Im Winter fahren nur die Harten Fahrrad. Oder die, die damit ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Ein Tag mit dem Fahrradboten Lukas Kienreich.

Von Christoph Heigl


Fast hätte ich es übersehen. Mit einem kleinen Handzeichen zeigt mir Lukas an, dass wir rechts in die nächste Gasse abbiegen. Volles Tempo, gerade noch gut gegangen, am Bus bin ich knapp vorbei. Lukas Kienreich ist es nicht gewohnt, dass jemand in seinem Windschatten hängt. Er muss die Lücken im Verkehr normalerweise nur für sich finden. Heute ist alles anders, heute hat er einen Praktikanten. Mich. „Wenn jemand bei uns neu anfangen will, nehme ich ihn mit auf die Tour. Da stellt sich schnell heraus, ob er als Radbote geeignet ist. Es geht nicht nur ums Radfahren, man muss auch navigieren und die Aufträge erfüllen können. Und wir fahren auch, wenn es ungemütlich ist. Aber wir nehmen eh nicht jeden."

Kienreich arbeitet seit fünf Jahren als Fahrradbote in Graz. Er fährt das ganze Jahr, bei jedem Wetter. „Im Sommer wie im Winter ist es herrlich, so durch die Stadt zu flitzen. Außer es regnet. Wenn ich Schichten mit zehn Stunden mache, komme ich am Tag auf 150 Rad-Kilometer nur im Stadtgebiet." Heute ist es nicht ganz so herrlich.

Bei meinem Vorschlag in der Redaktion, einem echten Winter-Radfahrer auf den Zahn zu fühlen, hätte ich zwar ahnen können, dass sie mich selbst mit auf die Reise schicken werden, aber dass wir uns just den kältesten Tag dieses Winters aussuchen sollten, ist ein besonderer Gag. Minus 12 Grad zeigt das Thermometer, als ich aufs Rad steige, minus acht, als wir die Schicht in der Grazer Innenstadt beginnen. „Geht eh", sagt Lukas und tritt in die Pedale. Da habe ich noch kaum den gelben Riesenrucksack von „Veloblitz" am Rücken. Erstes Ziel ist eine Druckerei, dann geht es in den Norden der Stadt. Mir wird schnell warm, um nicht zu sagen brennheiß, denn der schnelle Bote ist ein verdammt flinker Radfahrer. Nach 15 Minuten denke ich an den Abbruch der Mission. Ich behindere ihn nur. „Mein Körper hat fast zwei Jahre gebraucht, um sich an diese Belastungen zu gewöhnen. Dieses ständige Stop-and-go ist nicht ohne." Mir kommt es wie ein hartes Intervalltraining vor. Lukas beschleunigt sein Rad extrem schnell von null auf Reisegeschwindigkeit, der Antritt des schlanken Mannes ist beachtlich.

KEINE MONA LISA
Dabei hat sein Rad nur einen Gang. Es ist ein sogenanntes Fixie (von „fixed gear"), hat keine Hinterbremse und auch keinen Freilauf. Radfreaks, und dazu zählen die meisten Botenfahrer, lieben diese Simplizität. „Das gehört einfach dazu, wenn man Fahrradbote ist", findet Kienreich. Zu seinem Arbeitsgerät hat der 32-Jährige eine gespaltene Beziehung. „Viele finden es hässlich", lacht er, „aber es erfüllt seinen Zweck." Das ehemalige Bahn-Rennrad ist optisch wahrlich keine Mona Lisa, es ist abgeschunden, abgeklebt, aber es hält. Die verstärkten Rennradreifen („normale 8 bar Luft") müssen Rollsplit, Glassplitter und gelegentlich Schotter aushalten. „Einen Patschen habe ich aber extrem selten." Das verwundert bei 10.000 Kilometern Arbeitsleistung pro Jahr.

„Darf mein Kollege mit?" Wir stehen an der Sicherheitsschleuse eines bekannten Konzerns. Da darf nicht jeder rein, aber sein Name ist hinterlegt, ich darf gnädigerweise mit. Bis zu acht Aufträge werden gleichzeitig erledigt, das können pro Runde bis zu 20 Stopps sein. Transportiert wird alles, was im Rucksack Platz hat, meistens Laborproben, Dokumente und Medikamente. Nachdem wir auch einen 12er-Gabelschlüssel zugestellt haben, kriegt Lukas per eigens programmierter App einen brisanten Auftrag. „Jetzt müssen wir schnell sein." War das bis jetzt nicht schnell??? Eine sogenannte „Expressfahrt" steht an, oft ein medizinischer Notfall. Volle Kanne zum Krankenhaus, runter vom Rad, durch Gänge und Räume laufen, jemand händigt uns einen Beutel aus. „Was ist da drin???" – „Frag lieber nicht!" Das Ding, wohl eine Gewebeprobe, denke ich mir, stammt von einem Mann, der am OP-Tisch liegt, und muss sofort zur Pathologie am Stadtrand. Lukas tritt noch schneller, findet Abkürzungen, durchkreuzt Hinterhöfe, ich verliere völlig die Orientierung, aber wir schaffen es rechtzeitig. Durchschnaufen, für ein paar Minuten rattern keine Aufträge aus der App.

IN DER FREIZEIT: AM RAD
„Nein", lacht Lukas in der kurzen Pause, „reich wird man davon sicher nicht. Aber so ist das, wenn man das Radfahren liebt." Für 30 Stunden ist der gelernte Maler aus Weiz angestellt, das umfasst Fahren und Funken in der Zentrale. Und was man kaum für möglich hält: In seiner „Freizeit" sitzt er ebenfalls am Rad. Wie einige seiner Kollegen aus dem Botenumfeld wie Christoph Strasser, Severin Zotter und Franz Preihs ist auch Kienreich ein begeisterter Langstreckenfahrer. Bei Rennen wie Race Around Austria und Race Across the Alps landet er im Spitzenfeld. Ohne gelben Rucksack.

Die Vormittagsschicht, rund 60 km, ist fast vorbei. Noch einmal ruckizucki in die Innenstadt. Man lernt, die Stadt aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Man ist in keine überfüllte Straßenbahn gequetscht oder ins Blechkleid eines Autos, man ist am Rad irgendwie freier, ein bisschen auf der anderen Seite der Gesellschaft. Eine ältere Dame geht bei Rot über den Zebrastreifen, wir müssen ihr ausweichen. Lukas selbst hält sich an so viele Regeln wie möglich. „Mit der Polizei haben wir nie ein Problem."

Die Fahrweise fordert dennoch vollen Körpereinsatz. Über die Kante auf den Radweg springen, zwischen Müllabfuhr und Bus durchquetschen, dass beide Ellbogen streifen, spätestens jetzt weiß ich, warum Radkuriere oft sehr schmale Lenker haben – diesen Job würde ich keine Woche überleben. „Aber wenn sich alle an die Regeln halten, und das tun 99 Prozent, gibt es kaum unvorhersehbare Situationen. Man lernt, für die anderen mitzudenken und im Verkehr mitzuschwimmen", lacht Lukas und schlängelt sich elegant zwischen einen BMW und einen Transporter. Für seinen Praktikanten ist die Lücke diesmal zu eng.

Fahrradkurier Lukas Kienreich / Bild: Thomas Polzer
Der Fahrradkurier
LUKAS KIENREICH ist Fahrradkurier bei „Veloblitz" in Graz. In seinen Schichten fährt er bis zu 150 km am Tag im Stadtgebiet. Im Sommer und im Winter.



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