Bewegungslust statt -mangel. Kinder zum Sport zu überreden, erübrigt sich, wenn man sie von klein auf ihr Bewegungsbedürfnis ausleben lässt. Eine neue Studie der Uni Wien unterstreicht den Wert von Bewegung im Kindesalter.
Wandern, Biken, Tennistraining oder Skitourengehen – mit dem Nachwuchs gemeinsam: In der Vergangenheit haben wir schon viele Geschichten übers Sportbetreiben mit Kindern gebracht. Stets ging es dabei darum, wie man Kindern Sport und Bewegung schmackfhaft machen kann. Eigentlich ist es aber paradox: Einerseits wird (zu Recht) der verbreitete Bewegungsmangel, oft schon im frühen Schul- und spätestens im Jugendalter beklagt. Auf der anderen Seite werden Kinder genau in jenem Alter, wo ihr Bewegungsdrang noch am größten ist, zum Stillsitzen „motiviert“.
„Bewegung ist ein menschliches Grundbedürfnis“, sagt der Sportsoziologe und Leiter des Zentrums für Sportwissenschaften an der Uni Wien, Otmar Weiß: „Andererseits wird der menschliche Bewegungsdrang seit jeher, spätestens mit dem Schulsystem unterdrückt.“ Weiß und ein Wissenschafter-Team der Uni Wien haben aktuell eine mehrjährige Studie an Schulen abgeschlossen, in der die Bedeutung von Bewegung im Kindesalter untermauert wird. Bei dieser sogenannten „Psychomotorik“-Studie ging es aber nicht nur darum, ausreichend Bewegung als Ausgleich in den sitzend verbrachten Schulalltag zu bringen: Lernen und Bewegung werden in der psychomotorischen Pädagogik miteinander verknüpft.
Psychomotorik ist eine relativ junge Wissenschaft. Sie geht davon aus, dass Bewegungsimpulse erstaunliche Auswirkungen auf die Gehirn- und auch die Charakterbildung haben. „Bewegung ist Leben – und Bewegung ist der Motor der Entwicklung des Menschen“, bringt es Weiß auf den Punkt.
Bei psychomotorischen Unterrichtsmethoden wird bewegt gelernt.
Sport macht gescheit ...
Generell ist heute viel darüber bekannt, wie stark sich Sport und Bewegung nicht nur auf die körperliche, sondern auch auf die geistige Leistungsfähigkeit auswirken – doch die Wissenschaft ist bei dem Thema noch lange nicht am Ziel. Junge Erkenntnisse der „Bewegungsneurowissenschaften“ etwa zeigen, dass sich Bewegung nicht nur positiv auf die Konzentrationsfähigkeiten auswirkt, sondern sogar die Bildung von Synapsen im Gehirn anregt. Dass sich sozusagen das Gehirn wie ein Muskel trainieren lässt.
Oder: „Man hat Sportlern und Nichtsportlern in Studien Denkaufgaben gestellt und dabei nachgewiesen, dass in den Gehirnen von körperlich trainierten Menschen nur jene Kreise in Betrieb genommen werden, die dafür notwendig sind – während bei den Nichtsportlern das gesamte Gehirn arbeitete, um dieselbe Leistung zu erbringen“, erklärt Weiß. Vereinfacht auf den Punkt gebracht: „Sportlergehirne arbeiten effizienter."
Weiß hält auch fest: „Die sitzende Position ist die schlechteste Körperhaltung für den Menschen überhaupt“. Und diese Feststellung gilt wiederum nicht nur für die körperliche Gesundheit, sondern auch für die Entfaltung von Kreativität und geistigen Kapazitäten. „Enorme Potenziale“ würden brachliegen, weil geistige Arbeit in der Regel im Sitzen zugebracht wird, davon ist Weiß überzeugt.
Damit wieder zu den Kindern: „Je jünger man ist, desto besser funktioniert die Entwicklung, die durch Bewegung angeregt wird“, sagt Weiß. Psychomotorik beschäftige sich zwar grundsätzlich mit den Auswirkungen von Bewegung auf den Geist in jeder Altersgruppe – doch „Bewegungs- und Kreativitätspotenziale sind bei Kindern am höchsten.“
… und formt die Persönlichkeit
Weiß hat vor einigen Jahren den „Lehrgang für Psychomotorik“ am Wiener Zentrum für Sportwissenschaften initiiert, in dem Pädagogen psychomotorische Lehrmethoden erlernen – und dadurch anschließend im Unterricht anwenden können. „Psychomotorik geht vom natürlichen Bewegungsbedürfnis aus. Es geht dabei darum, Anreize und eine Begleitung zum Lernen zu schaffen, die die Bedürfnisse der Kinder mit einbezieht. Und es geht darum, den Bewegungsdrang von klein auf zu nutzen, weil Bewegung zentral für die Gehirn- und Persönlichkeitsentwicklung ist.“
Wie das in der Praxis aussieht? Zum Beispiel werden Buchstaben und Zahlen in Bewegung gelernt und somit körperlich, mit mehreren Sinnen gleichzeitig erfahren. Klassen werden nicht als Sitzräume, sondern als Bewegungsräume gestaltet. „Erst wenn etwas im Sinn ist, ist es im Verstand“, sagt Weiß.
Im Jahr 2012 haben die Wiener Experten die Studie über psychomotorisches Lernen in Klassen an Wiener Volksschulen und Neuen Mittelschulen gestartet, sechs Jahre lang Ergebnisse gesammelt und die Entwicklung mit solchen Kindern, die gewöhnlich sitzend unterrichtet werden, verglichen. Auffälligstes Ergebnis der Studie sei, dass sich die „bewegt“ unterrichteten Kinder vor allem in emotionaler und sozialer Hinsicht signifikant besser entwickelt hätten, erklärt der Sportsoziologe. Weniger signifikant waren die Ergebnisse bei Lese- und Rechentests. Weiß ist dennoch von den großen Vorteilen, wenn man das Lernen mit Bewegung kombiniert, überzeugt: „Psychomotorik erreicht genau in jenen Bereichen die besten Ergebnisse, wo sie ihre Stärken hat – in der emotionalen und sozialen Entwicklung.“
Was können Eltern nun als Fazit daraus ziehen? In erster Linie: Seid „bewegungshungrige“ Vorbilder und fördert und erhaltet den natürlichen Bewegungsdrang eurer Kinder. Auch Jugendliche haben einen solchen Bewegungsdrang grundsätzlich noch – da geht es aber dann oft wirklich darum, ihn erst wieder zu erwecken.
„Bewegung fördert ganz stark auch die emotionale Entwicklung“, schließt Otmar Weiß – sprich: den Umgang im Miteinander, die Stabilität der Persönlichkeit oder die soziale Eingebundenheit. „Werte wie Fairness und Respekt aber auch den Umgang mit Emotion und Frustration: Das alles lernt man durch Bewegung und Sport am besten.“ Nicht umsonst sagt man: Sport ist die beste Lebensschule.