Unter den Freeskiern gilt Jérémie Heitz als einer der Extremsten. Für ein Filmprojekt ist der Schweizer mehr als 6000 Meter hohe Berge abgefahren. Um was zu erleben? Die faszinierende Magie jeder einzelnen Entscheidung.
Jérémie, euer Film „La Liste – Everything or Nothing“ startet gerade in den Kinos. Worum geht’s?
Mit meinem Skipartner Sam Anthamatten und einer Filmcrew waren wir auf 6000ern in Peru und Pakistan. Das Skimaterial hat sich verändert, wir können damit extrem steile Hänge schnell und kontrolliert abfahren. Nun wollten wir zeigen, was im „Steep Skiing“ in Hängen mit einer Neigung von mehr als 45 Grad möglich ist.
Welche deiner Abfahrten war die steilste?
Schwer zu sagen, wir messen das nicht. Ein vereister Hang ist ohnehin eine andere Geschichte als eine Abfahrt, auf der zehn Zentimeter Powder liegen. Ob das Gelände nun 45 oder 55 Grad steil ist, hat also gar nicht so viel Aussagekraft.
Die meisten Menschen verstehen unter „Freeriding“ den Spaß im unberührten Schnee. Bei euch arten die Projekte in Stress aus. Warum?
Wir verbinden das Skifahren mit dem Bergsteigen. Für eine Abfahrt sind wir oft eine ganze Woche unterwegs. Rund um das Basecamp laufen wir Touren, um uns an die Verhältnisse und die Höhe zu gewöhnen. Was dir am Ende die Befriedigung gibt, ist nicht nur die Abfahrt, sondern die Mission. Du siehst ein Face auf einem Foto und träumst davon, es abzufahren. Und auf einmal fährst du wirklich auf diesem Hang, gehst voll im Moment auf. Wenn du realisierst, dass du diese unmöglich erscheinende Herausforderung bewältigt hast, dass deine Vision Wirklichkeit wurde – dann ist das ein unbeschreiblich schönes Gefühl.
Was sind die entscheidenden Faktoren für den Erfolg einer solchen Mission?
Es ist die Summe aus allen Entscheidungen. Wenn du dich in den Bergen bewegst, geht es immer wieder darum, die richtige Entscheidung zu treffen. Es beginnt bei der Wahl des Zeitfensters und endet im Hang, bei der Entscheidung für jeden einzelnen Schwung. Es geht um Präzision. Und um diese Präzision in deinen Entscheidungen zu haben, brauchst du viel Erfahrung. Nicht selten ist umzukehren die einzig richtige Entscheidung.
Entscheidest du mit dem Kopf oder aus dem Bauch?
Ich denke, es ist die Mischung aus Erfahrung, kalkuliertem Abwägen und Bauchgefühl. Und das geschieht in den meisten Fällen im Team. Unsere Crew ist sorgfältig ausgewählt, sie besteht aus Bergführern, Alpinisten, Kameraleuten. Menschen, die sich gut kennen. Nicht selten fällt einer anderen Person ein Detail auf, das deine eigene Entscheidung verändert.
Fühlst du dich in einer kritischen Situation eher ruhig und klar? Oder schlägt dir das Herz bis zum Hals?
Ich denke, das sind zwei verschiedene Situationen. Liegt ein Problem vor mir, bleibe ich ruhig, um das Problem zu lösen. Wird daraus Stress, bin ich schon zu weit gegangen. Genau das gilt es zu vermeiden, denn jetzt kannst du nicht mehr agieren, sondern nur noch reagieren. Gefühlter Stress ist in der Regel die Konsequenz einer falschen Entscheidung.
Was dir am Ende die Befriedigung gibt, ist nicht nur die Abfahrt, sondern die Mission.
Trotz deiner Erfahrung sieht man dich immer wieder ordentlich crashen, ob auf der Freeride World Tour oder zuletzt in Pakistan. Was läuft da falsch?
Bei dem Sturz in Pakistan waren die Bedingungen perfekt, ich bin gefahren, wie ich es mir im Vorfeld erträumt hatte. Plötzlich verliere ich meine Ski, keine Ahnung, warum. Aber genau das ist der Punkt: Wie erfahren du auch bist, du musst immer damit rechnen, dass der Berg eine Überraschung für dich bereithält. Das eigene Limit zu finden ist eine diffizile Angelegenheit. Der ein oder andere Sturz ist aber auch notwendig, weil er dir wichtige Informationen liefert, dein Limit zu verschieben.
Warum ist es so wichtig für dich, dein Limit zu verschieben?
Ohne ans Limit zu gehen oder ein klein wenig darüber hinaus, gibt es keinen Fortschritt. Das gilt für alle Bereiche des Lebens. Da ich mich weiterentwickeln möchte, ist mein persönliches Limit ein Ort, den ich immer wieder aufsuchen werde.
Muss man dafür so extreme Projekte realisieren?
Für mich ist es gar nicht so extrem. Dein Limit ist in erster Linie die Angst, die du in gewissen Situationen empfindest. Du gewöhnst dich daran, gewinnst an Sicherheit und so verschiebst du dein Limit auf das nächste Level. Als Kind ist es extrem, das erste Mal alleine im Sessellift zu fahren. Wenn ich zurückblicke, habe ich das Gefühl, eine ganz natürliche Entwicklung genommen zu haben. Weil ich niemals meine Neugier verloren habe, mich immer weiter pushen möchte. Statt in einen Sessellift zu steigen, fahre ich nun eben 6000 Meter hohe Berge ab.
Liegt ein Problem vor mir, bleibe ich ruhig, um das Problem zu lösen. Wird daraus Stress, bin ich schon zu weit gegangen.
In Peru ist euer Fotograf Mika schwer gestürzt, du hast den regungslos schlitternden Körper gerade noch stoppen können. Ihr musstet euren Freund mit Kopfverletzungen, gebrochenen Wirbeln und Knochen ins Tal bringen. Wie hast du das erlebt?
Dieser Tag hat einiges in mir verändert. Natürlich weißt du, dass solche Dinge passieren können. Aber erst wenn es geschieht, realisiert du, was es bedeutet. Wir sind um 3 Uhr früh aufgestanden und 12 Stunden bis zum Gipfel geklettert. Alle waren erschöpft. Plötzlich siehst du deinen Kameraden den Hang hinabstürzen, bis du ihn in einer Höhe von 5200 Metern in einem Steilhang aufhältst. Wir konnten keine Hilfe rufen. Im Himalaya ist die Bergrettung organisiert, in Peru treibst du so schnell keinen Helikopter auf. Es war für das ganze Team mental wie physisch extrem anstrengend. Wir waren weitere 15 Stunden unterwegs, um Mika in Sicherheit zu bringen.
Was hat es in dir verändert?
Schwer zu beschreiben. Es fühlt sich an, als hätte ich die Lebenserfahrung eines ganzen Jahrzehnts an einem einzigen Tag im Schnelldurchlauf gemacht.
Welche weiteren Erfahrungen hast du mit nach Hause gebracht?
Der Artesonraju in den Anden war mein erster 6000er. Ich habe Neuland betreten und konnte erleben, wie ich auf die Bedingungen in dieser Höhe reagiere. Das ist purer Luxus, für mich sind Erfahrungen von unschätzbar großem Wert.
Welche Erfahrung war die schönste?
Das Reisen in Pakistan. Bei uns wird das Land sehr negativ dargestellt, man liest von Terrorismus und Konflikten. Als wir in Istanbul in den Flieger nach Islamabad gestiegen sind, war ich besorgt, was mich erwarten würde. Und dann war alles ganz anders! In der Schweiz laufen Menschen an dir vorüber, ohne dich anzusehen. In Pakistan hatten wir so offene, authentische Begegnungen. Die Menschen in den Bergen produzieren nur, was sie wirklich brauchen. Dabei wirken sie auf natürliche Weise glücklich. Wir reden gerne davon, wie hoch entwickelt wir in Europa sind. Plötzlich wird dir vor Augen geführt, dass wir einfach nur durch unser Leben hetzen.
In eurem Film sind die Worte zu hören, es gehe darum, das eigene Leben „mit Bedeutung“ auszustatten. Was ist die Bedeutung deines Lebens?
Dafür zu trainieren, immer wieder neue Abenteuer in den Bergen zu erleben. Ich kann mich glücklich schätzen, mich durch das Skifahren ausdrücken zu können. Nicht jedem ist vergönnt, genau das zu tun, was er tun möchte. Das ist in unserer modernen Welt auch gar nicht so leicht. Aber man sollte es versuchen. Zu tun, was man will – ist die einfache Botschaft. Hört sich simpel an. Aber in meinen Augen bedeutet es alles.
Wir reden gerne davon, wie hoch entwickelt wir in Europa sind. Plötzlich wird dir vor Augen geführt, dass wir einfach nur durch unser Leben hetzen.