Als Kletterer überwintern – was darf es denn sein? Kletterhalle, Boulderraum – oder doch lieber eine Skitour? Profi Herbert Ranggetiner hat sich für SPORTaktiv zu diesem Thema Gedanken gemacht ...
Jedes Jahr, wenn es kälter wird, steht man als Kletterer vor einem nicht zu unterschätzenden Problem: Wie rette ich die mühsam antrainierte Form über die Wintermonate? Früher gab es für unsereins zwei Varianten: Rein in den VW-Bus und ab in wärmere Gefilde, oder runter in den dunklen Boulderkeller. Etwas blass und lichtscheu, aber mit einem Kreuz, das um einen gefühlten Meter breiter war, kroch man dann Monate später wieder aus diesem Loch. Aber auf die Frage: „Hast was trainiert im Winter?" kam dann von jedem dieselbe Antwort: ,,Na, überhaupt nix, extrem faul g'wes'n den Winter. Wenn's hochkommt, vielleicht fünf Klimmzüge" ...
Heute strömen Massen von Menschen in die Kletter- oder Boulderhallen, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Ein Boom, der wohl noch lange nicht seinen Höhepunkt erreicht hat. Statt monotonem Gewichteheben geht man heute in die vollklimatisierte Kletterhalle mit Großbild-TV und Coffeeshop. Während die einen noch ihren Cappuccino trinken, tummelt sich vom Bürohengst über das knackige Mädel bis hin zum Opa und Kleinkind alles in der Welt der Plastikgriffe.
Weil ich als Profikletterer oft um meine Meinung gefragt werde: Kann man etwas Negatives über einen Ort sagen, an dem Menschen etwas für ihren Körper und ihre Gesundheit tun?
Ein Ort, an dem geklettert wird, schwer oder leicht, im Toprope oder im Vorstieg, und wo man auch noch seine Koordination fördert? Nein, ich finde es großartig, dass in einer Zeit, in der Themen wie Mangel an Bewegung, Übergewicht oder Verblödung vor dem Fernseher mehr als präsent sind, die Menschen in Kletterhallen gehen. Ich sage sogar: Besteht örtlich die Gelegenheit, dann sollten ganze Schulklassen die Kletterhalle besuchen und mit Spiel und Spaß an die Materie herangeführt werden. Denn so wird Sport wieder cool – auch für die Kinder, die nicht einmal mehr einen Purzelbaum beherrschen.
Das Klettern in einer Halle hat sich längst zu einer eigenen Sportart entwickelt – die meisten Aktiven klettern ja überhaupt nicht mehr am Fels. Die vielen Vorteile liegen schließlich auf der Hand: kein mühsamer Zustieg, wetterneutral, kein Dreck oder Getier (wichtige Info für die Frauen), klar geregelte Öffnungszeiten – und ganz wichtig: der „Sehen-und-gesehen-werden-Effekt".
Trotzdem, ich persönlich bin selten in der Kletterhalle. Ich gehöre eben noch zur „old school-Generation". Ich brauche frische Luft und muss die Elemente in all ihrer brachialen und herrlichen Vielfalt spüren. Wind, Sonne, Kälte und die Fähigkeit, sich auf diese Kräfte einzustellen, geben mir erst das Gefühl, so richtig zu leben.
Auch bei Minusgraden und Schneefall trifft man mich oft am Fels. Ein Lagerfeuer, eine Tasse Kaffee, dazwischen werden schnell einige Seillängen geklettert – ist alles Einstellungssache! Aber klar, es gibt auch die Tage, wo man nicht mal seinen Hund vor die Tür schickt, da zieht es mich in meinen eigenen Boulderraum und hier geht es ans Eingemachte. Hier arbeite ich an meinen Schwächen, trainiere für geplante Projekte und baue Schlüsselstellen von Routen nach. Wie ihr am großen Bild seht: Eine Kletterwand Marke Eigenbau, gerade mal 2 Meter breit und 4,5 Meter hoch – aber 60 Grad steil ...
Dieses kleine Universum beinhaltet so ziemlich jede Art von Griffen, die es auch am Fels gibt. Hier ist der kleine Raum kein Problem: Mein Körper trainiert bloß an einem aus einer Notlösung geschaffenen Ort – geistig klettere ich gerade draußen an einem warmen Herbsttag eine geniale Route hoch. Das Ausweichen in den Boulderraum wird durch meine Ziele und Visionen gerechtfertigt. Würde ich in Frankreich oder Spanien leben, wäre ich wohl nur am Fels zu finden.
Aber Winter heißt für mich auch Pulverschnee, Skifahren – und vor allem: mit den Tourenskiern durch einsame, wunderschöne Bergwelten zu wandern. Ein Traum für den Kopf – und zugleich, auch für Klettersportler, ein durchaus effektives Ausdauer- und Konditionstraining. Bei dem du mit der Wahl der Route ja selbst bestimmen kannst, welche Intensität du reinlegst.
Aber ganz egal, ob du in die Kletterhalle gehst, im eigenen Keller ackerst oder durch den Tiefschnee stapfst – Hauptsache, du spürst den ,,Positiv-Effekt''. Denn alles ist besser, als im Winter zu Hause vor der Glotze zu sitzen und mit Chips und Cola seinen Körper und Geist auf eine fatale Talfahrt zu schicken.
Der Kletterprofi | HERBERT RANGGETINER, 47, aus Mühlbach im Pinzgau (Sbg), ist Profikletterer und einer der besten Extremkletterer Europas. Mehr als 600 Lines europaweit wurden von ihm als Erstem durchstiegen. Ein Porträt mit spektakulären Bildern bietet die (nicht mehr ganz aktuelle) Kurzdokumentation "Fels und Mensch im Ausnahmezustand" (siehe unten). Im SPORTaktiv Magazin gibt Herbert nun regelmäßig einen Einblick in die faszinierende, für viele aber auch unbegreifliche Welt des Freikletterns. Dabei nimmt er sich in jeder Ausgabe eines bestimmten Themas an, erklärt Techniken und Abläufe – und lässt den Leser dabei auch an seiner ganz speziellen Lebensphilosophie teilhaben. |
Video: Herbert Ranggetiner - Mensch und Fels im Ausnahmezustand