Zwischen Bodensee und Podersdorf sind Gravelbikes groß in Mode. Vor allem bei Einsteigern und Frauen. Aber was ist Gravel nochmal schnell? Und: Sind diese Gelände-Rennräder in letzter Konsequenz nicht bald Mountainbikes?

Christoph Heigl
Christoph Heigl

Umfrage im Bekanntenkreis. Leute, was ist ein Gravelbike? Hmmm. Stirnrunzeln. Telefonjoker. Ganz angekommen ist die neueste Zweiradmodeströmung also noch nicht in der Breite. Kein Problem. Selbst Experten tun sich mitunter schwer. „Vielleicht existiert Gravel ja auch gar nicht“, meint der italienische Ausrüster Sportful provokant. „Es gibt so viele verschiedene Interpretationen dieses Konzeptes, dass es gar keinen Sinn macht, es näher einzugrenzen“, heißt es auf deren Website. Dann gehen die Italiener aber gewitzt ins Detail – immerhin haben sie gerade eine neue Gravel-Kollektion vorgestellt. „Es reicht zu wissen, dass es ab sofort egal ist, auf welchem Untergrund wir fahren oder wie lange wir im Sattel sitzen. Und zu wissen, dass unser Spielplatz jetzt größer ist und länger offen hat.“  

Der Trend kommt aus den USA und rührt daher, dass es quer durch die Staaten noch ein riesiges Netzwerk an unasphaltierten Landstraßen und Pässen gibt. Die Amis haben diese staubigen, sandigen Straßen immer schon geliebt und Rennradfahrer und Abenteurer haben sie längst als neuen Spielplatz auserkoren. Dieses Netzwerk gibt es zwar auch hierzulande, nur dass bei uns längst jede Landes- und Bergstraße mit Asphalt überzogen ist. Jetzt, in einer Art zweiten Welle, scheint Gravel auch bei uns richtig angekommen zu sein. 2020 könnte der Durchbruch sein, wenngleich das Konzept nur eine kleine Zielgruppe im Fokus hat. Aber das haben wir damals auch bei SUVs gedacht, oder? Wir haben zwar keine Tausende Meilen echte Gravel Roads, aber wer suchet, der findet. Auch in und rund um die Alpen lassen sich am Gravelbike wunderbare ­Straßen und Wege befahren. 

Das Beste aber: Mit den Gravelrädern ist auch eine neue Einstellung in Mode gekommen. Relax, es ist kein Rennen, nimm nicht alles so ernst, hab Spaß. Auch typisch amerikanisch, aber das fällt in Europa auf fruchtbaren Boden. Italien ist eines der ersten Länder, wo dieser Lifestyle bestens mit dem Dolce Vita in der Sportvariante harmoniert. Eat pasta, ride fasta. Auch in Bella Italia gibt es (Stichwort Toskana etwa) ein Netzwerk an Wegen und Forststraßen, die sich bestens zum „Graveln“ eignen. En vogue ist auch die Gravel-Mode: Vorbei sind die Zeiten der engen, neongelben Radtrikots mit Pseudo-Sponsoraufklebern und giftgrünen Hosen. Die Gravelfarben sind Schwarz, Schwarz und Schwarz, dazwischen Braun, aber Dunkelbraun, Dunkelblau, Dunkelgrün und Dunkelgrau, alles loose-fit. Die rosa Socken und die neongelbe Oakley lassen wir als netten Kontrast gelten. ­Gravelfahrende Männer tragen Schnauzer, Oberlippler, auf jeden Fall Bärte, lange Bärte, und das wieder modische Kapperl. Damit wirkt man selbst im urbansten Wien wie im sandigen Idaho. Mal selbst ausprobieren: Auf einem Gravelkbike fühlt man sich gleich doppelt so verwegen. Anmerkung: Natürlich darf man Gravel auch fahren, wenn man nicht so aussieht.

Apropos USA: Dort gibt es längst eigene Gravelrennen, ganz entspannt, oft ohne herkömmliche Zeitnehmung, wo ein enormer Frauenanteil (bis zu 30 Prozent) verzeichnet wird. In unseren Breiten haben auch viele Frauen durch Gravel­bikes, die neue Entspanntheit und die lässige Gravel-Mode zum Radfahren gefunden. Die breiten Reifen und Scheibenbremsen sorgen nämlich für Spaß genauso wie für ein sicheres Fahrgefühl. Damit tun sich speziell Anfänger leicht, die sonst vor den 25 mm dünnen Rennradreifen viel Respekt haben. „Ja, das ist sicher ein Verkaufsargument“, bestätigt Claudia Egginger, die für den Schweizer Hersteller BMC arbeitet und dank ihrer Rennerfahrung im MTB-Marathon Infos aus erster Hand hat. „Es funktioniert aber allgemein so gut, weil Gravel im Radsegment nicht so getrieben wirkt. Es heißt nicht immer ,Kette rechts‘ und 30er-Schnitt, es geht auch um Abenteuer und Bikepacking. Das spricht Männer und Frauen an“, weiß die Verkaufsleiterin von BMC Österreich. „Klassische Rennradfahrer genauso wie die Anti-Wettkampfszene und die Anti-Lycra-Typen, die dann erstmals 100 km fahren. Gravel lässt sich in keine Schublade stecken.“ Bei BMC hat sich die neue, spektakuläre Reihe „Urs“ nicht aus der bestehenden Cyclocross-Palette entwickelt, sondern ganz eigenständig, und wird auch innovativ als „Gravel Plus“ bezeichnet. „Unsere Produktentwickler hatten völlig freie Hand und haben vom weißen Blatt weg begonnen. Das ist voll aufgegangen, das Feedback ist sensationell“, freut sich Egginger (siehe auch Praxistest unten).

Gravel
Englisch für: Schotter. Mit ­Gravelbikes sind Rennräder gemeint, die dank breiter und mehr oder weniger profilierter Reifen und robuster Ausstattung auch für Feldwege, Schotterstraßen und leichtes Gelände konzipiert sind und damit die Nische zwischen Rennrad und Mountainbike besetzen. Genaue Definitionen gibt es (noch) nicht. Ideal für: Abenteuer, Weltreise, aber auch Eissalon und mit dem „Go anywhere“-Versprechen vermutlich für alle Bedingungen der Apokalypse.

Noch einmal zurück zu den Gravel-Events. Wer eine Rotweinbottle in der Flaschenhalterung sehen will, einen Schlafsack um den Lenker gewickelt und ein Zelt in der Packtasche, sollte bei einem Gravelrennen vorbeischauen. Heuer erstmals in Österreich, gastiert die Jeroboam-Serie mit einer exklusiven Auftaktveranstaltung am 2. und 3. Oktober in Velden (Kärnten). Veranstalter ist Ex-Profi Johnny Hoogerland, die Strecken sind 75 und 150 km lang – es ist kein Rennen (www.bohemians.cc.). Von den schon vereinzelt in Europa in Szene gegangenen Events kennt man die lässigen Videos: Rad fahren mit einem Lachen im Gesicht, Lagerfeuer, Bier, Livemusik, erdiges Underground-Flair. Das passt auch gut zum bikenden Hipster aus der Anwaltskanzlei und zieht ihn magisch an.  

Luft und Reifen machen’s aus
Im Zentrum stehen natürlich die Räder, eine neue Gattung? Auf den ersten Blick sind es immer noch Rennräder, wenn auch mit aufrechterer Sitzposition und nicht so aggressivem Lenkverhalten. Die Breite der Reifen variiert stark zwischen 32 und 54 mm, Luftdruckempfehlungen schwanken zwischen 2 und 6 bar – das sind Welten. Aber auch schön: Es kommt wieder auf Räder und Reifen an und nicht auf irgendeinen Motor (auch wenn es längst Gravelbikes mit Motor gibt). Viele Räder haben Vorrichtungen für bis zu drei Trinkflaschen, Gepäckträger, Kotflügel und Lichtanlagen, manche nur noch ein Kettenblatt (1 x 12 , also nur zwölf Gänge).
Die Radindustrie freut sich über neue Produkte und Kunden: Gravel­bikes sorgen für niedrige Einstiegspreise ab 1000 Euro genauso wie für fünfstellige Summen im High-End-Bereich.

Die Frage bei Federung, Breitreifen und Co. ist nur: Komplett zu Ende gedacht und wenn sich der Kreis schließt, kommt am Ende doch wieder ein Mountainbike raus, oder? Das neue Diverge von Specialized gibt es mit Federung im Steuersatz, mit Dropper-Seat­post und jetzt auch mit flachem Lenker („flat bar“). So schaut es aus wie ein Mountainbike von 1990. Back to the Future? Ja, warum nicht? Das Gravelbike wird in Magazinen und auf Websites unter der Rubrik Rennrad geführt. Anders als die klassische Rennrad- und MTB-Szene ist die neue Gravel-Generation raduntypisch aber sehr aufgeschlossen für Neues und kann die nächste Evolutionsstufe von Rahmen, Reifen und Rotweinflaschenhalterungen kaum erwarten.

Speed, Spaß, Schotter im Asphaltabseits: Grravelbikes sind groß in Mode

Praxistest BMC URS One  - Urs, du bist mein bester Freund
Wunderschöner, eleganter Rahmen, kantige, knackige Form – das dominiert den ersten Eindruck vom BMC Urs One. Das brandneue Gravelrad der Schweizer Innovationsexperten hat das Potenzial, Hälse zu verdrehen und Augen zum Rollen zu bringen. Ersteres wegen der spektakulären Optik und Fertigungskunst, Zweiteres wegen des Preises von 8999 Euro. Aber das Urs zählt zum Extremsten, was das Segment hervorgebracht hat, und ist eben absolute Luxusklasse. Und vorweg: So fährt es sich auch. Das Einsteigermodell beginnt übrigens bei moderaten 2999 Euro.

Das mit spaciger Sram-eTap-Funkschaltung ausgestattete Urs (das steht für den Schweizer Vornamen genauso wie für UnReStricted, „uneingeschränkt“) rollt auf leichten Carbon-Gravel-Laufrädern von DT Swiss (1540 g) und 42-mm-Reifen von WTB (440 g). Diese Kombi sorgt für einen megasteifen und raketenhaften Antritt des nur 8,23 kg schweren Rades. Im leichten Gelände bergauf schneller als jedes Mountainbike, auf der Straße mehr als ausreichend flott. Der Clou: Der Hinterbau hat ein Federsystem (MTT, 8 mm) und dämpft Erschütterungen erfolgreich weg, vorne ließe sich sogar eine Federgabel nachrüsten. Ende Gelände heißt es erst, wenn Trails rumpelig und wurzelig werden.

Der unten breit ausgestellte Lenker ist top. Auf der Straße lässt sich mit den 42er-„Walzen“ problemlos dahinglühen, wenngleich nicht ganz so schnell wie mit einem Straßenrennrad. Schlechter Asphalt verliert aber völlig an Schrecken, wenn man den Reifendruck von den 4.0 bar Maximum (knallhart) in Richtung 2.0 bar Minimum senkt. Urs kann supersportlich genauso wie superkomfortabel, tatsächlich wird man abenteuerlustig und probiert neue Trails, Straßen und fährt in unbekannte Täler hinein. Man verspürt Abenteuerlust, Urs ist immer und für alles gerüstet. Schotter, Asphalt, Wiese, Wald. Einmal um die Welt fahren? Gerne, Urs, du bist mein neuer bester Freund.
Ausstattungsdetails: www.bmc-switzerland.com