Ob es gescheit ist, aus 14 Metern Höherunterzuschauen, wenn du gerade zum ersten Mal im Leben in einer Wand hängst und dich mit Händen und Füßen an vier Kunststoffknöpfe krallst? Aber wissen will ich es trotzdem – also schweift der Blick die graue Wand mit ihren vielen bunten Punkten entlang nach unten Richtung Hallenboden, von wo Klettertrainer Stefan Guschelbauer beruhigend raufnickt.
Mir fällt Armin Assingers Zitat – „ma hot ka Ongst, oba Respekt“ – ein. Das beschreibt die Situation ganz gut. Das Wissen, vom Profi gesichert zu werden, hilft mir zusätzlich, wenn ich auch noch keine Vorstellung davon habe, wie es sich anfühlen würde, jetzt den Halt zu verlieren und im Seil zu hängen.
Dass ich gleich beim ersten Versuch bis ganz nach oben gekommen bin, wundert mich ziemlich. Bin ich ein Supertalent oder ein Held von morgen, wie sie im Fernsehen überall gesucht werden? Leider nein – nüchtern betrachtet ist es keine große Kunst, wenn man sich nicht exakt an die markierten Routen halten muss, sondern einfach jeden Griff verwenden kann, der an die Wand geschraubt ist.
Stefan, mein Trainer im Grazer City Adventure Center, wo ich meine persönliche Erstbegehung gestartet habe, hat mich einfach nach oben geschickt, „um zu sehen, wie du auf die Höhe reagierst“ – und ob ich mich auch traue, mich nach hinten ins Seil fallen zu lassen. Trau ich mich? Ja, hat funktioniert – auch wenn ich mich beim ersten Versuch ein bisserl „patschert“ anstelle, und, anstatt die Beine in die Wand zu stemmen, plötzlich im Seil hin und her baumle. Ich fange mich wieder und werde langsam abgeseilt.
Die Kunst, eine Route zu bauen
Bei meinem nächsten Versuch darf ich eine „rote Route“ in Angriff nehmen. Anfängertauglich mit Schwierigkeitsgrad 3. Ich sehe mir die Sache von unten kurz an, für langes Routenstudium, wie es die Profis machen, sehe ich noch keine Notwendigkeit. Es juckt mich nach meinem Erfolgserlebnis einfach, es zu versuchen. Trotzdem sehe ich beim Blick nach oben, wie sich eine imaginäre, ziemlich gerade Linie ohne viel Zickzack noch oben abzeichnet, wenn man nur auf die rote Farbe schaut. Ich kann mir nun auch vorstellen, dass man nach wenigen Klettereinheiten schon beim schnellen Hinschauen die einzelnen farbig markierten Routen erkennen kann – während für den Neuling so eine Kletterwand ausschaut wie ein bunter Fleckerlteppich.
Nicht weniger als 20.000 Griffe sind in der Grazer Kletterhalle in die diversen Wände geschraubt – und die Routen werden außerdem permanent umgebaut, alle Griffe regelmäßig kontrolliert, abgeschraubt und geputzt. Ganz schön viel Aufwand. Aber nach welchen Kriterien baut man so eine Route eigentlich – und wer bestimmt, dass sie einen gewissen Schwierigkeitsgrad bekommt?
Stefan erklärt es: „Im Wesentlichen gibt es dafür fünf Hauptkriterien. Erstens wie steil die Wand ist. Eine senkrechte Wand, die nicht überhängt, ist absolut einsteigertauglich. Zweitens der Abstand der Griffe, drittens die Größe und Beschaffenheit der Griffe. Viertens die Bewegungskombination – also ob eine Route eher in einer geraden Linie gesetzt ist oder ob sie die Richtung oft wechselt. Und fünftens ist auch die Länge der Route ein Kriterium.“
Wer für diese Routengestaltung ausgebildet ist (wie es viele Klettertrainer sind, die zum Beispiel beim Österreichischen Wettkletterverband einen Kurs im Routenbauen absolviert haben), der nimmt sich zu Beginn einen bestimmten Schwierigkeitsgrad vor, setzt die unterschiedlichen Griffe dann möglichst phantasievoll. Die Kombinationsmöglichkeiten sind – wenn man alle oben genannten Kriterien und zum Beispiel die Vielzahl der unterschiedlichen Griffe bedenkt, riesig.
Der Routenbauer klettert dann seine Kreation zumindest einmal durch, um zu sehen, ob der gewünschte Grad wirklich getroffen ist. „Drei andere erfahrene Kletterer steigen ebenfalls einmal hoch, und gemeinsam setzt man dann den endgültigen Schwierigkeitsgrad fest“, erklärt Stefan.
Derart gebrieft mach ich mich also an meine rote „Dreier“: Auch da geht es relativ zügig nach oben, zwei-, dreimal muss ich dennoch nachdenken und herumprobieren, mit welcher Hand ich welchen Griff fasse, und mit welchem Fuß ich zuerst hochsteige. Abgesehen davon, konzentriere ich mich darauf, den Empfehlungen des Trainers zu folgen: „Erst greifen, dann hochsteigen und dann die Oberschenkel durchdrücken. Die Arme bleiben gestreckt, das Becken nah bei der Wand.“
Wie ein Affe soll ich an den Griffen hängen, ist mir auch in Erinnerung geblieben. Und mit den Armen soll ich nicht ziehen („keine Klimmzüge“), sondern sie möglichst nur zum Halten verwenden. Genau diesen berühmten Anfängerfehler – die Arme viel zu stark einzusetzen – mache ich natürlich trotzdem, was sich in fortschreitender Ermüdung äußert.
Die rote Route schaffe ich trotzdem bis ganz oben, und ich bin schon etwas stolz, als ich den obersten Griff zu fassen bekomme.