert die Blechlawine auf der Inntalautobahn dahin. Später im Zillertal zeigt sich auch, dass man oft nur ein wenig von den Trampelpfaden weg muss, um Idylle zu erleben. Wenige Meter neben der aus Verkehrsfunk jedermann bekannten Zillertalbundesstraße schlängelt sich ein Weg durch Wiesen und am Ziller entlang nach Uderns und Zell am Ziller. Wenn beim gleichmäßigen Dahinlaufen die Gedanken frei werden, spürt man wieder – auch das eine Parabel zu unserem Alltag.

Kurz vor dem Anstieg zum Gerlospass empfängt uns mit breitem Grinsen Berglauf-Ikone Markus Kröll, unser erster Gastläufer. Obwohl erst selbst eine Woche vom Berliner Höhenweg retour, tänzelt er für uns den Pass nach oben und erzählt beim Abendessen von seinen China-Reisen als Restaurator und gibt wertvolle Tipps zur Regeneration. Der dritte Tag ist dann der körperlich härteste. Alles zwickt bereits. Oberschenkel, Waden, Hüfte. Zwischen 40 und 75 Kilometer hat da jeder von uns schon in den Beinen. Mental wächst die Euphorie über die zurückgelegte Strecke und steigt zusätzlich, wenn unser Projekt Kinnladen zum Hängen bringt. „Ah, geht’s in den Urlaub“, sagt die Dame an der Tankstellenkassa irgendwo in Österreich. „Nein, wir laufen vom Bodensee zum Neusiedler See.“ Stille, ungläubige Blicke, dann sieht sie den Rest der Bande im Sportgewand an der Zapfsäule. „Bist du deppert“, entfährt es ihr, da sind wir schon wieder dahin.

Ohne Stopp geht es durch Salzburg. Mittersill, Kaprun, Schwarzach, Wagrain. Oft ganz allein in der Natur, bis auf einen halsbrecherischen Kilometer an der B311 entlang. Den Herren im grauen SUV mit Mödlinger Kennzeichen werde ich noch lange verfluchen. Ein Sprung ins Gelände war notwendig, um der „Jetzt komm ich“-Mentalität dieses Herrn lebend zu entfliehen. Alles vergessen, als es die Enns entlang von Altenmarkt via Radstadt Richtung Steiermark geht. Am Anfang meiner Etappe ist die Enns ein Bacherl, am Ende ein Fluss. Manche Dinge erlebt man wirklich nur, wenn man zu Fuß unterwegs ist. So vergehen die Lauftage wie im Flug. Mandling, Lassing, Semmering, Gloggnitz. Das Ende ist nahe. Noch einmal bekommen wir Inspiration. Von Erich Artner, der als 15-Jähriger mit einer seltenen Krankheit dem Tod von der Schaufel gesprungen ist, dabei aber beide Unterschenkel verloren hat. Heute absolviert er Ironman-Bewerbe mit seinen Prothesen.

Es geht die ungarische Grenze entlang, vorbei an der Stelle, wo einst das Paneuropäische Picknick stattgefunden hat und der Eisernen Vorhang erstmals für DDR-Bürger aufgegangen ist, ein Hügel durch den Wald und dann liegt er vor uns, der See. Mit Österreich-Fahne laufen wir mitten auf der Straße nicht nur der Seebühne entgegen, sondern auch der Gewissheit, dass man immer mehr schaffen kann, als man auf den ersten Blick glaubt. 730 Kilometer zu Fuß durch Österreich – mit einem Schnitt von 5 Minuten pro Kilometer. Es stellt sich das Gefühl ein, ganz Österreich nicht nur gesehen zu haben, sondern es erspürt zu haben. Entspannung der in der Strapaz, fünf Tage lang unvergessliche Erlebnisse. Quer durch.

Unsere Partner:

  • Gelaufen sind wir mit einer Weltpremiere: On hat uns den neuen vollgedämpften Schuh „Cloudflyer“ exklusiv zum Vorabtest zur Verfügung gestellt. Der Schuh wird ab 20. August erhältlich sein.
  • Dynafit hat uns mit ultraleichten Laufshirts unterstützt, die Firma Gebetsroither mit einem Wohnmobil, unserem rollenden Basislager.
  • Das Testlaboratorium Hygienicum in Graz hat uns kostenlos die Corona-Tests ermöglicht.


Unsere Gastläufer:

Markus Kröll: Berglauflegende aus Mayrhofen im Zillertal. Hat uns von Zell am Ziller auf den Gerlospass 20 Kilometer abgenommen.
Matthias Stieg: Der Hobbyläufer aus Haus im Ennstal ist kurzfristig für Ultraläufer Klaus Gösweiner eingesprungen, der eine Verletzung ausheilt. „Hias“ ist 27 Kilometer von Mandling bis Pruggern gelaufen.
Christian Dornhofer: Mitglied des „Team Austria“ vom Speed Project 2018. Hat uns an den letzten beiden Tagen mit 20 Kilometern geholfen.
Erich Artner: Unterschenkelamputierter Triathlet und Keynote-Speaker. Hat uns 10 Kilometer im Raum Wiener Neustadt begleitet.