Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die sollte man als naturverbundener und mit dem Abenteuer-Gen behafteter Outdoor-Sportler unbedingt einmal im Leben machen. Mit Hundeschlitten und Zelt durch die skandinavische Tundra zu fahren, gehört definitiv dazu.
Von Klaus Höfler
„Es wird kalt“, hat er gesagt. Aber so kalt? Die Temperaturen sind in der Nacht unter die Minus-20-Grad-Marke geplumpst. Kein Problem in einer beheizten Wohnung bei einer warmen Tasse Tee. Aber in einem Zelt mitten im skandinavischen Outback?
Böig schlägt der Wind gegen die dünne Kunststoffplane, die das klirrend kalte Draußen vom auch nicht viel wärmeren Drinnen trennt. Nur die äußerste Nasenspitze wird der frostigen Luft ausgesetzt, der Rest des Körpers steckt in einem dicken Schlafsack. Müde. Sehr müde.
Das Abenteuer hat vor zwölf Stunden in einem kleinen Birkenwald in Signaldalen im Dreiländereck von Schweden, Norwegen und Finnland, knapp 200 Kilometer über dem Polarkreis, begonnen. Empfangskomitee: 200 aufgeregte Alaska-Huskies. Lärmkulisse: entsprechend. Der Grund: „Fjällräven Polar“ – ein Hundeschlitten-Abenteuer der besonderen Art.
300 KILOMETER DURCH DIE TUNDRA
In fünf Tagen geht es über eine Strecke von rund 300 Kilometern quer durch die subarktische skandinavische Tundra. Rund 30 Personen, zusammengewürfelt aus 15 Nationen und ausgewählt über ein Internet-Voting (das aktuelle für das Event 2015 war am 12. Dezember zu Ende), nehmen daran teil. Als einziges Transportmittel dienen Hundeschlitten, übernachtet wird in Zelten (wenn überhaupt), gegessen Campingkost (aber dazu später), gefahren von vormittags bis in den frühen Abend.
UNFASSBARE UNENDLICHKEIT
Schon am ersten Tag sind es an die 70 Kilometer. Durch eine Szenerie, die einen glauben lässt, auf einen anderen Planeten transplantiert worden zu sein. Durch krummstämmige Waldausläufer geht es auf den ersten 20 Kilometern gut 600 Höhenmeter hinauf in die Berge. Wie weiße Pyramiden ragen deren spitzen Gipfel in den wolkenleeren Himmel. Ein verloren herumstehendes Schild markiert die Grenze zu Norwegen. Bizarre Intervention des staatspolitisch Konkreten in einem Gebiet, wo alles Begrenzende in unfassbarer Unendlichkeit zu zerrinnen scheint. Man fühlt sich einigermaßen verloren, die Konfektionsgröße der Natur ist hier für den Menschen mindestens zwei Nummern zu groß. Wie eine Ameisenstraße in einer riesigen Sandkiste bewegt sich unser Konvoi durch die Weite der Landschaft Lapplands.
KRAFT UND FREUDE
Jeder Teilnehmer lenkt einen Schlitten mit sechs Hunden. Zumindest kann man sich das einbilden. In Wahrheit fahren die Hunde mit einem – sofern man nicht gerade den eisernen Bremsanker in den gefrorenen Boden gerammt hat. Aber selbst dann zupft und ruckelt es, wenn vorne das Sextett in sein Zuggeschirr springt. Man spürt die ungestüme Kraft und ungeduldige Freude der Hunde am Laufen. Das tröstet über das anfangs schlechte Gewissen hinweg, sich und den 90 Kilo schweren Schlitten von sechs eher schmächtigen Hunden durch die Gegend ziehen zu lassen.
Aus der Skepsis wird schnell Begeisterung für die tierische Leistung, die sie abliefern. Ein halbes Dutzend gerade noch wildfremder Hunde – korrekt: Hündinnen – mutiert schnell zu „meinem Team“: Grony, die umsichtige Leithündin; Kraftmaschine Patch; Button, mit ihrem gefleckten Fell; die schüchterne Gina; Dina, die Arbeitsbiene; und Leepee, der Freigeist. Die sechs werden kurzfristig zu meinen Lebensabschnittspartnerinnen. Sie laufen für mich, ich koche für sie. Sie ziehen mein Gepäck, ich schaufle ihnen jeden Tag eine Grube, pflastere sie mit Stroh aus. Sie jaulen für mich Gute-Nacht-Lieder Richtung Mond, ich massiere abends ihren müden Beine. Abenteuer kann kitschig sein.
FROSTIGE ROUTINE
Der Ablauf wird schnell zur Routine. Mit der Wiederholung kommt auch die Geschwindigkeit. Am ersten Abend dauert das Versorgen der Hunde noch eine gefühlte Ewigkeit: Abhängen vom Schlitten. Streicheln. Umhängen auf das Nachtlagerseil. Streicheln. Ausschaufeln der Schlafgruben. Streicheln. Schnee schmelzen oder Wasser aus einem Loch in der Eisdecke des zugefrorenen See schöpfen und aufkochen, um die tiefgefrorene Kraftnahrung für die Vierbeiner – der ganze Tross verfuttert auf der Reise 2.100 kg davon – zu einem für sie schmackhaften Gulaschgatsch zu mischen. Austeilen der Schüsseln, Füllen der Schüsseln. Streicheln. Abenteuer kann zusammenschweißen.
Dann erst können wir Zweibeiner beginnen, uns im Hoheitsgebiet von Wind, Schnee und Minusgraden um die eigenen Sachen zu kümmern: Zelt aufbauen, Zelt einräumen, Kochen. Die mit kältetauglichem Gas befeuerten Brenner sind eine Lebensversicherung, sie liefern das heiße Wasser für Tee, Kaffee und die gefriergetrocknete Outdoornahrung. Dieses Konzentrat sieht zwar – egal ob als grobkörniges Pulver oder als mit heißem Wasser aufgegossener Brei – immer gleich ... naja ... interessant aus, schmeckt aber nach wenigen Minuten Garzeit sogar so ähnlich wie die auf den Etiketten versprochenen Gerichte. Abenteuer kann kulinarisch wertbefreit sein.
IN DER WEISSEN WÜSTE
Eingepackt in Spezialunterwäsche und Schlafsack, auf einer fi ngerkuppendünnen Isomatte liegend, wartet eine frostige, kurze Nacht. Dann beginnt das Hund-Zelt-Prozedere von Neuem. In umgekehrter Reihenfolge, bevor es wieder losgeht. Hinaus in eine baumlose, endlose, weiße Wüste. Unter der Schneedecke halten fischbestückte Seen, sumpfige Moorlandschaften und kurvige Flussläufe Winterschlaf. Später geht es wieder zurück durch eines der größten Permafrost- Gebiete Europas. Der Boden taut hier auch im Sommer nicht auf. Wie ein Wellenband zieren verschneite Hügelketten den Horizont. Abenteuer kann atemberaubend sein.
TEAMARBEIT
So breit wie ein Taschentuchpackerl sind die Kufen des Schlittens, auf denen man diese Kulisse die meiste Zeit des Tages stehend genießt. Bergab muss manchmal die Bremsmatte aktiviert werden, um nicht auf das Gespann aufzufahren; bei Bergauf-Abschnitten heißt es, mit einem Bein anzutauchen oder überhaupt neben dem Schlitten zu laufen, um die Hunde bei der Zugarbeit zu unterstützen.
Das bringt Abwechslung und Wärme in die dick eingepackten Glieder. Wobei nicht die Kälte, sondern Feuchtigkeit der größte Feind auf solchen Expeditionen ist. Das hat Johan Skullman den Teilnehmern gleich bei der ersten der täglichen Schulungseinheiten ins Hirn gemeißelt. Der ehemalige Ausbildner von Spezialeinheiten der schwedischen Armee gilt als ausgewiesener Outdoor-Experte, hat einschlägige Lehrbücher geschrieben, entsprechende Kleidung mitentwickelt. Und er macht den Eindruck, ihm würde ein abgebrochener Zahnstocher genügen, um in dieser unwirtlichen Gegend überleben zu können ...
Jedenfalls bringt uns Johan nicht nur bei, wie man mit Birkenrindenfutzeln, Feuerstein und Messerklinge ein Lagerfeuer entfacht; wie man einen über Nacht im Zelt durch Kondenswasser befeuchteten Schlafsack an frischer Morgenluft gefriertrocknet; wie man ein Zelt im Schneesturm aufstellen und sichern kann; dass man beim Zelten am verschneiten See nicht bis zur Eisdecke hinuntergräbt, weil damit die Isolierung der Schneedecke verloren geht; oder dass eine (halbvolle) Thermoskanne im Schlafsack wie eine Wärmflasche gegen Minusgrade schützen kann. Das alles geht nicht nur bei den Hunden ziemlich an die Substanz. Und dennoch strahlt aus den Gesichtern von Paul, dem Kindergärtner aus Deutschland, Peter, dem Arzt aus Dänemark, Alex, der Innenraumdesignerin aus den USA, Phil, dem Helicopterpiloten, Tuomo, dem Werbedesigner aus Finnland – und all den anderen – Zufriedenheit ob der Erfüllung eines puren „Once-in-a-lifetime“-Erlebnisses. Nicht nur, weil der Nachthimmel über der Zeltstadt jedes Mal vollgepickt ist mit funkelnden Sternen.
SCHLAFEN IM SCHNEELOCH
Die Tour endet in den Wäldern von Jukkasjärvi. Das 550-Einwohner-Nest hat es ausschließlich wegen des spektakulären Eishotels, das hier jedes Jahr errichtet wird, raus aus der überregionalen Bedeutungslosigkeit geschafftt.
Am Ende jedenfalls gehört das Gewichtsverlagern in den Kurven, um den Schlitten „ums Eck“ zu bringen, das Achten darauf, dass der Führstrick zu den Hunden immer gespannt ist, das Jacken- und Handschuhewechseln während der Fahrt und das Festkrallen am Schlitten, auch wenn man einmal unfreiwillig in den Schnee beißt, schon zu den automatisierten Bewegungsabläufen.
Einmal noch wird die Routine unterbrochen. In der Abschlussnacht schlafen wir nämlich nicht im Zelt, sondern bei knackigen minus 15 Grad unter freiem Himmel in Schneelöchern unter den Bäumen. Zur Belohnung zucken kurz nach Mittenacht sogar bizarre Nordlichter über die Köpfe der dick in ihre Schlafsäcke eingepackten „Polaristen“.
„Es wird schön werden“, hat Andreas Cederlund, der Fjällräven-Polar-Koordinator, zu Beginn der Reise versprochen. Aber so schön?
UNSER MANN FÜRS GROBE
Klaus Höfler fuhr diesmal für SPORTaktiv beim „Fjällräven Polar“, einem Hundeschlitten-Abenteuer in der arktischen Tundra, mit. Als einer von nur rund 30 Auserwählten bewältigte er mit seinem Sechsergespann die 300 km lange Tour.
Weitere Infos zur Veranstaltung findest du unter www.fjallraven.de/polar.
Zum Weiterlesen:
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