Gib Gummi! Oder: Darf's ein bisserl mehr sein? 2017 gibt es bei Mountainbike-Reifen mehr Auswahl und Größen als je zuvor. Pneus werden dicker, fetter, weicher. Plus-Reifen sind im Kommen. Biker sind verwirrt, Formate überhaupt nicht fixiert. Vorweggenommenes Fazit unseres „Marktchecks": Es muss noch „Reifen" ...

Von Christoph Heigl


Wahre Geschichte: Ein Mountainbiker sucht im Internetforum einen längst nicht mehr erhältlichen Nokian Gazzaloddi, einen 24-Zoll-Reifen mit enormen 3,0 Zoll Breite. Und der erste Witzkopf, der antwortet, schreibt: „Such einen verstorbenen Downhillbiker und schau im Grab nach." Ja, der Trend zu dicken, fetten Reifen, er war vor rund 20 Jahren schon einmal da. Damals gab es eben diese unmenschlich fetten finnischen Nokian-Reifen. Sie haben sich nicht durchgesetzt. Zu schwer, zu wobbelig, unfahrbar. Ausgestorben.

Und jetzt ist er wieder da, der Trend zu fetten aber diesmal leichteren Mountainbikereifen. Damit ist das Wirrwarr um Dimensionen, Breiten und Standards endgültig so groß, dass Einsteiger und Hobbysportler kaum noch durchblicken. Früher war alles einfach: Bikes hatten 26 Zoll große Reifen und die waren fast alle gleich breit. Waren sie schmal, dann 1,9 Zoll. Waren sie breit, dann 2,1. Mehr nicht. Punkt, basta, Gummiwulst.

Das hat sich gravierend geändert. Im Jahr 2017 ist ein Zoll zwar immer noch 2,54 Zentimeter, aber es gibt drei Dimensionen an Laufradgrößen und Dutzende Breiten und Standards. Und damit eine Vielzahl an unterschiedlichen Luftdrücken, um das Maximum an Performance aus der kleinen Kontaktfläche zwischen Zweirad und Mutter Erde herauszukitzeln.

DIE FRAGE DER GRÖSSE
26 Zoll, die alte Größe, der Dinosaurier: 26 Zoll sieht man nur noch auf Bikes, die älter als vier, fünf Jahre sind. Das ist zwar immer noch der Großteil der in Österreich herumfahrenden Mountainbikes, aber bei den Neurädern spielt 26 Zoll überhaupt keine Rolle mehr. Ersatzteile gibt es noch bei Reifen, Felgen, Naben und ganzen Laufrädern (jetzt zum Teil zu Super-Schnäppchenpreisen), aber es wird weniger. Für manche bleiben die Dinos aber Kult.

27,5 Zoll, die Mittelschicht: Der Sprung auf 29 Zoll war einigen Firmen und Kunden doch zu drastisch, somit hat man sich nach einer Schrecksekunde in der Mitte (was mathematisch nicht ganz stimmt) bei 27,5 Zoll eingependelt, bei den Amerikanern heißt es nach dem alten französischen Maß noch 650 B. Das verspricht schon die besseren Rolleigenschaften, aber die Räder werden noch nicht so riesig wie es bei 29 Zoll der Fall ist, und wie es vor allem kleinere Fahrer und Frauen überfordern kann. 27,5 Zoll sind mittlerweile Standard bei vielen Allround-Hardtails, Trailbikes, Enduro- und Downhillbikes.

29 Zoll, die Riesenräder: Wer einmal drauf gesessen ist und die ersten Meter im Gelände gemacht hat, weiß: Diese Räder rollen. Sie sind zwar träger zu beschleunigen, aber einmal in Schwung, gibt es kein Halten mehr. Das Baumaß bedingt aber auch längere und höhere Bikes, weshalb die Räder durchaus eine Kategorie größer ausfallen als gewohnt. Und weniger wendig und verspielt für Trickser. Überschlagsgefühle über den Lenker gibt es dafür nicht mehr. Aber Vorsicht bei Bikern unter 1,70 Meter! Für sie werden diese Bikes unhandlich groß. 29 Zoll sind Standard bei Marathonfullys und den meisten rennorientierten Hardtails, fallweise bei Trailbikes, Enduros (Trek, Specialized) und ganz vereinzelt bei Downhillmaschinen.

Im Schaufenster: 6 Mountainbike-Reifen


DIE FRAGE DER BREITE
Damit ist freilich nicht Ende Gelände. Als das Fatbike vor ein paar Jahren auf den Markt wummerte, regte das weitere Entwicklungen bei den Breiten der Reifen an. Das Fatbike walzte auf 4 bis 4,8 Zoll breiten Undingern daher, wurde belächelt und als Fünftbike und Nischenbike für Schnee (und Sand?) abgetan. Aber interessant: Biker jubelten über die Traktion der „Fetten", denn beim Luftdruck konnte man bis auf 0,45 Bar runtergehen und damit wie ein Monstertruck über alles drüberdonnern. Die Reifen sorgten auch für zusätzlichen Federweg. Außerdem hatten die Laufräder trotz 26 Zoll Felgengröße mit den Riesengummis einen Außendurchmesser, der noch größer als bei 29 Zoll war und damit ein souveränes Drüberrollen im Gelände ermöglichte. Auch der satte Sound der Reifen gefiel. Kehrseite der Medaille: Damit die Reifen fahrbar leicht bleiben, sind sie sehr dünnwandig und anfällig für Defekte.

Das „Plus"-Format wurde als Folge aus der Taufe gehoben. Wieder als goldener Mittelweg und wieder zunächst bei 27,5 Zoll, die mit den etwa 3 Zoll breiten Reifen als 27,5+ ebenfalls zu 29 Zoll aufschlossen. Wenn es nun heuer auch 29+ geben wird (Schwalbe Nobby Nic in 29 x 2,6), kann man nur erahnen, wie es sich in den Marketing- und Forschungsabteilungen der Marktführer Schwalbe, Continental und Maxxis abspielen muss. Für jeden will man was anbieten, keinen Trend verschlafen.

Auch Felgen und Nabenhersteller sind gefordert, denn natürlich wurden auch die Felgen wesentlich breiter, um die dicken Schlapfen zu führen. DT Swiss bietet mittlerweile Breiten von 20 bis 100 Millimeter an. Für mehr Steifigkeit im Laufrad gibt es Steckachsen, die von 10 mm auf 12, 15 und 20 mm anwuchsen. Naben entwickelten sich von 135 mm auf 142 mm und den noch breiteren Boost-Standard. Knallte man früher MTB-Reifen mit 3 bis 4 Bar Luft voll, reichen heute 1 bis 2 Bar, der Komfort ist spürbar besser. Auch die neuen E-Bikes rollen auf breiteren Reifen.

SCHLAUCH ODER DICHTMILCH?
Und auch im Inneren des Reifens tobt ein Kampf. Schlauch oder Dichtmilch? Nach wie vor schwören viele Biker auf den herkömmlichen Fahrradschlauch. Wer auf mehr Pannensicherheit und etwas besseres Abrollverhalten setzt, kauft Reifen in der Variante Tubeless („schlauchlos") und befüllt den Reifen mit einer dickflüssigen Dichtmilch, die bei kleinen Stichen den Reifen abdichtet. Auch bei der Konsistenz der Lauffläche und der Seitenwände lassen sich die Hersteller immer wieder Neues einfallen: weicherer Gummi, besseres Abrollverhalten, weniger Pannenanfälligkeit.

Das Fazit aus allem: Die Produkte werden immer besser, aber auch immer spezialisierter. Langlebige Trends gibt es kaum noch. Zurück bleibt ein Kunde, der beim Radkauf nicht genau weiß, auf welchen Zug er aufspringen soll. Deshalb empfehlen wir: Keine Angst vor den Neuheiten, keine Vorurteile, alles ausprobieren, mehrere Reifensätze für ein und dasselbe Bike verwenden. Es ist für alle etwas da. Aber es muss noch „Reifen".


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